Interview Rüdiger Heinze

München, Theatinerstraße, Sommer 2024. Tenor Daniel Johannsen steht Rede und Antwort, eloquent und ­reflektiert. Dass er am Abend noch einen Auftritt in Bachs h-Moll-Messe haben wird, ficht ihn nicht an – eher die Gleichzeitigkeit von Wohlstand und Gewalt in den unterschiedlichen Teilen der Erde. Sie aber haben von dem Sänger, 1978 in Wien geboren und in einem Pfarrhaus des Burgenlands aufgewachsen, noch nichts ­gehört? Dann wird es höchste Zeit. Großartiges entgeht dem, der es nicht tut.

Der ersten Frage sei eine Behauptung vorangestellt: Unter Kennern sind Sie ein hochverehrter Oratorien- und Liedsänger, eigentlich aber müssten Sie aufgrund der Schönheit Ihrer Stimme und Ihrer künstlerischen Ernsthaftigkeit weitaus bekannter, ja geradezu populär sein. Tragen Sie für diesen Umstand auch selbst eine Verantwortung – zum Beispiel, weil Sie restriktiv auswählen, welche Engagements Sie annehmen?
Ich glaube, ich werde mit 50 noch ein Geheimtipp sein, weil ich mich für ein Feld entschieden habe, dem die Welt nicht so hinterherrennt. Wir sind hier in ­München nur einen Steinwurf von einer der größten Bühnen Deutschlands, der Bayerischen Staatsoper, entfernt, die ich vielleicht niemals betrete. Ich werde vielleicht auch deswegen kein österreichischer Kammersänger, weil ich mich bisher mit der Wiener Staatsoper nicht im Entferntesten versucht habe zu assoziieren. Ich bin stolz genug zu sagen: Wenn man mich nicht fragt, gehe ich da nicht hin. Es gibt einen Dirigenten auf der Welt, für den würde ich noch ein Vorsingen im Sinne einer Arbeitsprobe machen, das ist Christian Thielemann. Alle anderen müssen sich schon um mich bemühen, wenn Sie mich haben wollen. Natürlich, es ist auch das Repertoire: Jemand, der Bach liebt, wird relativ schnell im Internet auf meine Spur kommen. Ich kann gar nicht sagen, was das für Sieben-Lichtjahr-Stiefel sind, dass man mich auf allen fünf Kontinenten, wo man Bach hört, kennt. Ich komme gerade vom Bachfest in Leipzig, und da hat man mich alle 200 Meter auf der Straße angesprochen und in der Kirche gar nicht gehen lassen nach den Motetten und Kantaten. Wenn mein Singen für die Hörer so eine Offenbarung ist und so etwas Schönes, dann bin ich doch dort angekommen, wo ich hin möchte. Ich glaube, das beantwortet, warum ich mich in der zweiten Reihe, in der ich stehe, so wohl fühle.

Betrachten wir Ihre künstlerische Ernsthaftigkeit näher, zumal diese im Verbund mit weiteren Einordnungen Ihres Musizierens steht – als da wären: Sorgfalt, Akribie, Reifung, Respekt, Uneitelkeit, Verinnerlichung. Zusammen genommen umreißen diese Begriffe ein hohes Arbeitsethos, das vor allem Bach und Schubert zugutekommt. Woher kommt’s?
Ich bin ein Lutheraner und uns Lutheranern sagt man immer den Fleiß nach. Ich glaube, heutzutage würden zwei solcher Pfarrstellen wegen Burn-out-Syndrom ausfallen, wie sie mein Vater in den 32 Jahren seiner Arbeitszeit alleine ausgefüllt hat. Das ist die Vorlage von zu Hause, ob ich will oder nicht. Mir hat auch meine hochverehrte Lehrerin Margit Klaushofer immer gesagt: „Daniel, Ihnen hat der liebe Gott in den Hals gespuckt, aber das wird leider nicht reichen.“ Und da hat sie recht gehabt. Ich sehe andere Kollegen um mich herum, die ein herrliches Timbre haben, bei denen ich aber denke, wenn Deine Bach-Arien immer so sind, dass Du einen halben Schmiss in der Probe und einen Viertel-Schmiss im Konzert hast, dann wird das nicht für ganz oben reichen. Man muss an seinen Stücken einfach dran sein. Ich bin ein Mittvierziger, die nächste Generation glüht schon empor. Man muss was tun. Ich glaube, ich komme jetzt in die Jahre, wo ich so viel, wie ich investiert habe, um das zu sein, was ich bin, noch einmal investieren muss, um es auch zu bleiben.

Beim George Enescu Festival Bukarest 2021 (umgeben von Mitgliedern des Münchener Bach-Orchesters) (Foto Catalina Filip)

Schätzen Sie bitte mal: Wie viel Prozent bei Ihrer Stimme sind Gottesgabe, wie viel Prozent an Können sind durch Lehrer vermittelt worden und wie viel ist Fleiß?
Da muss ich noch eine vierte Komponente nennen. Und zwar: zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Das ist in meinem Leben ganz oft so. Wenn ich alles zusammen rechne, werden es dann fast 100 Prozent. 30 Prozent ­Naturtalent und jeweils 23 Prozent an Vermittlung, Fleiß und eben der Punkt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

Noch eine Behauptung, die einer Frage voraus geht: So verinnerlicht wie Sie als Oratoriensänger auftreten, dürften Sie überzeugter Christ sein – zumal Sie durch Ihr Elternhaus vorbelastet sind. Ist dem tatsächlich so?
Also ich möchte jetzt hier nicht wie der amerikanische Fernsehprediger klingen, aber: You get what you see, you get what you hear. Das gilt für mich, für mein Singen über Jesus Christus und fast alle Glaubensinhalte. Der Glaube ist aber ein tägliches Ringen und ein tägliches Fassungsloswerden über das, was man sieht. Jetzt sitzen wir hier in der westlichen Welt am Kaffeetisch, fast immer noch 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, viele tausend Kilometer von Gaza und Israel entfernt und vom täglichen Wahnsinn in Afrika und in Teilen Asiens. Und angesichts der Bilder, die kommen, stoßen wir immer wieder auf die Frage: Wie passt das denn der liebende Gott zusammen? Wie passt zusammen, dass Bach zehn seiner 20 Kinder begraben musste und dennoch in seine Werke unverbrüchliche Zuversicht hinein komponierte? Ja, der Glaube ist eine Zumutung. Er ist die erste und größte Zumutung, die der Mensch vielleicht haben muss. Ich glaube, was ich singe.

Sie bekennen öffentlich, dass Sie vor Jahren einmal in eine existenzielle Verzweiflung, in ein schwarzes Loch gefallen waren, erklären sich aber nicht näher. Können, möchten Sie heute, da womöglich alles verarbeitet ist, nüchtern, sachlich darlegen, worum es ging – und wie Sie herausfanden?
Mein musikalisches Leben ist munter und fröhlich losgegangen, und es ist instinktgetrieben gewesen. Wenn man bedenkt, dass meine Gesangslehrerin mir gleich „Die schöne Müllerin“ und das Weihnachtsoratorium zu singen gegeben hat, können manch andere Stimmpäda­gogen sagen: Na ja, da wird es dann halt irgendwann an etwas mangeln, an irgendeiner technischen Kenntnis – wenn man eben gleich so ganz auf Musik und Interpretation geht, was ich ja getan habe. Man konnte damals nur hoffen, dass die technischen Lücken anderweitig schließen. Diese Lücken haben sich – nachdem ich doch schon einige Jahre gesungen hatte, auch Solist war bei Harnoncourt – nicht nur nicht geschlossen, sondern so weit aufgetan, dass sich mein sonniger Sängertraum von heute auf morgen ins Gegenteil verkehrte. Ich hatte im Spätherbst 2012 den Zugriff auf meine Stimme und auf meine Aussage komplett verloren. Ich bin zu meiner Lehrerin und musste fragen: „Wie geht ­singen?“ Jetzt kürze ich ein bisschen ab: Ich habe versucht, mir Hilfe zu holen bei allen möglichen technischen, menschlichen Ansätzen. Ein großer Teil meiner Ratgeber sagte mir: „Ich fürchte, Du musst noch einmal von vorne anfangen.“ Das hört man nicht gerne mit 35 Jahren, nachdem man schon erfolgreich etwas gesungen hat. Aber mir war klar, cum grano salis ist da was dran. Ich habe Zeit gebraucht, um mich und meinen Körper zu finden, um – nur ein Detail – eine vollkommen entspannte tiefe Kehle zu gewinnen. Der liebe Alois Aichhorn hat mir Übungen und Vertrauen gegeben, hat mein Ohr auf einen anderen Klang der Stimme hingeführt – von der reinen hellen Lieblichkeit hin zur tiefen Erdung.

Als Graf Almaviva in Rossinis „Il ­barbiere di Siviglia“ bei der Grazer Styriarte 2015 (mit Bibiana Nwobilo als Berta und ­Miljenko Turk als Figaro) (Foto Werner Kmetitsch)

Heute sagen Sie: „Ich darf ein sehr glückliches Leben führen!“ Was ist die Ursache für dieses Empfinden? Die Musik wird eine Rolle spielen, natürlich, aber dann …?
Es ist die menschliche Verbindung. Und ich glaube, es gibt keine andere Art, sein Geld zu verdienen, die mit so viel Altruismus verbunden ist, so viel Austausch von Emotionen, so viel Dankbarkeit, wie das in der Musik der Fall ist. Am Ende jeden Jahres sind 40 bis 50 Menschen in mein Leben getreten, die ich vielleicht gar nicht mehr wiedersehe, mit denen ich aber sofort, wenn ich es nur könnte, einen Abend verbringen würde, bei dem wir uns bestens verstehen und unsere Lieben teilen und potenzieren können. Das ist Ursache unendlichen Glücks. Wer kann das so sagen?

Haben sie jemals einen saftigen oder auch höflich verbrämten Verriss erhalten?
Oh ja, immer wieder. In früheren Jahren öfter. Mein Timbre ist halt manchmal an der Counter-Ecke, ist manchem zu hell, zu wenig italienisch. Der italienische Melomane wird mit meiner voce tedesca niemals glücklich werden. Eine tiefe Kehle in Ehren, aber … [Anm. d. Red.: Johannsen fängt an, mit tiefer Kehle zu singen.] Es darf nicht immer alles danach klingen. Das ist nicht meines, so kann man keinen Evangelisten singen.

Wann erhielten Sie Ihren jüngsten Verriss?
Da muss ich nachdenken. Also im letzten Jahrzehnt erhielt ich, glaube ich, keinen.

Damit es so bleibt: Lassen Sie Ihre Stimme regelmäßig kontrollieren?
Also meine letzte Gesangsstunde bei Alois Aichhorn ist demnächst acht Jahre her. Aber ich lasse mich insofern kontrollieren, als einer meiner Agenten, der selbst mal Gesang studiert hat, mir besonders genau zuhört und der mir manchmal auf die Finger klopft, indem er von mir mehr Bodenhaftung fordert.

Was haben Sie in Sachen Lied-Interpretation von ­Robert Holl, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Christa Ludwig, mit denen Sie auch zusammenarbeiteten, mitgenommen? Pro Koryphäe bitte nur einen Punkt.
Von Robert Holl, dem Niederländer, nahm ich mit, wie deutsche Sprache in ihrer Schönheit und Lieblichkeit und all ihren Finessen wirklich funktioniert, von Fischer-­Dieskau die Kompromisslosigkeit, in ein Stück einzutauchen. Von Gedda habe ich sehr viele Einsing-Übungen erhalten, die ich bis heute ausführe. Und von Christa Ludwig habe ich ihren Frohsinn mitgenommen, dieses „Ach, ich bin ein Kriegskind, aber ich habe es trotzdem schön gehabt“.

Jephtha im gleichnamigen Oratorium von Händel, Festival Retz 2016 (Foto Claudia Prieler)

Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie mehr Oper und Operette gesungen. Was sind die Gründe, dass dies in den Hintergrund trat?
Das hängt halt damit zusammen, dass ich mich für längere Zeit einem Opernhaus nicht ausliefern möchte. Ein Tenor meinesgleichen ist an jedem Haus vorrätig. Ich bin der lyrische Wald- und Wiesen­tenor. Nicht der ­Ritter vom hohen C, damit gehe ich nicht hausieren, aber für das, was man von Händel über Belcanto bis hin zu ­Britten braucht, bin ich der Sechzehnerschlüssel, wie man auf Wienerisch sagt. Und den gibt es an jedem deutschen Haus.

Einspruch, Eurer Ehren. Den mag es geben an jedem Haus, aber nicht in Ihrer Qualität. Und da wir gerade beim Thema Verwechslung sind, gleich die Frage: Hatte eigentlich der Umstand, dass auch ein schwedischer Kollege namens Daniel ­Johansson singend Erfolg hat, für Sie schon einmal Folgen?
Ganz aktuell hat mich, vollkommen richtig geschrieben, die englische Musikzeitung „The Tatler“ in einem reißerischen Artikel als den nächsten Tristan für Glyndebourne vorgestellt. Aber ich werde ihn nicht singen. Und nun habe ich endlich mal Daniel Johansson kontaktiert und ihn gefragt, ob ihm mittlerweile nicht auch diese ständigen Anfragen reichten, warum er so viele Evangelisten singt – so, wie es mich anödet, mich ständig erklären zu müssen, dass ich nicht als Helden­tenor auftrete. Nein, ich singe keinen ­Siegmund und keinen Canio. Johansson hat sehr geseufzt und erklärt, das passiere auch ihm immer wieder. In meinem Fall war es auch mal so, dass in einem schönen Matthäus-­Passion-Programmheft fürs Madrider Auditorio ­Nacional de ­Música neben meiner wunderbar ins Spanische übersetzten Vita ein schönes Foto von Daniel Johansson prangte, knusprig, rothaarig wie er ist – und eindeutig nicht ich.

Sie sind christlich erzogen und sozial, Sie arbeiten ernsthaft und fühlen hohe Verantwortung für Ihre Schüler. Sagen Sie mal, haben Sie auch charakterliche Schwächen?
Meine Güte! Sie haben sich vorhin als mich uneitel präsentierend geäußert. Aber ich glaube, ein gewisser Stolz und ein gewisser Ehrgeiz ist in mir sehr stark angelegt. Ich kann mich zwar nach außen hin unter Kontrolle halten, aber manchmal, wenn ich mich irgendwo übergangen fühle, wenn ich frage „Warum er und nicht ich?“, dann merke ich, da kommt doch eine Art Stolz heraus und vielleicht auch eine kleine Überheblichkeit, die ich mir schon ankreide. Vor Hybris müssen wir, die wir Erfolg haben – da schließe ich viele Kolleginnen und Kollegen ein –, bewahrt werden, denn die hat ganz viele Sängerleben gekostet. Ein bisschen öfter „Nein“ zu sagen, das muss ich auch noch lernen.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2024

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