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Rezensionen 2022/01

Machtkämpfe im Großstadt-Dschungel

Mailand / Teatro alla Scala (Dezember 2021)
Verdis „Macbeth“ erntet Buhrufe

Mailand / Teatro alla Scala (Dezember 2021)
Verdis „Macbeth“ erntet Buhrufe

Was für ein denkwürdiger Abend, wenn bei dem bedeutendsten Opernereignis des Jahres der italienische Präsident den größten Beifall erntet. Allein sechs Minuten währen die Ovationen für den 80-jährigen, aus seinem Amt scheidenden Sergio Mattarella. Für das bis in kleinere Rollen hochkarätig besetzte Ensemble fällt der Beifall deutlich matter aus, für die Regie gibt es lautstarke Buhrufe.

Ausgerechnet Anna Netrebko, die sonst so verlässliche Größe, hat in den höheren Registern zu kämpfen. In der ersten Arie der Lady „Ambizioso spirto“ verrutscht ihr ein Spitzenton, den sie nachjustieren muss. Auch in den folgenden Szenen tönt ihr Sopran recht angestrengt in den Höhen. Noch dazu – und das erscheint noch gravierender – bleibt sie der Figur, die ihren Mann zu mehreren Morden anstiftet, alles Abgründige schuldig. Mehr auf schönen Klang bedacht, den sie immerhin in der Mittellage und Tiefe mit großer Stimme aufbieten kann, erinnert ihre mondäne Lady in prächtigen blutroten Designer-Roben (Kostüme: Gianluca Falaschi) eher an die Violetta in „La traviata“. Das liegt vor allem daran, dass sie ihrem Text seitens Ausdruck zu wenig Rechnung trägt. Das Premierenpublikum quittiert solche Schwächen gnadenlos mit Buhrufen. So heiß ging es an der Scala beim Auftritt einer Primadonna lange nicht mehr her.

Das wenig überzeugende Rollenporträt hat auch Davide Livermore zu verantworten, der sich für die Psychologie der Figuren nicht sonderlich interessiert, sondern vielmehr mit spektakulären Zooms und Kamerafahrten seiner Faszination am Kino frönt (Video: D-Wok). Zu sehen gibt es bewegte Tableaus von Wäldern, Wolken und einer heutigen Mega-City, die mit imposanten Wolkenkratzern und Häuserschluchten unweigerlich an Fritz Langs Filmklassiker „Metropolis“ erinnert. Aber die Multimedia-Show läuft neben dem Geschehen her, schafft keine Spannung und ersetzt nicht die mangelhafte Arbeit am Text.

Schaurig, düster oder gar gespenstisch wird es nie, auch nicht in den zackigen Tanz-Einlagen, mit denen Daniel Ezralow die Auftritte der weissagenden Hexen befremdlich choreografiert. Und dann ist der Regisseur noch auf die Schnapsidee gekommen, den Brief, der die erste große Szene der Lady einleitet, einer Männerstimme aus dem Off zu übertragen. Wie nur konnte Riccardo Chailly als musikalischer Leiter das durchgehen lassen? Und auch damit, wie sich Chailly in seinem Bemühen um Dramatik ganz auf die lauten Stellen konzentriert, kann sein Verdi nicht wirklich überzeugen. Leise grummelnde Tremoli wirken eben doch unheimlicher als Fortissimo-Schläge. 

Allein Luca Salsi in der Titelpartie des Macbeth setzt der Aufführung ein Glanzlicht auf, so wie er den von Verdi auf jedes Wort exakt abgestimmten Farbwechseln penibel Rechnung trägt. Ebenso mit überzeugenden gesanglichen Leistungen treten in kleineren Rollen Ildar Abdrazakov (Banco) und Francesco Meli (Macduff) hervor. Wer sich noch einmal mitreißen lassen will von einer wahrlich faszinierenden Produktion der Oper, sollte unbedingt die Ausstellung besuchen, die das Museum der Scala aktuell dem großen Theatermacher und Regisseur Giorgio Strehler mit zahlreichen Video-Auszügen widmet. Da laufen einem wahrlich Schauer über den Rücken. 

Kirsten Liese

„Macbeth“ (1847) // Melodramma von Giuseppe Verdi

Eine Oper wie gemalt

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Dezember 2021)
Markus Lüpertz’ anachronistisches Regiedebüt mit „La Bohème“

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Dezember 2021)
Markus Lüpertz’ anachronistisches Regiedebüt mit „La Bohème“

Viel war bereits im Vorfeld in den Feuilletons zu lesen über den „80-jährigen Regiedebütanten“, den glamourösen Maler-Superstar Markus Lüpertz und seinen Anspruch, „Farben zum Singen“ zu bringen. Werk und Ort seiner Wahl: Puccinis „La Bohème“ am kleinen, aber feinen Staatstheater Meiningen. Beides im Nachhinein betrachtet ein Coup in perfektem Einklang zum gewünschten Ergebnis – und erstaunlicherweise wie geplant vor Live-Publikum.

Gut möglich, dass die von überall her zur Premiere angereiste Lüpertz-Fangemeinde mehr Provokation erwartet hatte. Stattdessen: Standing Ovations allenthalben und ein sichtlich zufriedener Künstler beim Schlussapplaus.

Als den „Opernkomponisten schlechthin“ bezeichnet Lüpertz Puccini, stellt demzufolge die Musik in den Mittelpunkt seiner Inszenierung – und seine Sänger fast durchgehend semikonzertant an die Rampe. Was manchmal erzählerisch nicht ganz aufgeht – etwa, wenn Rodolfo im dritten Bild Mimìs plötzliches Erscheinen besingt, ohne sie sehen zu können – vermittelt an anderen Stellen spannende neue Blickwinkel auf Altbekanntes. Intim, berührend und persönlich: eine aufrecht am Bühnenrand stehend sterbende Mimì, die mit letztem, sichtbarem Aufatmen die Augen schließt und in helles Licht getaucht in eine andere Welt übergeht. An ihre Seite tritt der personifizierte Tod aus der Kulisse, während Rodolfo die Geliebte im gebührenden Abstand schmerzhafter Trennung fast wie Orpheus seine Eurydike chancenlos und körperlich isoliert an die Unterwelt verliert.

Lüpertz’ Welt der Oper ist kein modernes Musiktheater. Seine „Bohème“ ist eine liebevolle Reise in die Phantasie und Hommage an Künstlichkeit und Nostalgie ohne Kitsch. Hier inszeniert ein Maler, der sich ausschließlich gemalter Bühnenbilder und zweidimensionaler Requisiten bedient, die wie Kulissen hin- und hergeschoben werden und in rührender Klapprigkeit an das Papiertheater des 19. Jahrhunderts erinnern. Opéra-comique-artige Clown-Figuren werden zu menschlichen Leinwänden und ebenfalls bemalt, der grell-grün gekleidete Chor zum übergroßen Tannenbaum-Hintergrund der „Momus-Szene“ drapiert. Und es gibt noch ein persönliches Detail: Lüpertz stellt dreien der vier Bilder eigene, atmosphärische Texte voran, die er auch gleich selber spricht.

Ein Glücksfall für diese Inszenierung ist das überzeugende Solistenensemble des Meininger Staatstheaters, allen voran die türkische Sopranistin Deniz Yetim, die mit großer Stimmflexibilität gekonnt zwischen anrührenden Piani und dramatischem Forte balanciert. An ihrer Seite Alex Kim, ein strahlender Rodolfo in bester Tenor-Manier mit manchmal ein klein wenig zu viel Power. Monika Reinhard singt, spielt und ist die quirlige Musetta, die man sich wünscht. Und auch die übrige Besetzung mit Julian Younjin Kim (Marcello), Johannes Mooser (Schaunard), Selcuk Hakan Tıraşoğlu (Colline) und Stan Meus (Parpignol) überzeugt ohne Einschränkungen. GMD Philippe Bach am Pult der Meininger Hofkapelle jongliert den emotionalen Puccini-Klang zwischen bewegten Gemälden und stehenden Protagonisten souverän und mitreißend.

Iris Steiner

„La Bohème“ (1896) // Oper von Giacomo Puccini

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Tamino im Hier und Jetzt

Kiel / Theater Kiel (Dezember 2021)
Moderner Sprechtext und frische Ideen für Mozarts „Zauberflöte“

Kiel / Theater Kiel (Dezember 2021)
Moderner Sprechtext und frische Ideen für Mozarts „Zauberflöte“

Eine renovierte „Zauberflöte“ – kann das gut gehen? Im Auftrag des Theaters Kiel hat Gegenwartsdramatiker Roland Schimmelpfennig zu Mozarts Musik und dem Libretto von Emanuel Schikaneder moderne Sprechtexte geschrieben. Generalintendant Daniel Karasek inszeniert die Fassung spartenübergreifend mit Sängerinnen und Sängern, Schauspielerinnen und Schauspielern. GMD Benjamin Reiners leitet sie musikalisch mit hörbarer Lust auf den alten Mozart und die neue Produktion.

Ein doppelter Tamino. Pamina, Sarastro, die Königin der Nacht, Papageno und Papagena – sie alle mal zwei. Opern- agiert mit Schauspielpersonal, als sei es das Leichteste der Welt und seit Ewigkeiten erprobt. „Zu Hilfe!“, fleht Tamino. Ist er der bedrängte tapfere Prinz oder ein hasenfüßiger Junge aus der Vorstadt, der auf einen falschen Weg geraten ist? Er zweifelt selbst und andere mit ihm. Papageno zum Beispiel, der in Kiel seiner ihm allzu oft mit buntem Unernst auferlegten Eindimensionalität entfliehen und mit seiner erbarmungswürdigen Einsamkeit eine andere Seite zeigen darf. Der Schauspiel- bzw. Musiktheater-„Zwilling“ macht das facettenreiche Wesen sicht- und hörbar: Wo die Sprache endet, hilft die Musik. Wo der durchweg überzeugende Gesang mit seinen Texten im 18. Jahrhundert verhaftet ist, hilft die Schauspielkunst. Die Kieler „Zauberflöte“ kommt daher, als hätte ihr einer den Staub der Jahrhunderte aus dem Menschlichen und Zwischenmenschlichen gepustet, das aber bei allem Respekt vor Mozart und Schikaneder.

Gemeinsam mit den modernen Sprechtexten erzeugen Komposition und Libretto Spannungsfelder, in denen sich die Brüche der Helden und Heldinnen auf der Suche nach Erkenntnis und Identität auftun. Der junge Tamino, der Teenie Pamina, sie suchen ihren Weg durch die rätselhafte Welt der eigeninteressierten Alten. Das Spiel beginnt in schönster Normalität: Pamina erlebt einen Familienzwist und fällt in einen Traum, der diesen Konflikt verarbeitet. Das kennt jeder, das versteht jeder und wunderbarerweise fügt es sich mit Mozart und Schikaneder zu einem neuen Ganzen.

Die Kunst dieser „Zauberflöte“ zeigt sich im Miteinander von anspruchsvoller Deutung und hohem Unterhaltungswert. Das Publikum hat viel zu lachen. Auch das liegt an den Zwillings-Besetzungen, die ihre jeweiligen inneren Schweinehunde Auge in Auge bekämpfen.

Komische Tragik, tragische Komödie? Es ist ein Blick ins Leben, und folgerichtig spielt der in einer unprätentiösen Ausstattung. Doch Bühne und Kostüme (Claudia Spielmann) wie auch Lichtgestaltung (George Tellos) kommen so pointiert zum Einsatz, dass sie mit Farben (Schwarz, Weiß, Grau, Rot), zwei Leitern und einer bespielten Hochbrücke ausreichend Raum für Bewegungsspektakel und somit für reichlich visuelle Abwechslung bieten.

Wenn das Premierenpublikum, kaum dass der letzte Ton verklungen ist, nahezu geschlossen aufspringt und stehend applaudiert, dann muss auf der Bühne Bemerkenswertes geschehen sein. Bei dieser „Zauberflöte“ ist das so.

Karin Lubowski

„Die Zauberflöte“ (1791) // Oper von Wolfgang Amadeus Mozart (Musik) und Emanuel Schikaneder (Libretto) in einer neuen Dialogfassung von Roland Schimmelpfennig (2021)

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Jauchzet, frohlocket …

Kassel / Staatstheater Kassel (Dezember 2021)
Bachs „Weihnachtsoratorium“ als „parzitipatives Musiktheater⁺“

Kassel / Staatstheater Kassel (Dezember 2021)
Bachs „Weihnachtsoratorium“ als „parzitipatives Musiktheater⁺“

Es gehört auf den imaginären Gabentisch fürs restriktionsgeplagte Publikum (und die Macher), wenn heutzutage eine geplante Premiere stattfindet. In Kassel mit 2G und Test und Maske und reduzierter Zuschauerzahl. Zur Premiere des szenischen Weihnachtsoratoriums, das Jochen Biganzoli mithilfe seines eigenen Bühnenbildners Wolf Gutjahr in die Raumbühne „Pandaemonium“ von Sebastian Hannak hinein inszeniert hat, wirkt das Auditorium dennoch auf magische Weise belebt. Es gehört zu diesem „partizipativen Musiktheater⁺ mit Musik von Johann Sebastian Bach“, wie es im Untertitel heißt, dass Weihnachtsmann-Zipfelmützen verteilt werden, die im Dunkeln effektvoll vor sich hin blinken.

Einen riesigen, mehrdimensionalen Weihnachtsstern gibt es auch. Dort schrauben erst die Mitglieder des Bürgerchores (zusätzlich zum Profichor des Hauses) einige Glühbirnen ein. Am Ende vervollständigen Zuschauer die restlichen Fassungen. Gemeinsam wird aber nicht nur dafür gesorgt, dass allen das metaphorische Licht der Weihnacht tatsächlich aufgeht. Unter Anleitung von Kapellmeister Kiril Stankow wird der Choral „Ach mein herzliebes Jesulein, Mach dir ein rein sanft Bettelein“ gemeinsam gesungen.

Das Hotelzimmer auf der linken, die Küche auf der rechten Seite, das Fitnessstudio hinter dem auf der Hinterbühne platzierten Orchester und die großen Bildschirme eröffnen aber auch Räume, die christliche Weihnachtsbotschaft mit deren Überlagerung durch unsere Wirklichkeit zu konfrontieren. Dazu gehören die Spielarten der Vereinsamung. Die Frau (in der Alt-Partie: Ulrike Schneider) im Hotelzimmer bestellt sich einen smarten Callboy aufs Zimmer. Die Frau in der Küche gegenüber (Sopranistin Lin Lin Fan) bereitet ein großes Essen vor und bleibt vermutlich auch allein. Andrés Filipe Agudelo verlässt den Laufsteg in der Höhe und seine Evangelisten-Rolle für einen Ausflug ins Fitnessstudio. Und die finnische Bassbaritonistin Sam Taskinen verknüpft ihre Partie mit einem Exkurs über sich selbst – zu diversen Sprüchen wie „Meine Stimme ist eine Frauenstimme“ und einem Wechsel vom schlichten Anzug zum glamourösen Abendkleid. Dazu meist kriegerische Bilder vom Schauplatz der Weihnachtsgeschichte, wie er heute ist. Aber auch durch den Wechsel zum christlichen-syrischen Kanun-Spieler und Sänger Bassem Alkhouri mit seiner Version der Geschichte.

Nicht nur, wer über dem Orchester und den Akteuren platziert ist, findet sich so mittendrin in einer hinterfragenden und zugleich aufmunternden musikalischen Weihnachtseinstimmung. Dafür lohnt es allemal, die zeitbedingten Hürden zu überwinden.

Roberto Becker

„Weihnachtsoratorium“ // Partizipatives Musiktheater⁺ mit Musik von Johann Sebastian Bach (1734/35)

Kontrastiv

Gera / Theater Altenburg Gera (Dezember 2021)
Spannungsgeladener Doppelabend mit Taveners „A Gentle Spirit“ und Waltons „The Bear“

Gera / Theater Altenburg Gera (Dezember 2021)
Spannungsgeladener Doppelabend mit Taveners „A Gentle Spirit“ und Waltons „The Bear“

Bei allen Gemeinsamkeiten könnten die beiden Einakter unterschiedlicher nicht sein. Während sich John Taveners „A Gentle Spirit“ mit hermetischer Aura umgibt, serviert William Walton mit „The Bear“ eine ausgelassene Buffa. Zwei britische Komponisten des 20. Jahrhunderts greifen auf die Sujets zweier russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zurück. Das eine Werk thematisiert die Trauer über den Verlust der Ehefrau, das andere Triumph und Freuden der Witwenschaft.

„A Gentle Spirit“ beruht auf Dostojewskis Erzählung „Die Sanfte“. Der unehrenhaft aus dem Offiziersdienst entlassene und sozial zum Leihhausbesitzer herabgesunkene Alexei hält nach der Selbsttötung seiner Frau Anya Rückschau auf die Schlüsselsituationen seiner Ehe. Er hatte die viel jüngere, arme und gesellschaftlich weit unter ihm rangierende Kundin geheiratet, um Macht über sie auszuüben, zuletzt durch ihre vollständige Isolation. Taveners Musik schüttelt klangliche Muster durcheinander und beobachtet sie bei der Neuorganisation. Fortissimo-Ausbrüche im Schlagwerk wechseln mit tenoralen Exaltationen ab. Erinnerungsmotivisch kehrt das vom Band gespielte „Let my soul live“ der jungen Suizidalen wieder.

Hausherr und Regisseur Kay Kuntze stilisiert die Figuren. Die vokalen Eruptionen Alexeis verschaffen sich desto heftiger Bahn. Seine Frau Anya hingegen wandelt traumverloren durch den Ehekerker. Bühne und Kostüme von Benita Roth setzen auf strenge Schwarz-Weiß-Optik. Die Schauplätze werden mit wenigen Requisiten angedeutet. Ruben Gazarian koordiniert mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg Gera das meist Disparate und Gewollt-Asynchrone der Partitur. Nimmermüde und intensiv begibt sich Isaac Lee auf den tenoralen Höllenritt Alexeis. Miriam Zubieta beglaubigt darstellerisch und vokal die Verlorenheit Anyas.

So hätte sich denn ohne Pause der mentale Sprung in Waltons quirligen „The Bear“ kaum bewältigen lassen. Das auf Tschechows Einakter fußende Lustspiel um die ihren verblichenen und zu Lebzeiten stets auf außerehelichen Schlichen wandelnden Gatten durch vorbildliche Witwenschaft strafende Popowa, den bei ihren schrägen Trauerritualen assistierenden Diener Luka und den zunächst als Schuldeneintreiber zu ihr vordringenden, doch alsbald auf Freiersfüßen wandelnden Gutsbesitzernachbarn Smirnow gibt Kay Kuntze Gelegenheit, eine Art „Dinner for One“ auf die Bühne zu bringen, bei dem zu allem Überfluss ein Dritter hereinplatzt. Benita Roths Bühne und Kostüme kosten die Mixtur aus ebenso russischer wie britischer Skurrilität und Exzentrik detailliert und immer wieder überraschend aus. Ruben Gazarian lässt Charme und Pointen der anspielungsreichen und dabei sehr britischen Partitur aufblitzen. Bei Eva-Maria Wurlitzer mutiert darstellerisch und vokal Scheinheiligkeit zu Liebesleidenschaft. Johannes Beck verwandelt die Brutalität des Schuldeneintreibers in die Emphase des Galans. Kai Wefer als Luka schickt sich gemüthaft und vokal robust in die Eskapaden seiner schrillen Herrin.

Michael Kaminski

„A Gentle Spirit / The Bear“ (1977/1967) // Opern von John Tavener und William Walton

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Flugversuche

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Dezember 2021)
Ein Bühnenwunder mit Rimski-Korsakows „Die Nacht vor Weihnachten“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Dezember 2021)
Ein Bühnenwunder mit Rimski-Korsakows „Die Nacht vor Weihnachten“

Es ist ja nicht so, dass das vorweihnachtliche Flair russischer Märchenstoffe auf deutschen Opernbühnen nicht seinen Platz hätte. Aber ausgerechnet das Werk, das obendrein auch noch „Die Nacht vor Weihnachten“ heißt, kennt hierzulande kaum jemand. Das könnte sich jetzt ändern. Denn man kann sich kaum ein überzeugenderes Plädoyer für diesen 1895 uraufgeführten Vierakter von Nikolai Rimski-Korsakow zu dem von Nikolai Gogol inspirierten, selbstverfassten Libretto vorstellen, als die Inszenierung, die Christof Loy (Regie), Johannes Leiacker (Bühne) und Ursula Renzenbrink (Kostüme) jetzt in die Oper Frankfurt zaubern. Und die musikalisch mit der an diesem Haus üblichen Sorgfalt sowohl im Graben von Sebastian Weigle am Pult des Opern- und Museumsorchesters als auch von einem in den wichtigsten Rollen muttersprachlich bestückten Protagonisten-Ensemble umgesetzt wurde.

Wer mit Maske und Test zur 2G-Voraussetzung auf seinem Platz im nach Schachbrettmuster verkauften Saal angekommen ist, wird verzaubert. Vom ausufernden Märchen und der Komödie, von einer Luftakrobatik, wie man sie in dieser Qualität auch noch nicht gesehen hat, von einer packenden, süffigen Musik und von durchweg charismatischen Protagonisten. Das zentrale Liebespaar – die schöne Oksana (mit strahlender Höhe: Julia Muzychenko) und der Schmied Wakula (überzeugend: Georgy Vasiliev) – sind von einem Personaltableau umgeben, zu dem nicht nur die Dorfhonoratioren, der Teufel, eine Hexe und selbst die Zarin, sondern auch noch diverse Götter gehören. Den roten Faden durch die Turbulenzen der Geschichte liefert der Ausflug Wakulas an den Zarenhof (durch die Luft mit dem Teufel als Reisebegleiter), um dort ein Paar Schuhe der Herrscherin für Oksana zu ergattern, damit die ihn wie versprochen heiratet.

Viele Sympathien kann Enkelejda Shkoza mit vollem Einsatz der Hexe Solocha sichern. Wenn sie auf dem Besen reitet in der Show-Höhe, wenn sie ihre Freier gleich reihenweise in großen Säcken verschwinden lässt, auch auf dem Komödien-Boden und wenn sie kraftvoll singt sowieso.

Das Märchen hat natürlich auch einen satirischen doppelten Boden, dessen Einsichten Loy dezent mit vermittelt. Der Oper Frankfurt ist damit ein vorweihnachtlicher Coup gelungen, der ausgiebig bejubelt wurde.

Roberto Becker

„Ночь перед Рождеством“ („Die Nacht vor Weihnachten“) (1895) // Oper von Nikolai A. Rimski-Korsakow

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Liebesstrategin von Rang

Detmold / Landestheater Detmold (Dezember 2021)
Lehárs „Lustige Witwe“ manövriert Freund und Feind nach ihrem Gusto

Detmold / Landestheater Detmold (Dezember 2021)
Lehárs „Lustige Witwe“ manövriert Freund und Feind nach ihrem Gusto

Zu Beginn herrscht Trauer. Just zur Witwe geworden, sitzt die Glawari am Totenbett ihres verblichenen Gemahls, jenes Bankiers, den sie beerbt und ihm daher ihren phänomenalen Reichtum verdankt. Die Witwe nimmt Abschied, um zu neuen Ufern aufzubrechen, von Pontevedro nach Paris, wo sie im Umfeld der Botschaft ihres Heimatlandes durch einen betörend parfümierten Auftritt das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens umstandslos okkupiert und zur Sensation schlechthin wird. Vergessen jene Panzerattrappe, die der Gesandte einer mehr oder minder geneigten Öffentlichkeit zum Beweis der Wehrhaftigkeit seines Miniaturstaates präsentiert hatte, auf dass sich der böse Feind totlache. Doch ist für Pontevedro ohnehin nichts mehr zu holen, außer eben den Glawari-Millionen. Umsonst, wie heftig sich der für die Akquise ausersehene Graf Danilo diesem Dienst am Vaterland verweigert. Weil die Witwe des Grafen zu ihrem Liebes- und Lebensglück unbedingt bedarf, zermürbt sie ihn bis in dessen völlige Erschöpfung hinein. Um ans Ziel zu gelangen, bietet die Multimillionärin an Strategie und List auf, was immer den pontevedrinischen Streitkräften als leuchtendes Vorbild dienen könnte. Final schnarcht der zur Strecke gebrachte Lebemann völlig erschöpft in ihren Armen.

Regisseur Otto Pichler serviert dies alles mit dem Sensorium für die Titelfigur als dank des ererbten Riesenvermögens souveräner Frau, die sich mit Durchblick, dem Herzen auf dem richtigen Fleck und schlagfertig holt, wen oder was sie braucht. Die in die Jahre gekommene Pracht des düsteren Marmorsaals, den Jan Freese auf die Bühne stellt, zeigt sich wandlungsfähig und praktikabel; eine Flugzeug-Gangway sorgt für effektvolle Auftritte. Das Paillettentalmi seiner Kostüme versieht Falk Bauer mit spöttischen Aperçus.

Auch musikalisch gewinnt diese „Witwe“. Francesco Damiani hat den Chor des Hauses solide und verlässlich einstudiert. Raffinement pur lässt Hye Ryung Lee mit dem Symphonischen Orchester des Landestheaters aus dem Graben steigen. Genüsslich musizieren Kapellmeisterin und Symphoniker aus, was Lehár an Impressionistischem bei Debussy und Klangmagie bei Richard Strauss entlehnt. Die Walzerseligkeit steht dem nicht nach und fesch wird es auch. Beständig sitzt Dirigentin und Orchester der Schalk im Nacken.

Emily Dorn ist eine hinreißende Glawari. Ob Divenglanz oder Diseusen-Attitüde, Dorn bringt mit famosem Augenaufschlag ihre Partie vokal und darstellerisch auf den Punkt. Todd Boyce gibt einen grundsympathischen Danilo, der rasch auf die baritonal elegante Linie einschwenkt. Die Valencienne von Penelope Kendros nimmt durch vokale Anmut für sich ein. Stephen Chambers ist Camille de Rossillon. Andreas Jören bietet für seinen Zeta reichlich Bonhommie auf. Jens Krause ist ein Prachtexemplar von Njegus.

Michael Kaminski

„Die lustige Witwe“ (1905) // Operette von Franz Lehár

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Berlin, Berlin, Du heiße Braut!

Berlin / Stage Theater des Westens (Dezember 2021)
„Ku’damm 56 – Das Musical“ gerät zum Volltreffer mit Kultpotenzial

Berlin / Stage Theater des Westens (Dezember 2021)
„Ku’damm 56 – Das Musical“ gerät zum Volltreffer mit Kultpotenzial

„Ich habe noch nie in meinem Leben so schnell Ja gesagt. Ich kann das richtig schnell, wenn’s drauf ankommt“, erklärt Musiker Peter Plate lachend über den Moment, als er vor über drei Jahren gefragt wurde, ob er aus der erfolgreichen ZDF-Serie „Ku’damm 56“ ein Musical machen wolle. Drehbuchautorin Annette Hess vermittelt darin mit der Familiengeschichte der Berliner Tanzschule Schöllack authentisch, bewegend und unterhaltsam die gesellschaftliche Situation der fünfziger Jahre.

Geleitet wird die Schule von der dominanten, vollkommen im moralisch-spießigen Frauenbild der Nachkriegszeit verhafteten Caterina Schöllack. Ihre drei Töchter Eva, Helga und Monika stehen ständig unter dem moralischen Druck der Mutter und finden nur allmählich ihren eigenen Weg. Dabei leidet Monika, in Wirklichkeit das Ergebnis einer Affäre von Caterina, schwer unter den moralischen Aggressionen der Mutter. Trotzdem ist sie es, die am besten zu sich selbst findet. Auch durch die Begegnung mit der von ihrer Mutter als komplett unmoralisch kritisierten Welt des Rock ’n’ Roll, verkörpert durch den ehemaligen jüdischen KZ-Häftling Freddy.

Es ist ein Glücksfall, dass Annette Hess auch Autorin des Musicals ist. Mit knappen, in den Ablauf der Songs integrierten und auf den Punkt formulierten Dialog-Collagen gelingt es ihr, die Geschichte zügig voranzutreiben. Und Peter Plate landet mit den 22 Musical-Songs, gemeinsam mit Ulf Leo Sommer geschrieben, einen Volltreffer nach dem anderen. Zwei davon sind hitverdächtig: „Monika“ und „Berlin, Berlin“.

Natürlich gibt es fetzige Rock ’n’ Roll-Nummern, die ebenso fetzig getanzt und gesungen werden. Aber viele der Songs transportieren das Geschehen musikalisch in unsere Zeit („Rosenstolz“ lässt grüßen). Dennoch entstehen keine Differenzen zwischen der Fünfziger-Jahre-Geschichte und der Gegenwart. Denn Jugendliche müssen in jeder Zeit ihren eigenen Weg suchen. Und dass Mutter Caterina immer wieder ein wenig operettenhaft zu singen hat, verstärkt auf ironische Weise den Charakter dieser aus der Zeit gefallenen Persönlichkeit. Katja Uhlig legt dazu alleine durch die komplett verkrampft durchgestylte Körperhaltung eine herrlich persiflierende Mutter-Studie aufs Parkett. Und dass sie gut singen kann und auch klassisch-hohe Spitzentönte beherrscht, vervollständigt ihre herausragende Darstellung. Sandra Leitner lässt als Monika unter der virtuos gespielten verdrucksten Schüchternheit immer wieder das Temperament aufblitzen, das sich dann explosionsartig bei der Rock ’n’ Roll-Fete entlädt. Dabei kommt David Jakobs als Freddy schauspielerisch und sängerisch groß heraus. Es geht unter die Haut, wenn bei seinen Charme-Attacken auf Monika immer wieder auch sein KZ-Trauma durchbricht.

Zu den Stärken dieses Musicals gehört generell, dass die in den fünfziger Jahren repressiven Einstellungen zu Homosexualität, Kommunismus, Nazi-Vergangenheit und Kultur so in die Story eingebettet sind, dass immer das Gleichgewicht gewahrt bleibt: zwischen Weinen und Lachen, Tragik und Glück, zwischen intimen Szenen zu zweit und temperamentvollem Gesamtensemble, zwischen leisen Tönen und groovendem Megasound, zwischen Sprechen und Singen. Dafür wurde in der Premiere neben dem gesamten Bühnenensemble zurecht auch das Kreativ-Team gefeiert: Christoph Drewitz für das Gesamtkonzept einschließlich einer klug und gekonnt durchdachten Menschenführung; Jonathan Huor für seine Choreografie, die den szenischen Ablauf zum bewegenden wechselnden Tanz des Lebens werden lässt; Caspar Hachfeld für die facettenreiche musikalische Leitung des Ensembles und seiner großartig aufspielenden Combo; und Ausstatter Andrew D. Edwards für ein Bühnenbild, das durch technische Mobilität und ausgefeiltes Lichtdesign (Tim Deiling) immer wieder wechselnde Szenarien ermöglicht.

Dieses bewegende und zugleich unterhaltsame Musical hat das Zeug dazu, Kult zu werden. Hingehen!

Claus-Ulrich Heinke

„Ku’damm 56 – Das Musical“ (2021) // Musical von Annette Hess (Buch), Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Musik)

Infos und Tickets auf der Website von Stage Entertainment

„Eine Orgie lebendigster Narrheit“

Rouen / Opéra de Rouen Normandie (November 2021)
Rekonstruktion der Urfassung von Offenbachs „La vie parisienne“

Rouen / Opéra de Rouen Normandie (November 2021)
Rekonstruktion der Urfassung von Offenbachs „La vie parisienne“

Für Karl Kraus war „La vie parisienne“ „eine Orgie lebendigster Narrheit“ und Jacques Offenbachs „stärkster Geniebeweis“, weil ihm hier „die Verzauberung der aktuellsten Gegenwart“ gelang. Und das war die des Jahres 1866, als die Operette im Théâtre du Palais-Royale, einer Schauspielbühne, mit großem Erfolg herauskam. Allerdings hatten damals einige Schauspieler Schwierigkeiten, manche Nummern zu singen, sodass sie vom Komponisten noch während der Proben gestrichen und seitdem vergessen wurden.

Jetzt sind sie wieder aufgetaucht und erleben an der Opéra de Rouen Normandie ihre verspätete Uraufführung. Zu verdanken ist dies dem Palazzetto Bru Zane, einer Stiftung zur Pflege vergessener französischer Musik des 19. Jahrhunderts, die dank der Millionen einer großzügigen Mäzenatin und der Expertise ihres künstlerischen Leiters Alexandre Dratwicki in den letzten Jahren einige spektakuläre Ausgrabungen auf die Bühne gebracht hat. Gefunden haben er und seine Kollegen nicht nur „die Orchesterstimmen der Uraufführung und das Originallibretto“ von „La vie parisienne“, sondern auch „einen komplett anderen 4. Akt, neue Finali des 2. und 3. Akts, eine Arie des Urbain, eine ‚Don Giovanni‘-Pantomime nach Mozart und das ‚Trio diplomatique‘, in dem es darum geht, wer effektiver ist: Soldat oder Diplomat“.

So philologisch interessant also die Uraufführung dieser Urfassung auch ist, noch mehr Erwartungen weckt die Tatsache, dass Modeschöpfer Christian Lacroix Regie und Ausstattung übernommen hat. Er stellt ein schlichtes, aber effektvolles Halbrund in typischer Eisen-Glas-Konstruktion des 19. Jahrhunderts auf die Bühne und frönt seiner, wie er im Programmheft bekennt, „fast schon pathologischen Passion für historische Kostüme“. Und das ausgiebig: Männer mit gewaltigen Bärten und Frauen mit windschiefen Frisuren geben sich ein schräges Stelldichein, passend zur überdrehten Handlung. Da geben sich zwei Pariser Lebemänner als Fremdenführer aus, um eine schwedische Baronesse zu verführen, die mit ihrem Mann Paris besucht. Sie führen das Touristenpaar nach Strich und Faden an der Nase herum, kommen trotzdem nicht zum Zug, am Ende aber haben sich alle amüsiert.

In den ersten zwei Akten von Lacroix’ Inszenierung gibt es kaum Unterschiede zur üblichen Fassung – nur dass die Schweden Dänen sind, Schumacher Frick und Handschuhmacherin Gabrielle deutsch radebrechen und bei jeder Gelegenheit losjodeln, was im zweiten Finale ad absurdum geführt wird, wenn sie – im Bund mit den anderen deutschen Schuhmachern – der Bouillabaisse der derben Fischweiber aus Marseille deutsch Paroli bieten: „Sauerkraut mit Schink und Wurst, gibt mir immer, immer Durst!“ Ein grotesker Höhepunkt, von Florie Valiquette und Éric Huchet erzkomödiantisch ausgespielt. Überhaupt ist ein erstklassiges junges und spielfreudiges Ensemble aufgeboten, aus dem außerdem noch Aude Extrémo als Métella und Frank Leguérinel als Gondremarck herausragen. Nur aus dem Orchestergraben würde man sich von Romain Dumas manchmal mehr Leichtigkeit wünschen.

Und die kommt nach der Pause auch der Inszenierung etwas abhanden, was freilich vor allem am problematischen vierten Akt liegt, der schon bei der Uraufführung ernüchternd „wie Eiswasser“ gewirkt hat. Dabei hatte ihn Offenbach bereits während der Proben völlig umgekrempelt. Wie er ursprünglich geklungen hätte, ist jetzt in Rouen erstmals zu hören. Aber auch hier will er nicht recht zünden und so bleibt die grundsätzliche Frage, ob es 1866 nicht doch besser war, das Werk während der Proben umzuarbeiten. Macht es Sinn, Offenbachs eigene mühevolle Arbeit wieder rückgängig zu machen? Ist für die Operette nicht doch die Bühnenpraxis letztlich wichtiger als die Intentionen der Autoren? Und kann es in diesem Genre also überhaupt eine Urfassung geben?

Auch die Produktion in Rouen, so opulent und amüsant sie auch ist, kann darauf nur bedingt Antwort geben.

Dr. Stefan Frey

„La vie parisienne“ („Pariser Leben“) (1866) // Opéra bouffe von Jacques Offenbach in der rekonstruierten und seinerzeit unveröffentlichten Urfassung

Infos und Termine zu einer weiteren Vorstellungsserie am Théâtre des Champs-Elysées, Paris (21. Dezember 2021 bis 9. Januar 2022)

Dienst nach Vorschrift

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (November 2021)
Wagners „Tristan und Isolde“ mit der Anmutung von fader Pflichtübung

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (November 2021)
Wagners „Tristan und Isolde“ mit der Anmutung von fader Pflichtübung

Intendant Uwe Eric Laufenberg ist ein streitbarer Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Man mag dazu stehen, wie man will, durch seine strikte Parteinahme für die künstlerische Berufsfreiheit trotz Pandemie nimmt er eine notwendige Position im Meinungsspektrum ein. Als Regisseur freilich sorgt Laufenberg nun für Ennui. Offenbar handelt es sich nicht einfach um ein Misslingen, wie es auch dem versiertesten Regisseur passieren kann. Vielmehr kommt die Produktion daher, als würden der Spielleiter und sein Bühnenbildner Rolf Glittenberg demonstrativ unter ihren Möglichkeiten bleiben. Wer also nach einem „Tristan“ wie nach Dienstvorschrift sucht, wird in der hessischen Landeshauptstadt fündig.

Handwerklich sauber inszeniert Laufenberg ziemlich genau am Text entlang. Als Schlagobers dienen ihm – in der Liebesnacht – eine Isolde mit prächtiger Theaterkrone, weniger Wagner’sche Titelfigur als Corona-Queen, zudem kopulationswillige Paare in hautengen Trikots, im Schlussakt dann ein alsbald im Krankenhausbett sein Leben aushauchender Tristan-Doppelgänger, während der Held selbst von Andrea Schmidt-Futterer in Stoffbinden versenkt über die Bühne geistert. Final darf der Verblichene mit Isolde wohin auch immer schreiten. Zuvor freilich muss eine Kompanie Statisten ohne sonderliche choreografische Präzision in die Gruft sinken.

Berührendes ergibt sich beinahe aus Versehen, so im großen Liebesduett des zweiten Aktes voll intensiver, vor Mikrospannungen beinahe berstender Statik. Die aber weitgehend neutralisiert wird, weil sich im Hintergrund allerlei Kintopp abspult. Identifizierbar ist Q’orianka Kilcher als Pocahontas in „The New World“. Rolf Glittenbergs Bühnenbild beschränkt sich im Wesentlichen auf den farblich immer stimmig ausgeleuchteten Rundhorizont.

Musikalisch präsentiert sich die Produktion durchwachsen. Albert Horne lässt den Chor des Hessischen Staatstheaters undifferenziert durch die Gegend brüllen. Michael Güttler entlockt den Streichern des Hessischen Staatsorchesters so einiges an Klangrausch, die Holzbläser bleiben unspezifisch, das Blech dröhnt mit dem Chor um die Wette. Barbara Havemans Isolde läuft im Mittelakt zur Hochform auf. Sie phrasiert sinnfällig, die Stimme glüht. Marco Jentzsch steht die Torturen der Titelpartie mit vokaler Akkuratesse und im Schlussakt ebenso gesteigerter wie perfekt kontrollierter Emphase durch. Für einen Tristan ist die Stimme außerordentlich schlank, Farbpalette und Schattierungsmöglichkeiten halten sich in Grenzen. Khatuna Mikaberidze ist eine tieftraurig-poetische Brangäne. Thomas de Vries gibt einen soliden Kurwenal. Young Doo Park verströmt sich ebenso monumental wie balsamisch als Marke. 

Michael Kaminski

„Tristan und Isolde“ (1865) // Oper von Richard Wagner

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