„Sie erleben jetzt die Generalprobe!“ Ein Raunen geht durch das Publikum, das erwartungsvoll auf den Beginn der Premiere von Gottfried von Einems Oper „Der Prozess“ wartet. Intendant Stefan Herheim fährt launig fort: „Ein Virus hat uns in der letzten Woche lahmgelegt. Daher war ein kompletter Durchlauf bis jetzt nicht möglich. Sehen Sie bitte über ein paar Stolperer hinweg – wir sind selbst gespannt.“ Doch von Unsicherheiten merkt man in den nächsten eineinhalb Stunden nichts. Im Gegenteil: Die Rasanz des Stücks ist bemerkenswert.

Nach dem Sensationserfolg „Dantons Tod“ präsentierte Gottfried von Einem 1953 seine zweite Oper, basierend auf dem Romanfragment von Franz Kafka. Das Werk konnte nicht an den Erfolg anschließen und wird bis heute selten gespielt. Das liegt sicher nicht an der Musik, die sich nicht atonal, sondern beschwingt, mit satten Jazzklängen angereichert und in vielen Farben schillernd – oft im Gegensatz zu den bedrückenden Ereignissen des Librettos – in die Ohren der Zuhörer schmeichelt. Vielmehr sind es die verwirrenden Szenen, die zwar den Schrecken einer plötzlichen Verhaftung und die Hilflosigkeit des Opfers vorführen, aber – wie bei Kafka – fragmentarisch bleiben.

Herheim hat keine leichte Aufgabe, dieses Werk in Szene zu setzen. Mit schwungvollen Regieeinfällen treibt er alles auf die Spitze, verlässt das typisch düstere Kafkaeske und präsentiert eine wilde Revue, die auch kantige Sexszenen nicht scheut. Gespielt wird eine in der Corona-Pandemie entstandene Fassung, für ein kleines Orchester arrangiert von Tobias Leppert – ideal für eine Bühne wie jene der Wiener Kammeroper. Das stets hervorragend disponierte Klangforum Wien unter Dirigent Walter Kobéra ist auf der hinteren Bühne platziert.

Gottfried von Einem wurde mehrfach von der Gestapo verhört und konnte sich daher gut in die Psyche von Josef K. hineinversetzen. Genau hier setzt Herheim an. Josef K. hat in dieser Inszenierung im ersten Teil eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Komponisten und taumelt oft wie im Fieberdelirium über die Bühne. Nach der Pause ist er ein verschüchterter junger Mann, der immer hilfloser seinem Untergang entgegenwankt.

Die Besetzung wurde auf neun Personen reduziert. Einige Darsteller übernehmen Doppelrollen, was manchmal verwirrend ist. Doch letztlich ist es unwichtig, wer wer ist, denn jeder – auch das Publikum – kann Täter oder Opfer sein. Es gibt nur eine Frauenrolle: Anne-Fleur Werner überzeugt mit massivem Körpereinsatz und singt, auch im knappen Dessous, tadellos. Unter den Stimmen der jungen Sänger stechen Talente hervor, die man sich merken sollte: Alexander Grassauer, Timothy Connor, Valentino Blasina, Lukas Karzel, Philipp Schöllhorn und Leo Mignonneau. Der größte Applaus aber muss Robert Murray als Josef K. gelten. Kraftvoll tönt der Tenor des Briten, der die Rolle mit Komik, Bravour und Verzweiflung gestaltet. Vom Virus, das das Ensemble niederstreckte, spürt das Publikum nichts. Dafür bedankt es sich mit herzlichem Applaus.

Susanne Dressler

„Der Prozess“ (1953) // Oper von Gottfried von Einem

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