Registrierung
Kategorie

Beiträge 2024

Zur rechten Zeit am rechten Ort

Daniel ­Johannsen singt lieber Evangelisten als Wagner-Heroen und setzt dabei auf das Glück von Talent, Fleiß und menschlicher Verbindung

Daniel ­Johannsen singt lieber Evangelisten als Wagner-Heroen und setzt dabei auf das Glück von Talent, Fleiß und menschlicher Verbindung

Interview Rüdiger Heinze

München, Theatinerstraße, Sommer 2024. Tenor Daniel Johannsen steht Rede und Antwort, eloquent und ­reflektiert. Dass er am Abend noch einen Auftritt in Bachs h-Moll-Messe haben wird, ficht ihn nicht an – eher die Gleichzeitigkeit von Wohlstand und Gewalt in den unterschiedlichen Teilen der Erde. Sie aber haben von dem Sänger, 1978 in Wien geboren und in einem Pfarrhaus des Burgenlands aufgewachsen, noch nichts ­gehört? Dann wird es höchste Zeit. Großartiges entgeht dem, der es nicht tut.

Der ersten Frage sei eine Behauptung vorangestellt: Unter Kennern sind Sie ein hochverehrter Oratorien- und Liedsänger, eigentlich aber müssten Sie aufgrund der Schönheit Ihrer Stimme und Ihrer künstlerischen Ernsthaftigkeit weitaus bekannter, ja geradezu populär sein. Tragen Sie für diesen Umstand auch selbst eine Verantwortung – zum Beispiel, weil Sie restriktiv auswählen, welche Engagements Sie annehmen?
Ich glaube, ich werde mit 50 noch ein Geheimtipp sein, weil ich mich für ein Feld entschieden habe, dem die Welt nicht so hinterherrennt. Wir sind hier in ­München nur einen Steinwurf von einer der größten Bühnen Deutschlands, der Bayerischen Staatsoper, entfernt, die ich vielleicht niemals betrete. Ich werde vielleicht auch deswegen kein österreichischer Kammersänger, weil ich mich bisher mit der Wiener Staatsoper nicht im Entferntesten versucht habe zu assoziieren. Ich bin stolz genug zu sagen: Wenn man mich nicht fragt, gehe ich da nicht hin. Es gibt einen Dirigenten auf der Welt, für den würde ich noch ein Vorsingen im Sinne einer Arbeitsprobe machen, das ist Christian Thielemann. Alle anderen müssen sich schon um mich bemühen, wenn Sie mich haben wollen. Natürlich, es ist auch das Repertoire: Jemand, der Bach liebt, wird relativ schnell im Internet auf meine Spur kommen. Ich kann gar nicht sagen, was das für Sieben-Lichtjahr-Stiefel sind, dass man mich auf allen fünf Kontinenten, wo man Bach hört, kennt. Ich komme gerade vom Bachfest in Leipzig, und da hat man mich alle 200 Meter auf der Straße angesprochen und in der Kirche gar nicht gehen lassen nach den Motetten und Kantaten. Wenn mein Singen für die Hörer so eine Offenbarung ist und so etwas Schönes, dann bin ich doch dort angekommen, wo ich hin möchte. Ich glaube, das beantwortet, warum ich mich in der zweiten Reihe, in der ich stehe, so wohl fühle.

Betrachten wir Ihre künstlerische Ernsthaftigkeit näher, zumal diese im Verbund mit weiteren Einordnungen Ihres Musizierens steht – als da wären: Sorgfalt, Akribie, Reifung, Respekt, Uneitelkeit, Verinnerlichung. Zusammen genommen umreißen diese Begriffe ein hohes Arbeitsethos, das vor allem Bach und Schubert zugutekommt. Woher kommt’s?
Ich bin ein Lutheraner und uns Lutheranern sagt man immer den Fleiß nach. Ich glaube, heutzutage würden zwei solcher Pfarrstellen wegen Burn-out-Syndrom ausfallen, wie sie mein Vater in den 32 Jahren seiner Arbeitszeit alleine ausgefüllt hat. Das ist die Vorlage von zu Hause, ob ich will oder nicht. Mir hat auch meine hochverehrte Lehrerin Margit Klaushofer immer gesagt: „Daniel, Ihnen hat der liebe Gott in den Hals gespuckt, aber das wird leider nicht reichen.“ Und da hat sie recht gehabt. Ich sehe andere Kollegen um mich herum, die ein herrliches Timbre haben, bei denen ich aber denke, wenn Deine Bach-Arien immer so sind, dass Du einen halben Schmiss in der Probe und einen Viertel-Schmiss im Konzert hast, dann wird das nicht für ganz oben reichen. Man muss an seinen Stücken einfach dran sein. Ich bin ein Mittvierziger, die nächste Generation glüht schon empor. Man muss was tun. Ich glaube, ich komme jetzt in die Jahre, wo ich so viel, wie ich investiert habe, um das zu sein, was ich bin, noch einmal investieren muss, um es auch zu bleiben.

Beim George Enescu Festival Bukarest 2021 (umgeben von Mitgliedern des Münchener Bach-Orchesters) (Foto Catalina Filip)

Schätzen Sie bitte mal: Wie viel Prozent bei Ihrer Stimme sind Gottesgabe, wie viel Prozent an Können sind durch Lehrer vermittelt worden und wie viel ist Fleiß?
Da muss ich noch eine vierte Komponente nennen. Und zwar: zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Das ist in meinem Leben ganz oft so. Wenn ich alles zusammen rechne, werden es dann fast 100 Prozent. 30 Prozent ­Naturtalent und jeweils 23 Prozent an Vermittlung, Fleiß und eben der Punkt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

Noch eine Behauptung, die einer Frage voraus geht: So verinnerlicht wie Sie als Oratoriensänger auftreten, dürften Sie überzeugter Christ sein – zumal Sie durch Ihr Elternhaus vorbelastet sind. Ist dem tatsächlich so?
Also ich möchte jetzt hier nicht wie der amerikanische Fernsehprediger klingen, aber: You get what you see, you get what you hear. Das gilt für mich, für mein Singen über Jesus Christus und fast alle Glaubensinhalte. Der Glaube ist aber ein tägliches Ringen und ein tägliches Fassungsloswerden über das, was man sieht. Jetzt sitzen wir hier in der westlichen Welt am Kaffeetisch, fast immer noch 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, viele tausend Kilometer von Gaza und Israel entfernt und vom täglichen Wahnsinn in Afrika und in Teilen Asiens. Und angesichts der Bilder, die kommen, stoßen wir immer wieder auf die Frage: Wie passt das denn der liebende Gott zusammen? Wie passt zusammen, dass Bach zehn seiner 20 Kinder begraben musste und dennoch in seine Werke unverbrüchliche Zuversicht hinein komponierte? Ja, der Glaube ist eine Zumutung. Er ist die erste und größte Zumutung, die der Mensch vielleicht haben muss. Ich glaube, was ich singe.

Sie bekennen öffentlich, dass Sie vor Jahren einmal in eine existenzielle Verzweiflung, in ein schwarzes Loch gefallen waren, erklären sich aber nicht näher. Können, möchten Sie heute, da womöglich alles verarbeitet ist, nüchtern, sachlich darlegen, worum es ging – und wie Sie herausfanden?
Mein musikalisches Leben ist munter und fröhlich losgegangen, und es ist instinktgetrieben gewesen. Wenn man bedenkt, dass meine Gesangslehrerin mir gleich „Die schöne Müllerin“ und das Weihnachtsoratorium zu singen gegeben hat, können manch andere Stimmpäda­gogen sagen: Na ja, da wird es dann halt irgendwann an etwas mangeln, an irgendeiner technischen Kenntnis – wenn man eben gleich so ganz auf Musik und Interpretation geht, was ich ja getan habe. Man konnte damals nur hoffen, dass die technischen Lücken anderweitig schließen. Diese Lücken haben sich – nachdem ich doch schon einige Jahre gesungen hatte, auch Solist war bei Harnoncourt – nicht nur nicht geschlossen, sondern so weit aufgetan, dass sich mein sonniger Sängertraum von heute auf morgen ins Gegenteil verkehrte. Ich hatte im Spätherbst 2012 den Zugriff auf meine Stimme und auf meine Aussage komplett verloren. Ich bin zu meiner Lehrerin und musste fragen: „Wie geht ­singen?“ Jetzt kürze ich ein bisschen ab: Ich habe versucht, mir Hilfe zu holen bei allen möglichen technischen, menschlichen Ansätzen. Ein großer Teil meiner Ratgeber sagte mir: „Ich fürchte, Du musst noch einmal von vorne anfangen.“ Das hört man nicht gerne mit 35 Jahren, nachdem man schon erfolgreich etwas gesungen hat. Aber mir war klar, cum grano salis ist da was dran. Ich habe Zeit gebraucht, um mich und meinen Körper zu finden, um – nur ein Detail – eine vollkommen entspannte tiefe Kehle zu gewinnen. Der liebe Alois Aichhorn hat mir Übungen und Vertrauen gegeben, hat mein Ohr auf einen anderen Klang der Stimme hingeführt – von der reinen hellen Lieblichkeit hin zur tiefen Erdung.

Als Graf Almaviva in Rossinis „Il ­barbiere di Siviglia“ bei der Grazer Styriarte 2015 (mit Bibiana Nwobilo als Berta und ­Miljenko Turk als Figaro) (Foto Werner Kmetitsch)

Heute sagen Sie: „Ich darf ein sehr glückliches Leben führen!“ Was ist die Ursache für dieses Empfinden? Die Musik wird eine Rolle spielen, natürlich, aber dann …?
Es ist die menschliche Verbindung. Und ich glaube, es gibt keine andere Art, sein Geld zu verdienen, die mit so viel Altruismus verbunden ist, so viel Austausch von Emotionen, so viel Dankbarkeit, wie das in der Musik der Fall ist. Am Ende jeden Jahres sind 40 bis 50 Menschen in mein Leben getreten, die ich vielleicht gar nicht mehr wiedersehe, mit denen ich aber sofort, wenn ich es nur könnte, einen Abend verbringen würde, bei dem wir uns bestens verstehen und unsere Lieben teilen und potenzieren können. Das ist Ursache unendlichen Glücks. Wer kann das so sagen?

Haben sie jemals einen saftigen oder auch höflich verbrämten Verriss erhalten?
Oh ja, immer wieder. In früheren Jahren öfter. Mein Timbre ist halt manchmal an der Counter-Ecke, ist manchem zu hell, zu wenig italienisch. Der italienische Melomane wird mit meiner voce tedesca niemals glücklich werden. Eine tiefe Kehle in Ehren, aber … [Anm. d. Red.: Johannsen fängt an, mit tiefer Kehle zu singen.] Es darf nicht immer alles danach klingen. Das ist nicht meines, so kann man keinen Evangelisten singen.

Wann erhielten Sie Ihren jüngsten Verriss?
Da muss ich nachdenken. Also im letzten Jahrzehnt erhielt ich, glaube ich, keinen.

Damit es so bleibt: Lassen Sie Ihre Stimme regelmäßig kontrollieren?
Also meine letzte Gesangsstunde bei Alois Aichhorn ist demnächst acht Jahre her. Aber ich lasse mich insofern kontrollieren, als einer meiner Agenten, der selbst mal Gesang studiert hat, mir besonders genau zuhört und der mir manchmal auf die Finger klopft, indem er von mir mehr Bodenhaftung fordert.

Was haben Sie in Sachen Lied-Interpretation von ­Robert Holl, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Christa Ludwig, mit denen Sie auch zusammenarbeiteten, mitgenommen? Pro Koryphäe bitte nur einen Punkt.
Von Robert Holl, dem Niederländer, nahm ich mit, wie deutsche Sprache in ihrer Schönheit und Lieblichkeit und all ihren Finessen wirklich funktioniert, von Fischer-­Dieskau die Kompromisslosigkeit, in ein Stück einzutauchen. Von Gedda habe ich sehr viele Einsing-Übungen erhalten, die ich bis heute ausführe. Und von Christa Ludwig habe ich ihren Frohsinn mitgenommen, dieses „Ach, ich bin ein Kriegskind, aber ich habe es trotzdem schön gehabt“.

Jephtha im gleichnamigen Oratorium von Händel, Festival Retz 2016 (Foto Claudia Prieler)

Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie mehr Oper und Operette gesungen. Was sind die Gründe, dass dies in den Hintergrund trat?
Das hängt halt damit zusammen, dass ich mich für längere Zeit einem Opernhaus nicht ausliefern möchte. Ein Tenor meinesgleichen ist an jedem Haus vorrätig. Ich bin der lyrische Wald- und Wiesen­tenor. Nicht der ­Ritter vom hohen C, damit gehe ich nicht hausieren, aber für das, was man von Händel über Belcanto bis hin zu ­Britten braucht, bin ich der Sechzehnerschlüssel, wie man auf Wienerisch sagt. Und den gibt es an jedem deutschen Haus.

Einspruch, Eurer Ehren. Den mag es geben an jedem Haus, aber nicht in Ihrer Qualität. Und da wir gerade beim Thema Verwechslung sind, gleich die Frage: Hatte eigentlich der Umstand, dass auch ein schwedischer Kollege namens Daniel ­Johansson singend Erfolg hat, für Sie schon einmal Folgen?
Ganz aktuell hat mich, vollkommen richtig geschrieben, die englische Musikzeitung „The Tatler“ in einem reißerischen Artikel als den nächsten Tristan für Glyndebourne vorgestellt. Aber ich werde ihn nicht singen. Und nun habe ich endlich mal Daniel Johansson kontaktiert und ihn gefragt, ob ihm mittlerweile nicht auch diese ständigen Anfragen reichten, warum er so viele Evangelisten singt – so, wie es mich anödet, mich ständig erklären zu müssen, dass ich nicht als Helden­tenor auftrete. Nein, ich singe keinen ­Siegmund und keinen Canio. Johansson hat sehr geseufzt und erklärt, das passiere auch ihm immer wieder. In meinem Fall war es auch mal so, dass in einem schönen Matthäus-­Passion-Programmheft fürs Madrider Auditorio ­Nacional de ­Música neben meiner wunderbar ins Spanische übersetzten Vita ein schönes Foto von Daniel Johansson prangte, knusprig, rothaarig wie er ist – und eindeutig nicht ich.

Sie sind christlich erzogen und sozial, Sie arbeiten ernsthaft und fühlen hohe Verantwortung für Ihre Schüler. Sagen Sie mal, haben Sie auch charakterliche Schwächen?
Meine Güte! Sie haben sich vorhin als mich uneitel präsentierend geäußert. Aber ich glaube, ein gewisser Stolz und ein gewisser Ehrgeiz ist in mir sehr stark angelegt. Ich kann mich zwar nach außen hin unter Kontrolle halten, aber manchmal, wenn ich mich irgendwo übergangen fühle, wenn ich frage „Warum er und nicht ich?“, dann merke ich, da kommt doch eine Art Stolz heraus und vielleicht auch eine kleine Überheblichkeit, die ich mir schon ankreide. Vor Hybris müssen wir, die wir Erfolg haben – da schließe ich viele Kolleginnen und Kollegen ein –, bewahrt werden, denn die hat ganz viele Sängerleben gekostet. Ein bisschen öfter „Nein“ zu sagen, das muss ich auch noch lernen.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2024

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Ein provokanter Utopist

Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“

Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“

von Karlheinz Roschitz

All jene, die fordern, dass man Oper, Musik- und Sprechtheater oder Performance heute eigentlich als „Ort politischer und gesellschaftskritischer Selbstbefragung und künstlerischen Widerstandes“ verstehen sollte, bewundern Milo Rau wie einen Messias, weil er immer wieder selbstkritisch hinterfragt: Kann politische Kunst die Welt verändern? Und wie? Oder zementiert sie nicht eher die bestehenden Verhältnisse? Die New York Times nennt ihn den „kontroversesten Künstler unserer Zeit“, Amsterdams „De Standaard“ sprach vom „interessantesten Künstler“. Deutsche Kritiker feiern ihn als Künstler, dem es nicht mehr darum geht, die Welt darzustellen, sondern sie zu verändern, die Darstellung der Welt Realität werden zu lassen. Die „Zeit“ spricht vom „einflussreichsten, innovativsten Regisseur“, an dem man heute nicht „vorbei kann“. Und der Zürcher Tages-Anzeiger lobt: „Der Milometer ist inzwischen so etwas wie der Goldstandard der Postdramatik.“

Der Politisierung des Theaters ablehnend gegenüberstehende Kritiker und ein eher konservatives Publikum verdammen Raus konsequent analytische Inszenierungen allerdings als „modische Dekonstruktion“, ja als Zerstörung. So löste erst kürzlich Raus Inszenierung von Mozarts Dramma serio „La clemenza di Tito“, seine erste Opernregie, die 2021 am Grand Théâtre de ­Genève Premiere hatte und im Mittelpunkt der soeben zu Ende gegangenen Wiener Festwochen stand, bei Publikum und manchen Kritikern einen Sturm der Empörung aus. Blendete er doch in seiner „eingewienerten“ „Clemenza“-­Version 18 Immigranten-Interviews ein: Vertriebene, die in einem Trailerpark-Ghetto ihr Dasein fristen, berichten über ihre Erfahrungen mit repressiven Systemen. Das Programm verkündete, dass hier „die wohlwollend engagierte Haltung des Herrschers Tito zu einer Strategie bloßer Selbsterhaltung, zur leeren Revolutionsfloskel verkommt“ und die umstrittene Mozart-Interpretation des Festwochen-Intendanten Rau eine „Kritik am bequemen Engagement […] der Menschen Wiens“ sei. Dass Wiens Opernfans das hören wollten, ist zu bezweifeln.

Globale Kunst

Milo Rau, 1977 geboren in Bern, ist ein prominenter, international vielgefragter Schweizer Theater-, Film- und nun auch Opernregisseur und war seit 2018 Intendant des NTGent. Ein ruheloser Erneuerer und Tausend­sassa, der an mehreren Universitäten Kulturtheorie, soziale Plastik und Regie unterrichtet und 2017 die Saarbrückener Poetikdozentur für Dramatik innehatte. Er ist mit Rüdiger Safranski Star des „Literaturclubs“ des Schweizer Fernsehens. Seit 2002 veröffentlichte er etwa 50 Theaterstücke, Filme, Bücher, Aktionen, Tribunale, Schauprozesse, die beim Berliner Theatertreffen, beim Festival von Avignon, der Biennale von Venedig, bei den Wiener Festwochen und dem Brüsseler Kunstenfestival­desarts großen Erfolg hatten. Neben Frank Castorf und Pina Bausch erhielt er den ITI-Preis des Welttheater­tages, 2018 für sein Lebenswerk den Europäischen Theater­preis, 2019 wurde er als erster Künstler Asso­ciated Artist der European Association of Theatre and Performance (EASTAP). 2023 wurde er künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen und Nachfolger des in Wien zu Unrecht nie voll akzeptierten und jetzt nach Brüssel zurückgekehrten Christophe Slagmuylder.

Milo Rau im Gespräch: ein charmanter, verheirateter Endvierziger, sprühend vor Energie, immer „am Sprung“, ein kritischer Analytiker, der zu allem humorvolle Einwürfe parat hat, ein „Agitator und linksradikaler Demokrat“, wie er selbst mit eher ironisch-süffisantem Lachen sagt; Rau: „Lenin hing an der Wand meines Jugendzimmers. Damit konnte man damals für richtig schlechte Laune sorgen. Mit 12 ließ ich eine Visitenkarte drucken, auf der Kommunist als Beruf stand.“

(Foto Magdalena Blaszczuk)

In seinen Ideen-Kombinationen ist er von großer Wendigkeit, ja Brillanz, egal ob er über antike Dramen und ihre Aktualisierung in seinen eigenen Übersetzungen, über gesellschaftliche Eliten und Bourgeoisie, Veränderung der Welt durch politische Kunst spricht oder sich über postkoloniale Ausbeutung alteriert. Er habe „PR-Strategien wie ein Spitzenpolitiker“, schrieb einmal ein Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über ihn und seine brillanten Krisen- und Kriegsreportagen aus Lateinamerika, Ruanda, dem Kongo, Syrien und Irak – und von der IS-Kriegsfront! Diese Reisen haben in seinen Theaterstücken ihren Niederschlag in einer „globalen Kunst“ gefunden – wie in „Hate Radio“ über den Völkermord in Ruanda (2011/12), den „Moskauer Prozessen“ (2013/14) „Kongo Tribunal“ (2015), „Orest in Mossul“ (2019), „Antigone im Amazonas“ (2023). Oder dem 2023 in Genf uraufgeführten Musiktheaterwerk „Justice“ über einen grauenvollen Unfall in der kongolesischen Provinz Katanga, einem Requiem, das er vor kurzem beim erfolgreichen St. Pöltener Festival ­Tangente zeigte.

Kontroversen und Unvereinbares

Seit Herbst 2023 bastelt Rau an seinem spektakulären Fünf-Jahreskonzept für Wiens „Festival der Zukunft“ – und sorgte damit sofort für Widerstand und heftige Diskussionen bis hinauf in die Politiker-Etage. Aber nichts anderes hatte man vom Polit- und Regie-Enfant-­terrible Milo Rau erwartet. Schon Monate vor dem Festivalstart kam es wegen eines Projekts zum Stellungskrieg zwischen der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und dem in Wien beliebten griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis. Rau wollte Jevhen Stankovychs ukrainisches Kaddish-Requiem „Babyn Jar“ über die Ermordung von 30.000 Juden in der Schlucht von ­Babyn unter Lyniv dem „War Requiem“ Benjamin Brittens unter Currentzis gegenüberstellen. Was die Ukrainerin Lyniv empörte: Sie wollte partout nicht gegen den – wie sie fand – Putin-Freund Currentzis antreten. Rau im Rückblick: „Es waren unvereinbare Positionen! Die Festwochen sollten aber ein Ort der Begegnung sein. Totalboykott halte ich für falsch, auch gegen russische Kunstschaffende. Currentzis hätte da seine Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausdrücken können.“

Danach wurde Rau wegen „israelfeindlicher Propa­ganda“ heftig angegriffen, wollte er doch zwei umstrittene Persönlichkeiten in seinen Festwochen-„Rat der Republik“ holen: die französische Literatur-Nobel­preisträgerin Annie Ernaux, die der möglicherweise antisemitischen BDS-Bewegung nahesteht, und den früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der im Zank mit Deutschland wegen Antisemitismus mit Einreiseverbot belegt wurde. Und eine Woche vor der „­Eröffnungsrede an Europa“ musste sogar der israelische Philosoph Omri Boehm in Interviews und im Fernsehen zu Verteidigungsreden antreten, etwa gegen den ehemaligen Präsidenten der Israelitischen Kulturgemeinde Österreichs, Ariel Muzicant, dem der versöhnliche Ton Boehms, der von der Utopie einer Aussöhnung zwischen Israeli und Palästinensern in einem Einheitsstaat träumt, zu provokant war. Muzicant meinte, er würde Eier gegen den Vortragenden werfen, wäre er jünger. Eine prominente Bank stieg als Sponsor aus.

Revolutionäre Übung vor dem Rathaus: Eröffnung der Wiener Festwochen 2024 (Foto Franzi Kreis)

Die Zweite Moderne

Milo Rau ist angetreten, um die Wiener Festwochen zu „aktualisieren“. Er attestiert dem Kulturbetrieb von heute „Diskurslähmung“ und fordert eine „Utopie des Handelns“. In einer Open-Air-Monsterveranstaltung vor dem Wiener Rathaus rief der „Wokeness-König und Moral-Apostel“ Rau die „Freie Republik der Wiener Festwochen“ aus. Er erklärte einen 100-köpfigen Rat der Republik zum Souverän und proklamierte Wien als wichtigste Experimentalstätte einer Zweiten Moderne: Musiktheater und Theater sollte „global, entgrenzt, utopisch, radikal politisch und radikal ästhetisch“ sein. In einer Wiener Erklärung stellt er Fragen zur Zukunft – so nach Erarbeitung einer Verfassung für das „Festival der Zukunft“ mit der Frage, wie viel Innovation und Tradition ein Festival heute brauche.

In den Mittelpunkt des Festivals stellte er „Wiener Prozesse“, nach den Muster-Gerichtsformaten seiner spektakulären Zürcher und Moskauer Prozesse und seinem Kongo Tribunal, vom Theater inspirierten Gerichtsprozessen, „Bühnenereignissen als Einübung in demokratische Praktiken“, wie er meint, bei denen in Veranstaltungen wie „Die ­korrupte Republik“, „Anschläge auf die Demokratie“ und „Die Heuchelei der Gutmeinenden“ Politiker, politisch-ökonomisch-mediale Komplexe, Klimafragen, die Freiheitliche Partei Österreichs usw. auf die Anklagebank kamen. „Ganz Österreich – vors Tribunal der Republik zitiert!“ „Wo Politik versagt, wo sie hinter lokalen Diskursgewinnen herjagt und die Worte entwertet, kann vielleicht die Kunst Abhilfe schaffen …“, findet Rau. „Wir KünstlerInnen leben, heute und vielleicht schon immer, am Hof des blinden König Ödipus. Wir müssen umso hellsich­tiger sein, auch wenn die Explosionen der zahllosen globalen Konflikte blenden ­mögen.“

Ständige Erneuerung

Über seine künstlerische Arbeit, bei der Operninszenierungen in Zukunft mehr Platz bekommen werden, sagte Milo Rau in der Neuen Zürcher Zeitung: „Am glücklichsten bin ich, das zu tun, was ich nicht vorhatte. Ich selbst als Person bin im Zentrum des Ganzen nur panisch. Je größer die Sache, umso kleiner komme ich mir vor. Im Grunde besteht meine Kunst darin, das alles irgendwie zu überleben.“ Ein Künstler, der sich in ständiger Erneuerung befindet, der mit „dokumentarischen Theatersprengungen die Häuser füllt“. Ihm ist es gelungen, seine Kunst „aus dem Elfenbeinturm zu werfen“.

In seinem soeben erschienenen neuen, brillanten Essayband „Die Rückeroberung der Zukunft“ schreibt er sein ganz persönliches Bekenntnis, eine Liebeserklärung an die ständige Erneuerung, an das fortwährende Infragestellen von sich etablierender Kunst: „Wenn sich eine der Institutionen, die wir gründen, zu verfestigen beginnt, wenn ich spüre, dass der Moment des Aufstands in eine Ideologie der Sicherheit und Wiederholbarkeit übergeht, wenn aus Freundschaft Liebe wird, aus einer Situation ein Zustand, aus einer Besetzung Besitz – dann ist für mich der Zeitpunkt gekommen zu gehen.“ Doch er ist auch voll Optimismus, wenn er in seinen Texten über Kunst und Gesellschaft, „Grundsätzlich unvorbereitet“, ergänzt: „Dies ist was ich am Theater so liebe. Dass alle Irrtümer der Welt korrigiert werden können, wenn auch nur für einen Abend.“

Empfehlungen

Milo Rau:
„Grundsätzlich unvorbereitet.
99 Texte über Kunst und Gesellschaft“
224 Seiten, Verbrecher Verlag

Milo Rau:
„Die Rückeroberung der Zukunft:
Ein Essay“
176 Seiten, Rowohlt Buchverlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2024

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Mit Jonas Kaufmann im Internet

Der Influencer und Bariton Babatunde Akinboboye kämpft auf Social Media gegen die Verstaubtheit der Opernwelt

Der Influencer und Bariton Babatunde Akinboboye kämpft auf Social Media gegen die Verstaubtheit der Opernwelt

von Sophie Emilie Beha

Konsumieren Opernsängerinnen und -sänger Cannabis? Wie teuer ist der Beruf? Und wie rassistisch? Diese Fragen klärt Babatunde Akinboboye kurz und knackig. In seinen einminütigen Videos trägt er gern Smoking und hält eine verschnörkelte Jugendstil-Tasse mit Schwarztee in den Händen. Gelegentlich nimmt er davon einen winzigen Schluck, meistens rührt er ihn aber nur vielsagend um. Auf TikTok schauen fast eine Million Fans seine lustigen Videos an. Aber eigentlich wollte Akinboboye gar kein Internet-Star werden: „Ich habe das nur gepostet, um die Leute zu unterhalten. Doch dann hat sich gezeigt, dass das offenbar für viele sehr wertvoll war. Zufällig gingen einige Videos durch die Decke, dabei war das gar nicht meine Absicht.“

Denn eigentlich wollte Bariton Babatunde Akinboboye nur seine Follower bei Stange halten – bis 2019 sein erstes Album „Della Citta“ herauskam. Um die Wartezeit zu überbrücken, hat er Videos auf TikTok und Instagram gepostet. Videos, in denen er den Opernbetrieb auf den Arm nimmt, kritisch und immer mit einer Prise Humor. Etwas, das seine Videos auszeichnet. Die heikle Frage nach dem Cannabis-Konsum kommentiert Akinboboye beispielsweise mit einem bedeutungsvollen Lächeln. Für ihn gilt: „Der beste Humor kommt immer von einer überraschenden Wahrheit.“ Deshalb zählt er beispielsweise all die Kosten auf, die angehende Opernsänger für Gesangsstunden, Bewerbungsverfahren und Noten aufbringen müssen. Oder er erklärt, warum er keine Einladungen von Förderern wahrnimmt: „Jedes Mal, wenn ich dorthin komme, werde ich benutzt. Wenn ich mal nicht gefragt werde, wie ich es geschafft habe, aus Afrika zu kommen, um Opernsänger zu werden, dann werde ich viel zu oft von derselben Person umarmt und berührt.“

Vom Hip-Hop zur Oper – und zurück

Babatunde Akinboboye wurde in den USA geboren und ist in Nigeria aufgewachsen. Genauso zufällig wie er Internet-Star wird, ist auch sein Weg in die Oper: Denn als sein Gesangslehrer ihm vorschlägt, mal Arien zu singen, kennt Babatunde keine. Er hört lieber Hip-Hop. „Irgendwann habe ich mit der Idee gespielt, beide Elemente zu kombinieren. Ich hatte in der Probe Oper gesungen und kurz danach im Auto Hip-Hop gehört. Dabei hatte ich aber noch die Probe im Kopf und habe dann einfach die Arie über den Hip-Hop-Beat gesungen.“ Das Resultat: Das „Largo“ aus Mozarts „Le nozze di Figaro“ passt erstaunlich gut zu einem Beat von Rapper Kendrick ­Lamar. Banatunde nennt diese Mischung „Hip Hopera“. Das dazugehörige Video filmt er ganz simpel von sich selbst im Auto. Es geht sofort viral und hat mittlerweile über eine Million Klicks auf YouTube. „Das war, als würde man fast versehentlich eine Superkraft von sich entdecken.“

Daran knüpft auch Akinboboyes aktuelle Videoreihe an: eine Zusammenarbeit mit Jonas Kaufmann. Auch der weiß, dass er das Internet braucht, und ­Babatunde ­Akinboboye ist das Internetphänomen schlechthin: Im „Jonas Kaufmann Karaoke“-Video nimmt Kaufmann Akinboboye in seinem Auto mit durch Berlin. Gemeinsam schmettern sie die Hits aus seinem Album „The Sound of Movies“ und erzählen sich nebenbei ein paar nette Anekdoten. Dass der kleine Jonas eigentlich lieber Klavierspielen als singen wollte und wie kaputt wohl die Stimmbänder von Louis Armstrong aussehen. Ein anderes Video zeigt die beiden mit ihrer liebsten Aufwärmübung: Man stopfe sich zum Singen ein Handtuch in den Mund. Jonas und Babatunde schwören darauf!

Neben seiner eigenen Musik postet Akinboboye auch jeden Tag kurze Videos, in denen er schwarze Komponisten und Sängerinnen vorstellt: Jessye Norman, Mahalia Jackson, Marian Anderson, John Holiday, Paul Robeson oder Leontyne Price, für die er persönlich schwärmt: „Sie ist wahrscheinlich eine der besten Sopranistinnen jemals! Und bemerkt mal bitte, dass ich nicht ‚Schwarze Sopranistinnen‘ gesagt habe!“ Bemerkenswert, wie flink Akinboboye mal so eben Rassismuskritik in einem Video unterbringt, das kürzer als eine Minute ist. Sowieso schert er sich nicht um die ungeschriebenen Regeln der Opernszene, denn er weiß, dass sie im Internet kein Gewicht haben. Er macht Späße über einen Betrieb, von dem er selbst Teil ist und auch profitiert. Ganz unverblümt macht er sich lustig über cholerische Intendanten, die sich nicht für Diversity einsetzen, oder Mäzene, die verhindern wollen, dass schwarze Menschen an Opernproduktionen teilnehmen.

Am liebsten genauso verrückt wie ­unsere Welt

Seine Munition: Reichweite. Seine Währung: Aufmerksamkeit. Akinboboye bekommt viel Resonanz, nicht nur von der Gen Z, sondern auch von anderen Kollegen oder Managern: Sie nehmen den Betrieb ähnlich wahr, trauen sich allerdings nicht, Kritik zu äußern, wie es Akinboboye tut. Während der Corona-Pandemie legte der nochmal eine Schippe drauf: „Es ist einfacher, die Schwierigkeiten in der Branche offen anzusprechen, wenn man sich keine Sorgen machen muss, nicht eingestellt oder gefeuert zu werden, weil in der Pandemie niemand eingestellt wurde. Deswegen habe ich angefangen, noch ein wenig lauter über die Dinge zu sprechen, die mir in der Oper aufgefallen sind und die meiner Meinung nach anders laufen könnten.“

Babatunde Akinboboye kritisiert Rassismus, Sexismus und Hierarchien im Opernbetrieb – und das stets mit einem Augenzwinkern. Er zeigt eine Insider-Perspektive und witzelt über all die kleinen Dinge, die merkwürdig sind. So macht er Oper zugänglich und vor allem verständlich für ein neues, junges Publikum: „Der Grund, warum ich in der Lage war, all diese Sachen den Leuten so effektiv zu vermitteln, ist, dass ich erst so spät im Leben selbst zur Oper gekommen bin. Weil ich nicht mit Oper aufgewachsen bin, habe ich eine andere Perspektive auf die Kultur und sehe Oper immer noch oft so wie diejenigen, die keinen Bezug dazu haben.“ Regelmäßig kommentieren Leute seine Videos damit, dass sie wegen ihm angefangen hätten, in die Oper zu gehen und das seitdem nicht mehr missen wollen. Auf seinem Kanal hätten sie gelernt, dass man auch „ohne Anzug“ in die Oper gehen darf, welche Rollen oft mit Mezzosopranistinnen besetzt sind und woraus der gängige Werks­kanon besteht. Außerdem demonstriert ­Babatunde auch, was in der Klassikwelt oft verpönt ist: große, emotionale Reaktionen auf Musik. Etwas, das zwar viele Leute fühlen, aber nur wenige offen zeigen.

Mit seinen Videos will er den Opernbetrieb nicht mehr und nicht weniger als verändern: Oper soll raus aus der verstaubten Ecke mit den immergleichen Hits. Viel schöner wäre es, wenn das Genre genauso vielfältig, bunt und verrückt wäre wie die Welt, in der wir heute leben. „Ich bin nicht besorgt über die Zukunft der Oper. Ich bin viel eher gespannt auf das, was als nächstes kommt. Oper ist eine tolle Kunstform. Sie hat nicht ohne Grund die Barockzeit überlebt. Aber es bricht mir das Herz, dass sie zu einem Fossil geworden ist, das im Regal steht und verstaubt. Dabei ist sie doch wie eine Blume: Sie will wachsen.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2024

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Sperr ma zua …

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

von Florian Maier

Sie haben sich gefunden, allen Turbulenzen und Tränchen, allen Verwirrungen und Verwechslungen zum Trotz. Einer Fünffach-Hochzeit steht also endlich nichts mehr im Wege, die Operettenseligkeit schwingt sich auf zum großen Finale – und geht über in einen martialischen Marsch, während im Hintergrund historische Aufnahmen ausgemergelter KZ-Insassen projiziert werden und braungewandete Statisten mit Hakenkreuzbinden die Bühne beherrschen …

„Es blüht die süße Rebe,
Der Himmel ist so blau,
Viel tausend Jahre lebe
Der Zauber der Wachau!“

Am 14. Dezember 2023 begeht die Volksoper Wien ­ihren 125. Geburtstag. Direktorin Lotte de Beer und ihr Team hätten es sich einfach machen können: mit einer glamourösen Jubiläumsgala, einem gefälligen künstlerischen Potpourri, den üblichen wohlwollenden Reden aus Politik und Gesellschaft und vielleicht noch einer hübschen Begleitbroschüre fürs heimische Regal. Schnell auf die Beine gestellt, schneller Glanz fürs eigene Image, schnell vergessen. Stattdessen geht an diesem Abend eine über mehrere Jahre gewachsene Stückentwicklung über die Bühne: „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Produktion, die dort nachbohrt, wo viel zu lange tabuisiert wurde, die Stellung bezieht und auch einfordert: „Was würdest Du tun?“

„Wem dienen wir?“ – „Der Kunst.“ – „Und sonst?“ – „Dem Führer!“ (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Ihre Dienste werden nicht mehr ­benötigt.“

„Die Politik ist unwichtig! In vier Wochen ist Premiere! Das ist wichtig!“ Anfang 1938 sind die Proben zur Revueoperette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ in vollem Gange. Und auch wenn Regisseur Kurt Hesky es nicht wahrhaben will, die bittere Realität draußen spitzt sich immer mehr zu: ­Schuschniggs austrofaschistischer „Ständestaat“ und sein Ringen um Unabhängigkeit von Hitler-Deutschland, eine verzweifelt initiierte und dann doch noch gestoppte Volksabstimmung, der Einmarsch der Nationalsozialisten, die Rede am Heldenplatz. Der „Anschluss“ am 12. März 1938 ändert über Nacht alles – auch für die Volksoper. 1898 zum 50. Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph noch mit deutlich antisemitischer Satzung eröffnet, hatten sich die Vorzeichen am Haus inzwischen umgekehrt: Die Volksoper lebte in der Zwischenkriegszeit ganz wesentlich vom kreativen Input ihrer jüdischen Künstlerinnen und Künstler. Und jetzt? „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.“ Entlassungen. Vertreibung. Flucht. Verhaftung. Deportation. Ermordung im KZ.

2018 veröffentlichte Historikerin Marie-Theres Arnbom die Ergebnisse einer aufwändigen weltweiten Recherche rund um die letzte Volksopern-Premiere vor dem „Anschluss“, Jara Beneš’ „Gruß und Kuss aus der Wachau“ auf Texte von Hugo ­Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda. Das Ziel: Erinnerungsarbeit für die damaligen Schicksale jüdischer Ensemblemitglieder leisten, ihre Geschichten dem Dunkel der Zeit entreißen, stellvertretend für so viele ausgelöschte oder für immer überschattete Leben. Lotte de Beer wird kurz nach ihrer Berufung 2020 auf die Publikation aufmerksam, die im Zuge von „Lass uns die Welt vergessen“ jetzt in ergänzter Neuauflage erschienen ist. Für die Uraufführung lässt sie Arnboms Erkenntnisse für die Bühne adaptieren: Das Ensemble von heute spielt das Ensemble von damals.


EMPFEHLUNG

Marie-Theres Arnbom:
„‚Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt‘: Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938“
(Ergänzte Neuausgabe 2023)
206 Seiten, Amalthea

Albtraum und Traumwelt

Eine „Stück im Stück“-Situation mit zwei Extremen, wie man sie sich unvereinbarer kaum vorstellen kann: hier fröhlicher Operettenklamauk in köstlichstem Wiener Schmäh, mit spritzigen Choreos (Florian Hurler) und pastelligen Prospekten; dort eine angespannte Probenatmosphäre, die Angst vor den neuesten Nachrichten, eine vergiftete „Ensemblekultur“, in der die einen blinde Panik ums nackte Überleben haben und die anderen ihre Mitgliedschaft in der „Nationalsozialis­tischen Betriebszellenorganisation“ über eigenmächtig angezogene NS-Uniformen auch auf die Bühne tragen. „Jeder 10. ­Wiener ist Jude, wissen Sie das?“ – „Ein echter Wiener zählt nur bis 9.“

Der niederländische Regisseur und Autor Theu Boermans hat sich des Spagats zwischen den Erzählebenen angenommen. Mit viel Fingerspitzengefühl zeichnet er nach, was damals hinter den Kulissen der Volksoper so oder ähnlich passiert sein muss. Am linken Bühnenrand positioniert er das Regieteam von 1938, in der Mitte werden in schnellen Probendurchläufen und mit zunehmendem Chaos die einzelnen Szenen von „Gruß und Kuss“ abgespult – dazwischen die schwelenden Konflikte zwischen Opfern, Tätern und „Verdrängern“, die wegschauen, still und ohne jedes Anecken an ihrem brüchigen „Alltag“ festhalten wollen. Historische Aufnahmen, darunter Schuschniggs Rundfunkansprache („Gott schütze Österreich!“) und der frenetische Jubel für Hitler bei dessen Rede am Heldenplatz, geben auf beklemmende Weise den fatalen Lauf der Geschichte wieder. Wie dieser den einzelnen Charakteren mehr und mehr den Boden unter den Füßen wegzieht, wird in privaten, abendlichen Momenten greifbar, die Bühnenbildner Bernhard Hammer auf einem kalten Stahlkarussell verortet.

Solidarisch sein oder weiterarbeiten? Die Operettenkünstler Emil Kraus (Sebastian Reinthaller) und Frida Hechy (Ulrike Steinsky) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

In der Realität wurde „Gruß und Kuss aus der Wachau“ am 16. Februar 1938 uraufgeführt und nach dem „Anschluss“ in einer „arisierten“ neuen Textfassung noch einen Monat lang gespielt – die Musik des tschechischen Komponisten Jara Beneš wurde weiterhin verwendet, da er im Gegensatz zu den Librettisten nicht jüdischer Herkunft war. Boermans nimmt sich für seine Dramatisierung die Freiheit, das historisch verbürgte Premierendatum um einige Wochen nach hinten zu verlegen, um so die reale Katastrophe und den Operetteneskapismus diametral zuspitzen und die Haltungen seiner Figuren noch schärfer herausarbeiten zu können. Laufende Umbesetzungen abseits jeglicher menschlichen Würde oder künstlerischen Berechtigung werden dadurch erst recht ad absurdum in ihrer Fratzenhaftigkeit entlarvt.

„Ein heiterer deutscher Theaterabend“

An Kunst um der Kunst willen ist anno 1938 ohnehin längst nicht mehr zu denken. Fritz Löhner-Beda, in der Zwischenkriegszeit einer der erfolgreichsten Librettisten und Schlagertexter, wird unmittelbar nach dem „Anschluss“ verhaftet und 1942 in Auschwitz erschlagen. Regisseur Kurt Hesky flüchtet nach Brasilien und findet sich dort im Edelsteinhandel wieder – über eine Fortsetzung seines künstlerischen Schaffens ist nichts bekannt. Victor Flemming, ein Wiener Sängerstar, wird bei seinem Fluchtversuch verhaftet, nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert, 1944 ermordet. Intendant Alexander Kowalewski kann dem antisemitischen Druck von innen und außen nichts mehr ­entgegensetzen, wird seines Amtes enthoben und durch einen „arischen“, regimekonformen Nachfolger ersetzt. Komponist Jara Beneš mit seinen schmissigen Jazz-Rhythmen ist den Nazis ein Dorn im Auge – seine aufstrebende Karriere ist schnell vorbei, er stirbt 1949 völlig verarmt. Dirigent Kurt Herbert Adler flieht in die USA und leitet als einer der einflussreichsten Operndirektoren der Welt über drei Jahrzehnte die San Francisco Opera. Sopranistin Hulda Gerin wird trotz ihrer jüdischen Wurzeln lange protegiert, geht erst nach München und muss dann doch emigrieren – nach dem Krieg gelingt ihr unter dem Namen Hilde Güden eine große Karriere. Nur einige Namen, exemplarisch für unzählige Tragödien. Das Österreich der Nazizeit demontiert sich selbst. Und – Ironie des Schicksals – sorgt dafür, dass all seine erstickte Schaffenskraft von den Überlebenden dieser Gräueltaten in die Welt getragen wird. Ein „Kulturtransfer wider Willen“, wie Marie-Theres Arnbom es in ihrem Buch nennt.

Oben v.l.n.r.: Hugo Wiener (1904 Wien – 1993 Wien), Jara Beneš (1897 Prag – 1949 Wien), Kurt Herbert Adler (1905 Wien – 1988 San Francisco), Alexander Kowalewski (1889 Łódź – 1948 Wien); unten v.l.n.r.: Hulda Gerin (1917 Wien – 1988 Klosterneuburg), Fritz Löhner-Beda (1883 Wildenschwert/Böhmen – 1942 KZ Auschwitz), Kurt Hesky (1904 Lundenburg/Mähren – 1961 Rio de Janeiro), Victor Flemming (1886 Wien – 1944 KZ Auschwitz) (Fotos Archiv Volksoper Wien, Österreichisches Theatermuseum)

„Was würdest Du tun?“, so die zentrale Frage von „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Frage, die uns alle etwas angeht. Für „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ mündet der aufziehende Genozid im programmierten Bühnenchaos. Fast das gesamte Regieteam wird von einem Tag auf den anderen entlassen, Regisseur Kurt Hesky zum Weiterarbeiten gezwungen – er flüchtet sich in den Alkohol. Solistinnen und Solisten verlieren ihre Rollen, andere sind sofort bereit einzuspringen. Solidarität der „arischen“ Kolleginnen und Kollegen? Jeder ist sich selbst am nächsten. Besonders berührt eine fiktive Figur, die Theu Boermans ins Geschehen integriert: der Souffleur Ossip Rosental (­Andreas Patton), ein sensibler, introvertierter Feingeist, der irgendwann sogar seine Kippa gegen eine Hakenkreuzfahne eintauschen muss, um auf dem Nachhauseweg durch die Stadt nicht sein Leben zu riskieren. Er erhängt sich. Und die Volksoper? Propagiert ihre „bereinigte“ Premiere als „heiteren deutschen Theaterabend“. Der von Volksschauspieler Gerhard Ernst als melancholischer Kommentator angelegte Bühnenmeister bringt es auf den Punkt: „Wos soi ma do song? Sperr ma zua …“

Die fiktiven Rollen des Bühnenmeisters (Gerhard Ernst) und des jüdischen Souffleurs Ossip Rosental (Andreas Patton) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Wie bringt man den Albtraum 1938 und die Traumwelt der Revueoperette (beide aufwändig und historiengetreu ausgestattet durch Jorine van Beek) auf einen gemeinsamen musikalischen Nenner? Keren Kagarlitsky, die aus Israel stammende Hausdirigentin der Volksoper, war für die Rekonstruktion der Partitur von „Gruß und Kuss“ verantwortlich – nach langwierigen Recherchen konnte in einer Münchner Bibliothek nur noch ein Klavierauszug mit der „arisierten“ neuen Textfassung und einigen wenigen Hinweisen zur Soloinstrumentierung ausfindig gemacht werden. Was da erstmals seit 85 Jahren wieder am ­Währinger Gürtel erklingt, hat durchaus Ohrwurmcharakter, kleine komödiantische Perlen und einiges an Schwung zu bieten – „catchy und kitschy“, wie Kagarlitsky es nennt. Diesen heilen Schein kontrastiert sie mit „entarteter“ Musik von Arnold Schönberg, Viktor ­Ullmann und Gustav Mahler. Musikalische Brücken hat Kagarlitsky selbst noch während der Proben komponiert, unter dem unmittelbaren Eindruck des Angriffs der Hamas auf ihr Heimatland am 7. Oktober 2023. Militärische Blechrhythmen nisten sich da in Beneš’ streicherselige Operettenkulisse ein, ein hebräisches Gebet für den Frieden wird zitiert und über all dem schwebt die unendliche Trauer in Fritz Löhner-Bedas im Herbst 1938 im KZ entstandenen „Buchenwaldlied“:

„O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Oft genug wird die soziale Sprengkraft von Theater beschworen – oft genug ist ein Vorstellungsbesuch in Rekordzeit wieder vergessen. Nicht diesmal. „Lass uns die Welt ­vergessen – Volksoper 1938“ lässt einen nicht mehr los, die Beklemmung hält noch Tage, noch Wochen später an. „Bis die Vergangenheit mich einholt und es verbietet, spiele ich die Zukunft!“ Welche Zukunft verhandeln wir? Haben wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt? Was setzen wir gerade jetzt wieder aufs Spiel? Von der süßlichen Idylle von Gasthaus, Ritterschloss und Dampferfahrt bleibt nicht viel übrig, wenn Zeilen wie „Das Schönste ist der Wassersport“ mit Original-Filmdokumenten von Europa den Rücken kehrenden, überfüllten Flüchtlingsbooten bis zur Grenze des Erträglichen pervertiert werden. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken, und vielleicht liegt genau hierin die Crux des vielzitierten Operetteneskapismus: „Lass uns die Welt vergessen“ – aber auch die Mitmenschen, mit der wir auf ihr leben? Am Ende sitzt Librettist Hugo Wiener in seinem Zufluchtsort Bogotá an einem verstimmten Klavier und singt „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“.

STÜCK

Buch von Theu Boermans unter Verwendung von Text und Musik aus „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ (1938), Operette von Jara Beneš, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda
Mit zusätzlicher Musik von Arnold Schönberg, ­Viktor Ullmann und Gustav Mahler sowie neu ­komponierter Musik von Keren Kagarlitsky

Musikalische Leitung Keren Kagarlitsky
Inszenierung Theu Boermans
Choreografie Florian Hurler
Bühnenbild Bernhard Hammer
Kostüme Jorine van Beek
Licht Alex Brok
Video Arjen Klerkx
Sounddesign Martin Lukesch
Dramaturgie Peter te Nuyl
Historische Beratung Marie-Theres Arnbom

Alexander Kowalewski, Intendant Marco Di Sapia
Ossip Rosental, Souffleur Andreas Patton
Hugo Wiener, Autor Florian Carove
Fritz Löhner-Beda, Librettist Carsten Süss
Kurt Herbert Adler, Dirigent Lukas Watzl
Kurt Hesky, Regisseur Jakob Semotan
Leo Asch, Bühne und Kostüm Szymon Komasa
Bühnenmeister Gerhard Ernst
Hulda Gerin (Miss Violet) Johanna Arrouas
Viktor Flemming (Graf Uli von Kürenberg) Ben Connor
Fritz Imhoff (Püringer) Karl-Michael Ebner
Trudl Möllnitz (Franzi) Theresa Dax
Olga Zelenka (Resi) Sofia Vinnik
Kathy Treumann (Anni) Julia Koci
Walter Schödel (Werkmeister) Nicolaus Hagg
Frida Hechy (Witwe Aloisia Bründl) Ulrike Steinsky
Emil Kraus (Otto Binder) Sebastian Reinthaller
Franz Hammer (Pepi Marisch, Briefträger) Johannes Deckenbach
Kurt Breuel (Graf Ulrich von Kürenberg) Kurt Schreibmayer
Johanna Kreuzberger (Amalasvintha von Kürenberg) Regula Rosin
Horst Jodl Robert Bartneck
Fritz Köchl Axel Herrig
Hans Frauendienst (Wirt Glöckerl) Thomas Sigwald

Ensemble Kilian Berger, Victoria Demuth, Oliver Floris, ­Michael Konicek, Benjamin Oeser, James Park, Marina ­Petkov, Jennifer Pöll, Philip Ranson, Rebecca Soumagné, Anja Štruc, Anetta Szabo

Orchester der Volksoper Wien

Weitere Termine 3. April 2024, Wiederaufnahme im April und Mai 2025 (Infos und Termine auf der Website der Volksoper Wien)

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2024

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen