Überschattet ist die nach vier spannungsreichen Stunden laut umjubelte Premiere am 17. Oktober 2023 von der geopolitischen Krise zwischen der Hamas und Israel: höchste Terrorwarnstufe in Frankreich, Polizeipräsenz direkt vor der Oper, die Premierengäste und deren Taschen werden beim Einlass gründlich gefilzt. Diese beklemmende Atmosphäre setzt sich in Form einer nebulös-mysteriös-leidvollen Düsternis auch „drinnen“ auf der Bühne fort – erhellt am Ende allerdings durch die himmlische „Übermacht“ einer unter dem Dirigat von Daniele Rustioni musikalisch überwältigenden, glaubwürdigen Inszenierung. Kein Wunder, setzt bekanntlich der im Titel beschworene „Schatten“ (Symbol für das Mutter werden können) bzw. dessen Fehlen und Stehlen das vielschichtige, symbolisch aufgeladene und märchenhafte Geschehen im 1919 uraufgeführten Gemeinschafts-Kunstwerk von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal in Gang: bis heute eine enorme Herausforderung selbst für große Häuser.

Als filmversierter Musiktheater-Regisseur sucht und findet Mariusz Treliński in der überwältigend farbigen, explosiv aufgeladenen Partitur die gekonnt zwischen Schwarz und Weiß platzierten Nuancen, die er benötigt, um ein schlüssiges Psychogramm der zur emphatischen Kaiserin gewandelten Tochter des Geisterkönigs Keikobad zu modellieren. Kongenial führt Fabien Lédé die beiden Lebensräume von vornehm kühler Geister- und prekärer Menschenwelt auf seiner materialreich gestalteten Drehbühne zusammen, in der ein sich allmählich auflösender Palmenwald das symbolische Versprechen von Gerechtigkeit und Freiheit stemmt. Das Badezimmer wird zum geheimnishütenden Rückzugsort der Frauen und damit zur raffinierten Verbindungsbrücke beider Sphären samt magischer, die Suizid-Gedanken offenlegender Spiegelbild-Projektionen.

Die Sopranistin Sara Jakubiak besitzt genau das dramatische Potenzial, um sich auf das Risiko eines Ausbruchs aus der existentiellen Versehrtheit und seelischen Verzweiflung der Kaiserin einzulassen. Höchst souverän stellt sie sich in allen Lagen dem Abenteuer, das es bedeutet, die Isolation im eisig-sterilen Ehegemach zu beenden, den jagdfreudigen Gatten (Vincent Wolfsteiner) vor der drohenden Versteinerung zu bewahren und sich damit auf die Mensch-Werdung und den Verzicht der geisterweltlichen Privilegien einzulassen – und sich en passant der dominanten Amme zu entledigen. Für diese Rolle ist in Lindsay Ammann eine Idealbesetzung gefunden: ein Kontrollfreak in Gouvernanten-Gestalt, deren Unerbittlichkeit die Mezzolage in nahezu markerschütternde Abgründe vertieft. Die Schwester im Geiste der unerfüllten erotischen Wünsche und Mutterschafts-Nöte trifft die Kaiserin in einem recht vermüllten Milieu, in dem alle Hoffnung auf bessere Zeiten endgültig begraben scheint. Der Daseinsfrust der Frau des Barak ist offensichtlich – intensiv und detailverliebt gestaltet Ambur Braid diese anspruchsvolle Rolle, für die ihr ein Opern-Oscar sicher wäre. In diesem herausragenden Trio stimmlicher Frauenpower behauptet sich Bassbariton Josef Wagner als betörender, ja sensationeller Barak. Er gibt alles, um seine Frau zurückzuerobern, bezirzt sie mit Konfekt und das Publikum mit seinem ausgefeilt-selbstbewusst beherzten Timbre. Ein Charme, der am Ende auch die ungeborenen Kinder an die Festtafel lockt, zu der versöhnlich das in Würde und Frieden gealterte Kaiserpaar geladen hat. Konsequent, dass es hier für die Kaiserin allerdings nur ein Quasi-Happy-End gibt: Sie bleibt allein nur mit einer trostspendenden Puppe auf ihrem Ehebett zurück.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Die Frau ohne Schatten“ (1919) // Oper von Richard Strauss

Infos und Termine auf der Website der Opéra de Lyon