Aufgewachsen zwischen Feldern und Steppe in Kirgistan, lernte sie erst in Deutschland die Sprache ihrer Vorfahren – und erfuhr von der Existenz klassischer Musik. Mittlerweile klopfen große Opernhäuser bei ihr an sowie Kirill Petrenko. Ein Gespräch mit der Sopranistin über gestern, heute, morgen …

Interview Rüdiger Heinze

Wissen Sie eigentlich, dass Sie laut deutscher Wiki­pedia zu den großen Töchtern ihrer Heimatstadt Bischkek zählen?
Ja, das weiß ich, das hat mir mein Mann neulich gesagt. Ich bin schon stolz, dass ich aus Kirgistan komme und es so weit geschafft habe. Das hätte ich nie gedacht. Aber dass man mich so betitelt! Ich weiß nicht, wer darauf kam. Aber es schmeichelt mir.

Aus Ihrer Familie war es niemand?
(lacht) Nicht, dass ich wüsste! Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand aus meiner Familie an dem Text dort rumdoktert. Auch nicht mein Mann oder irgendwelche Freunde.

Wie kamen Sie zu einem so urdeutschen Namen wie Katharina Konradi?
Meine Vorfahren stammen aus Sibirien, sind aber Wolga­deutsche, die 1993 bis 1995 auf Einladung in ihre Heimat Deutschland zurückgingen. Und ich hatte das Glück, dass ich ein Teil der Familie bin, die dieses Privileg hatte. Meine ganze Familie väterlicherseits trägt den Namen Konradi; meine Urgroßmutter sprach nur Deutsch, obwohl sie ihr Leben lang in Sibirien verbracht hat. Meine Mutter ist Russin, mein Vater hat einen deutschen Elternteil. Als ich dann 2003, mit 15 Jahren, nach Deutschland kam, hatte ich das erste Mal sehr intensive Begegnungen mit der deutschen Sprache. Es war ziemlich schwer, aber ich habe es geschafft.

Das hört man, Gratulation! Erzählen Sie uns etwas über Bischkek und das zentralasiatische Kirgistan kurz vor der Grenze zu China?
Eigentlich komme ich aus einem kleinen Dorf abseits von Bischkek, mitten im Nirgendwo, drumherum nur Felder und Steppe. Bischkek war für mich eine große, schöne Welt, wohin wir mit meinen Eltern Ausflüge gemacht haben. Ich bin dort auch zur Musikschule gegangen, weil in unserem Dorf fast niemand Musik gemacht hat. Es gab nur eine Klavierlehrerin, bei der ich Unterricht hatte, ansonsten war dort die Beschäftigung mit Musik eher ungewöhnlich. Es gab Viehzucht, Feldarbeit, alles, was man eben auf dem Dorf macht. Bis ich 15 Jahre alt war, habe ich die „Stadt“ nur stundenweise erlebt.

Wie wurde in Bischkek Ihr Interesse an Musik geweckt?
Mit vier Jahren hatte ich zur Jahreswende meinen ersten Auftritt bei einem Dorffest. Mein Großvater spielte Akkordeon und ich sang dazu mit großer Freude am Tannenbaum. Das war der Moment, in dem mein Vater mein Talent erkannte und mich weiter fördern wollte. Das hatte zunächst nichts mit Klassik zu tun, sondern mit Volksliedern auf Russisch und Kirgisisch, später mit populärer Musik. Ich trat sogar auch einmal im regionalen Fernsehen auf. Als ich dann nach Deutschland kam, gab es für mich erstmal gar keine musikalische Perspektive, weil ich klassische Musik einerseits nicht kannte und andererseits nicht wusste, wie ich mit Popmusik den Anschluss finden könnte.

Gerade als Teenager braucht man einen Halt, einen Rückhalt. Dieser Rückhalt wäre für Sie Kirgistan gewesen, aber dann reiste Ihre Familie mit Ihnen als 15-Jährige aus, nach Hamburg. Waren Sie in diesem Alter begeistert, Ihre Freunde zu verlassen?
Ich war schon vor 2003 immer mal wieder zu Besuch bei meinen Großeltern, die bereits 1995 nach Deutschland gekommen waren. Wir haben bei Hamburg die Sommer verbracht, und dort habe ich gespürt, dass Deutschland ein besonderes Land ist – wie ein Traum. Seitdem hatte ich den großen Wunsch, in Deutschland zu leben. Aber es war halt schwierig. Wir hatten Probleme mit den Dokumenten und erhielten zunächst zweimal eine Absage. Mein Vater besaß als junger Mann zwar einen deutschen Pass, aber den tauschte er später gegen einen russischen ein, und es war schwierig, diese Änderung später nachzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eigentlich schon aufgegeben.

Was war für Ihre Eltern der Grund, Kirgistan zu verlassen?
Ich glaube, sie wollten das für uns tun, für meine Schwester und mich. Sie haben an unsere Zukunft gedacht, an unsere Ausbildung. Meine Eltern waren Unternehmer und hatten in Kirgistan eine Nudelfabrik. Ich glaube, meinem Vater fiel es sehr schwer, das Geschäft in Kirgistan aufzugeben, aber er hat es dann trotzdem getan, auch weil er näher bei seinen Eltern sein wollte. Die Einladung aus Deutschland wurde zum Geschenk des Himmels für mich.

Waren Sie seit 2003 wieder einmal in Bischkek?
Nein. Ich hatte es mir zwar vorgenommen und auch 2003 meinen Mitschülern versprochen, dass ich nach zwei Jahren zu Besuch wiederkomme. Aber dann ging ich aufs Gymnasium, hatte neue Freunde, auch meinen ersten Freund, sodass gar nicht mehr das Gefühl auftauchte, ich muss zurück. Ich wollte hier sein und bleiben, um wirklich anzukommen.

In Hamburg wendeten Sie sich dann verstärkt der Musik zu. Wie kam das?
Mit 18 Jahren war ich zum ersten Mal in der Oper in Hamburg und hatte zum ersten Mal so etwas wie eine musikalische Erweckung. Es wurde die „Traviata“ gegeben. Ich war sehr beeindruckt! Und dann habe ich gedacht, das will ich auch machen – ich will irgendwann auch in dieser Oper singen, ich will zur Bühne. Ich dachte, wenn es mit der Popmusik nicht geht, dann ist die Oper der richtige Weg, um auf der Bühne zu stehen.

Adele in der aktuellen „Fledermaus“-Produktion der Bayerischen Staatsoper, 2023 (Foto Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper)

Bis zum Hirten im Bayreuther „Tannhäuser“ 2019, bis zur Sophie in Münchens „Rosenkavalier“ 2021 dauerte es aber noch etwas. Was geschah?
Als ich 21 war, machte ich mein Abitur und ging sofort in die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen in Berlin und Köln. Ich entschied mich für Berlin, um für vier Jahre bei Julie Kaufmann zu studieren. Aber danach war ich noch nicht wirklich zufrieden und beschloss, ein Jahr Pause zu machen. Ich arbeitete beim Münchner TÜV, überprüfte unter anderem technische Unterlagen von Schaustellern, nahm weiter Gesangsunterricht, studierte jedoch nicht offiziell – bis ich schließlich nochmal eine Aufnahmeprüfung absolvierte: für Lied und Konzertgesang in München. Zum Studium sang ich später parallel in Wiesbaden an der Oper – mein erstes Engagement. Ich sang Operette, aber auch meine erste Woglinde, Pamina, Susanna, bestes Repertoire zum Einsteigen. Und dann kam Bayreuth mit dem Hirten, obwohl ich dort für die Woglinde vorgesungen hatte. Sie sagten, meine Stimme sei für die Woglinde zu klein, aber ich könne doch den Hirten im „Tannhäuser“ singen. Damit war ich auch sehr glücklich, der Hirte steht doch mehr im Fokus.

Mittlerweile haben Sie etliche CDs aufgenommen – und dabei fällt ein Faible für Konzept-Programme einerseits, für außergewöhnliche Besetzungen andererseits auf, nicht zuletzt auf „Solitude“ mit romantischen Liedern in Fassungen Aribert Reimanns für Streichquartett. Wie kam es dazu?
Die sechs Schumann-Lieder op. 107 hörte ich bereits vor meiner Entscheidung, Gesang zu studieren. Ich hatte mir eine CD mit Christine Schäfer gekauft – für mich die Göttin im Liedgesang – und hörte die Lieder rauf und runter. Worauf sich der Wunsch entwickelte, sie auch selbst zu singen, was dann tatsächlich während meines Studiums geschah. Und später fand ich die Fragmente op. 20 von György Kurtág, die meiner Meinung nach in der Kombination unfassbar gut zu Schumann passen – was auch immer gut beim Publikum ankam. Über die Jahre hinweg reifte die Vorstellung, Schumann in der Reimann-Bearbeitung zu singen und weitere Stücke rund um Einsamkeit einzubinden.

Es gehen Ihnen sicherlich weitere ähnliche ­Projekte durch den Kopf. Was würden Sie gerne als erstes, liebstes machen?
Es gibt eine Idee: die einer Orchester-CD, und dafür wird es auch Zeit. Das ist mein großer Wunsch. Das Konzept bleibt ähnlich, dass – im Kontrast – mal das Orchester spielt, mal ich alleine singe oder zumindest nur von wenigen Instrumenten begleitet. Über die Komponisten kann ich natürlich noch nichts verraten. Es sind zwei Jahre Arbeit, die ich für solch ein Projekt brauche. Das ist wie ein Kind, das ich austrage. Ich liebe solche Projekte, auch um mein künstlerisches Ego zu befriedigen.

Ihre Konzept-Alben haben Ecken und Kanten – Sie selbst auch?
Ja, viele. Wenn man Ungeduld als Ecke und Kante bezeichnen kann: Ich bin sehr ungeduldig und kann sehr schnell an die Decke gehen, wenn etwas nicht so läuft, wie ich das will. Das kriegt mein Mann oft zu spüren. Zum Glück ist er das Gegenteil von mir; er ist so schwer aus der Ruhe zu bringen. Meine Ungeduld kriegt nicht nur er zu spüren. Auch meine Agenten erfahren das, weil ich sehr viel und gleichzeitig machen möchte, tausend Projekte in einer Woche. Noch eine Ecke und Kante: Ich kann an einem Ort nicht lange sein. Innerhalb von zwei Jahren bin ich schon achtmal umgezogen. Letztes Jahr hatte ich gar kein Zuhause mehr, wir sind nur gereist. Ich bekam solch eine Panik, mich irgendwo festzusetzen, weil ich das Gefühl hatte, wenn ich eine feste Wohnung habe, dann ist das für mich: Schluss, Aus.

In der Rolle der Valencienne in Lehárs „Lustiger Witwe“, Opernhaus Zürich 2024 (Foto Monika Rittershaus)

Sie hatten erklärtermaßen mal ein Burn-out. Nun aber ist Ihr Auftrittskalender wieder ausgesprochen voll. Ein Widerspruch? Könnte sich da etwas wiederholen?
Mein Burn-out im Januar 2020 war ziemlich heftig; dabei wusste ich zuvor gar nichts von der Möglichkeit eines Burn-outs. Ich hatte zwei Jahre lang keinen Urlaub, nur durchgesungen, durchstudiert. Drei Monate zuvor hatte es sich schon angekündigt: Ich konnte nicht mehr schlafen, nur noch eine Stunde pro Nacht. Für mich war Schlafen damals verlorene Zeit. Gleichzeitig entwickelte ich eine Angst vor dem nächsten Auftritt. Ich bin zwar auf die Bühne und habe meine Sachen alle noch ganz gut gemacht, aber der Widerstand in mir war plötzlich so groß. Bei einer Hamburger „Bohème“ dann passierte es, dass ich zwar ein-, aber nicht mehr ausatmen konnte. Es war nur noch schrecklich und ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Dann suchte ich mir schnell psychologische Hilfe in der Musiker-Ambulanz in ­Hamburg. Ich musste auch wieder lernen zu schlafen. Es klingt bescheuert jetzt, aber Corona war für mich die Rettung. Die Veranstalter sagten ab. Nun hatte ich Zeit zu schlafen. Heute jedenfalls habe ich gute Berater: meinen Mann, meine Psychologin, meine Agenten. Ich weiß nicht, was ich mit meiner Ungeduld machen soll, mit diesem Gefühl, ich möchte noch so vieles schaffen an Orten, wo ich noch nicht gewesen bin …

Sie sagten einmal, es gebe noch andere wichtige Aufgaben im Leben – neben dem Singen. Was wären die für Sie?
Eine wichtige Aufgabe ist ein guter Freundeskreis. Ein großes Fest, zu dem wir viele Freunde einladen, nährt mich noch wochenlang. Auch Malen gehört dazu, ich male so gerne. Doch ich komme einfach nicht dazu. Die größte Aufgabe ist aber natürlich unsere kleine Tochter. Ich möchte auch viel mehr Zeit mit ihr verbringen.

Zurzeit singen Sie viel geistliche Musik. Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich bin aufgewachsen, ohne jemals eine Kirche von innen gesehen zu haben – bis ich nach Deutschland kam. Hier wurden wir bei der Anmeldung der evangelischen Kirche zugeordnet, da unsere Vorfahren evangelisch waren. Aber mittlerweile bin ich aus der Kirche ausgetreten, auch weil ich ihr nie freiwillig beigetreten bin. Aber: Ich singe wahnsinnig gerne geistliche Musik. Davon kann ich nicht genug kriegen. Die Musik beseelt mich; sie erweitert meinen Geist. Ich möchte nicht darauf verzichten.

Es steht ja wohl demnächst ein Konzert mit einem Weltklasse-Orchester unter einem Weltklasse-Dirigenten an. Darf darüber Genaues schon vermeldet werden? Wie kam es dazu?
Ja, das darf man jetzt schon schreiben, dass ich in Baden-­Baden bei Beethovens Neunter mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko singe; das findet doch in der laufenden Spielzeit statt. Es stand zur Auswahl, ob ich in der „Missa solemnis“ oder in der Neunten singe. Ich sollte dann eine Aufnahme schicken, weil Herr Petrenko gerne hören wollte, wie meine Stimme piano in der Höhe klingt. Er erhielt meine Münchner ­Sophie. Dann kam die Antwort, er habe mich gerne.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2024

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