Es gehört auf den imaginären Gabentisch fürs restriktionsgeplagte Publikum (und die Macher), wenn heutzutage eine geplante Premiere stattfindet. In Kassel mit 2G und Test und Maske und reduzierter Zuschauerzahl. Zur Premiere des szenischen Weihnachtsoratoriums, das Jochen Biganzoli mithilfe seines eigenen Bühnenbildners Wolf Gutjahr in die Raumbühne „Pandaemonium“ von Sebastian Hannak hinein inszeniert hat, wirkt das Auditorium dennoch auf magische Weise belebt. Es gehört zu diesem „partizipativen Musiktheater⁺ mit Musik von Johann Sebastian Bach“, wie es im Untertitel heißt, dass Weihnachtsmann-Zipfelmützen verteilt werden, die im Dunkeln effektvoll vor sich hin blinken.

Einen riesigen, mehrdimensionalen Weihnachtsstern gibt es auch. Dort schrauben erst die Mitglieder des Bürgerchores (zusätzlich zum Profichor des Hauses) einige Glühbirnen ein. Am Ende vervollständigen Zuschauer die restlichen Fassungen. Gemeinsam wird aber nicht nur dafür gesorgt, dass allen das metaphorische Licht der Weihnacht tatsächlich aufgeht. Unter Anleitung von Kapellmeister Kiril Stankow wird der Choral „Ach mein herzliebes Jesulein, Mach dir ein rein sanft Bettelein“ gemeinsam gesungen.

Das Hotelzimmer auf der linken, die Küche auf der rechten Seite, das Fitnessstudio hinter dem auf der Hinterbühne platzierten Orchester und die großen Bildschirme eröffnen aber auch Räume, die christliche Weihnachtsbotschaft mit deren Überlagerung durch unsere Wirklichkeit zu konfrontieren. Dazu gehören die Spielarten der Vereinsamung. Die Frau (in der Alt-Partie: Ulrike Schneider) im Hotelzimmer bestellt sich einen smarten Callboy aufs Zimmer. Die Frau in der Küche gegenüber (Sopranistin Lin Lin Fan) bereitet ein großes Essen vor und bleibt vermutlich auch allein. Andrés Filipe Agudelo verlässt den Laufsteg in der Höhe und seine Evangelisten-Rolle für einen Ausflug ins Fitnessstudio. Und die finnische Bassbaritonistin Sam Taskinen verknüpft ihre Partie mit einem Exkurs über sich selbst – zu diversen Sprüchen wie „Meine Stimme ist eine Frauenstimme“ und einem Wechsel vom schlichten Anzug zum glamourösen Abendkleid. Dazu meist kriegerische Bilder vom Schauplatz der Weihnachtsgeschichte, wie er heute ist. Aber auch durch den Wechsel zum christlichen-syrischen Kanun-Spieler und Sänger Bassem Alkhouri mit seiner Version der Geschichte.

Nicht nur, wer über dem Orchester und den Akteuren platziert ist, findet sich so mittendrin in einer hinterfragenden und zugleich aufmunternden musikalischen Weihnachtseinstimmung. Dafür lohnt es allemal, die zeitbedingten Hürden zu überwinden.

Roberto Becker

„Weihnachtsoratorium“ // Partizipatives Musiktheater⁺ mit Musik von Johann Sebastian Bach (1734/35)