Der gar nicht so oft auf den Bühnen zu sehende Titel „La forza del destino“ kündet zwar von der Macht des Schicksals – dieses Werk Verdis, das er 1869 speziell für die Scala bearbeitet hat, könnte aber auch „Die Macht der Unvernunft“ oder „Der Triumph eines verlogenen Ehrbegriffes“ heißen. Was ist es anderes, wenn der Bruder die Schwester noch im Sterben umbringt, ohne dass die etwas verbrochen hat? Abgesehen davon, dass sie den „falschen“ Mann liebt – zumindest nach Ansicht von Vater und Bruder. Ein Blick in den Gruselkatalog der sogenannten „Ehrenmorde“ in der Grauzone der Parallelgesellschaften zeigt, dass das alles nicht so weit in der Vergangenheit versunken ist, wie wir es in emanzipierten und säkularen Zeiten gerne hätten.

Einen Hauch von Relevanz für unsere Gegenwart bietet sogar die ansonsten meilenweit vom hierzulande üblichen Interpretations-Ehrgeiz entfernte Inszenierung von Leo Muscato. Vor allem mit der Kostümierung der Chöre nutzt Silvia Aymonino das üppige, TV-übertragungstaugliche Drehbühnenbild von Federica Parolini, um zu den martialischen Chorpassagen Waffenlärm und Kriegsgräuel in gleich mehreren Jahrhunderten zu illustrieren und das Finale in eine Ruinenlandschaft wie von heute zu verlegen. Im Ganzen betrachtet haben die Italiener auch diesmal genau die immer leicht museal wirkende Opern-Opulenz bekommen, die sie mögen.

Beeindruckend ist freilich allein schon die Verdi-Spannung, die ein zügig zu Werke gehender Riccardo Chailly mit seinem Orchester erzeugt und trotz des häufigen Szenenapplauses und der zwei Pausen auch durchgehend hält. Da bleiben sogar beim eventversessenen Inaugurazione-Publikum die Handys aus. Der unstrittige Star des Abends ist Anna Netrebko. Die adelt Donna Leonora mit ihrem unverwechselbaren, dunkel samtigen Timbre, tadellosen Höhen und darstellerischer Präsenz. Ludovic Tézier ist ihr mit imponierender Stimmgewalt auftrumpfender Bruder Don Carlo di Vargas. Dass Brian Jagde statt des ursprünglich vorgesehenen Jonas Kaufmann die Rolle des vom Pech verfolgten Don Alvaro übernimmt, erweist sich als Glücksfall – für ihn und für das Publikum, das sich an einem mühelosen Tenorschmelz erfreuen darf.

Auch sonst ist die Besetzung dem Anlass und diesem Verdi-Opernhaus par excellence angemessen. Von Vasilisa Berzhanskaya (Preziosilla) über Alexander Vinogradov (Padre Guardiano) bis Marco Filippo Romano (Fra Melitone) werden alle gefeiert. Dass die zeitgleiche Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame de Paris Mailand diesmal die große Show stiehlt, mag für die Milanisi ein Wermutstropfen sein. Die echten Opernfreunde unter ihnen können sich immerhin an einem Wiedersehen mit den Premierengästen Plácido Domingo und José Carreras erfreuen.

Roberto Becker

„La forza del destino“ (1862/69) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Teatro alla Scala

kostenfreier Stream bis 8. März 2025 auf ARTE Concert