Das Schiff Anthropocene ist mit seinem Eigner Harry King auf Expedition in der Arktis. Leiterin ist Prof. Prentice, ihr Ehemann Charles ist daran beteiligt. Kapitän Ross und sein Adlatus Vasco sind die Befehlsempfänger in dieser ungleichen Konstellation. Von Ross erfährt man, dass er sein letztes Schiff verloren hat. Er, Arktis-erfahren, betrachtet diese Fahrt als seine Rehabilitation. Zur Gruppe gehören noch ein Journalist namens Miles Black, der von Kings Ruhmestat berichten soll, sowie Kings Tochter Daisy, eine Fotografin. Der Auftrag: nach Beweisen für den Klimawandel zu suchen. Die Szene zeigt auf der linken Bühnenhälfte den Blick auf das schräge Vordeck des Schiffes. Die rechte Bühnenseite wird beherrscht von einem Eisberg, an dessen Vorfeld das Schiff angelegt hat (Ausstattung: Anna Schöttl).

So viel zur Ausgangsposition von Stuart MacRaes Oper „Anthropocene“, in der das Scheitern bereits angelegt ist. Das beginnt mit der Selbstdarstellung Harry Kings als scheinbar unwiderstehlichem Finanzmagnat. Der freilich, wie er selber zugibt, von Papas Geld lebt. Musik wie Inszenierung kennen bei ihm nur himmelhochjauchzende oder zu Tode betrübte Gemütshaltungen. Es setzt sich fort in der arroganten Haltung beider Wissenschaftler, deren Eitelkeit und Empathielosigkeit wissenschaftliche Neugier überstrahlt. Miles Black scheitert an seiner Hybris als Sensationsjournalist. Der Kapitän scheitert, weil er sich trotz richtiger Einsicht in die kommende Katastrophe nicht durchsetzen kann. Vascos Untergang resultiert aus seiner Unfähigkeit, sich gegen seinen Mörder Miles Black zu verteidigen.

Und dann ist da noch Ice. An ihr scheitern alle und deswegen die Expedition. Charles Prentice findet sie auf einem der Suchgänge. Er bringt einen großen Eisblock mit Inhalt zum Schiff, dem Ice entgleitet, eingefroren vor Urzeiten als Liebesopfer eines unbekannten Stammes, der sich so vor der drohenden Eiszeit rettet. Ihre Lebenszeichen nach dem Auftauen sind für alle die Sensation schlechthin. Black will seine Redaktion dafür interessieren, das Ehepaar Prentice sieht sich im Wissenschaftsolymp über Newton, Curie oder Darwin erhaben. Ross ist skeptisch, ängstlich. Er würde Ice am liebsten ins Meer werfen. Aber erstmal ist arktischer Winter und Überleben angesagt. In dieser Zeit lernen sich die Irdischen und Ice ein wenig kennen. Sie lernt erstaunlich schnell die ihr neue Sprache.

Musikalisch geht es hoch und vor allem laut her. Bevor sich die Akteure in ihren Positionen finden, gibt es diverse Rangeleien, besser Hahnenkämpfe um die Oberhoheit: z.B. Wissenschaft contra Kapitän und Bootseigner contra Kapitän. In beiden Fällen zieht Letzterer den Kürzeren. Da sind die Bielefelder Philharmoniker unter Gregor Rot quer durch die Instrumentierung, die durch Holz- und Blechbläser dominiert ist, stark gefordert. Denn wann immer es turbulent wird – und das wird es des Öfteren – wird es laut. Sehr laut. Das ist ein doppeltes Problem. Zum einen müssen die Sängerinnen und Sänger Erhebliches leisten, um einigermaßen hörbar über das Orchester zu kommen, zum andern fehlt es an Differenzierungen, um die Rollen zu charakterisieren. Wenn die Männer gegen- oder miteinander singen, tönt es einfach nur unangenehm. Den Frauen wird Höhe abverlangt. Die Begegnungen zwischen Professor Prentice und Ice oder deren Eiserzählung sind feinste lyrische Momente. Oder Ices „Wiedergeburt“: Sehr hohe Flageolett-Töne kommentieren ihre ersten Atemzüge und Seufzer, in den Streich- und Blasinstrumenten sind gewissermaßen irisierende Töne zu hören. Da gewinnt die ansonsten blasse Inszenierung (Maaike van Langen) Format.

Ein Wort noch zu den Kostümen: Verlangt war Arktisausrüstung, gezeigt wurde eine Wintermodenschau in der Arktis. Es wäre ungerecht, einzelne Akteure herauszuheben. Zu loben sind alle ob der Bravour, mit der sie die schweren Partien meistern.

Ulrich Schmidt

„Anthropocene“ („Die Frau aus dem Eis“) (2019) // Oper von Stuart MacRae