Rouen / Opéra de Rouen Normandie (November 2021) Rekonstruktion der Urfassung von Offenbachs „La vie parisienne“
Für Karl Kraus war „La vie parisienne“ „eine Orgie lebendigster Narrheit“ und Jacques Offenbachs „stärkster Geniebeweis“, weil ihm hier „die Verzauberung der aktuellsten Gegenwart“ gelang. Und das war die des Jahres 1866, als die Operette im Théâtre du Palais-Royale, einer Schauspielbühne, mit großem Erfolg herauskam. Allerdings hatten damals einige Schauspieler Schwierigkeiten, manche Nummern zu singen, sodass sie vom Komponisten noch während der Proben gestrichen und seitdem vergessen wurden.
Jetzt sind sie wieder aufgetaucht und erleben an der Opéra de Rouen Normandie ihre verspätete Uraufführung. Zu verdanken ist dies dem Palazzetto Bru Zane, einer Stiftung zur Pflege vergessener französischer Musik des 19. Jahrhunderts, die dank der Millionen einer großzügigen Mäzenatin und der Expertise ihres künstlerischen Leiters Alexandre Dratwicki in den letzten Jahren einige spektakuläre Ausgrabungen auf die Bühne gebracht hat. Gefunden haben er und seine Kollegen nicht nur „die Orchesterstimmen der Uraufführung und das Originallibretto“ von „La vie parisienne“, sondern auch „einen komplett anderen 4. Akt, neue Finali des 2. und 3. Akts, eine Arie des Urbain, eine ‚Don Giovanni‘-Pantomime nach Mozart und das ‚Trio diplomatique‘, in dem es darum geht, wer effektiver ist: Soldat oder Diplomat“.
So philologisch interessant also die Uraufführung dieser Urfassung auch ist, noch mehr Erwartungen weckt die Tatsache, dass Modeschöpfer Christian Lacroix Regie und Ausstattung übernommen hat. Er stellt ein schlichtes, aber effektvolles Halbrund in typischer Eisen-Glas-Konstruktion des 19. Jahrhunderts auf die Bühne und frönt seiner, wie er im Programmheft bekennt, „fast schon pathologischen Passion für historische Kostüme“. Und das ausgiebig: Männer mit gewaltigen Bärten und Frauen mit windschiefen Frisuren geben sich ein schräges Stelldichein, passend zur überdrehten Handlung. Da geben sich zwei Pariser Lebemänner als Fremdenführer aus, um eine schwedische Baronesse zu verführen, die mit ihrem Mann Paris besucht. Sie führen das Touristenpaar nach Strich und Faden an der Nase herum, kommen trotzdem nicht zum Zug, am Ende aber haben sich alle amüsiert.
In den ersten zwei Akten von Lacroix’ Inszenierung gibt es kaum Unterschiede zur üblichen Fassung – nur dass die Schweden Dänen sind, Schumacher Frick und Handschuhmacherin Gabrielle deutsch radebrechen und bei jeder Gelegenheit losjodeln, was im zweiten Finale ad absurdum geführt wird, wenn sie – im Bund mit den anderen deutschen Schuhmachern – der Bouillabaisse der derben Fischweiber aus Marseille deutsch Paroli bieten: „Sauerkraut mit Schink und Wurst, gibt mir immer, immer Durst!“ Ein grotesker Höhepunkt, von Florie Valiquette und Éric Huchet erzkomödiantisch ausgespielt. Überhaupt ist ein erstklassiges junges und spielfreudiges Ensemble aufgeboten, aus dem außerdem noch Aude Extrémo als Métella und Frank Leguérinel als Gondremarck herausragen. Nur aus dem Orchestergraben würde man sich von Romain Dumas manchmal mehr Leichtigkeit wünschen.
Und die kommt nach der Pause auch der Inszenierung etwas abhanden, was freilich vor allem am problematischen vierten Akt liegt, der schon bei der Uraufführung ernüchternd „wie Eiswasser“ gewirkt hat. Dabei hatte ihn Offenbach bereits während der Proben völlig umgekrempelt. Wie er ursprünglich geklungen hätte, ist jetzt in Rouen erstmals zu hören. Aber auch hier will er nicht recht zünden und so bleibt die grundsätzliche Frage, ob es 1866 nicht doch besser war, das Werk während der Proben umzuarbeiten. Macht es Sinn, Offenbachs eigene mühevolle Arbeit wieder rückgängig zu machen? Ist für die Operette nicht doch die Bühnenpraxis letztlich wichtiger als die Intentionen der Autoren? Und kann es in diesem Genre also überhaupt eine Urfassung geben?
Auch die Produktion in Rouen, so opulent und amüsant sie auch ist, kann darauf nur bedingt Antwort geben.
Dr. Stefan Frey
„La vie parisienne“ („Pariser Leben“) (1866) // Opéra bouffe von Jacques Offenbach in der rekonstruierten und seinerzeit unveröffentlichten Urfassung