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Rezensionen

Ergreifendes Liebesdrama

Turin / Teatro Regio Torino (Februar 2024)
Verdis „Un ballo in maschera“ trefflich besetzt

Turin / Teatro Regio Torino (Februar 2024)
Verdis „Un ballo in maschera“ trefflich besetzt

Eigentlich dirigiert Riccardo Muti nur noch selten Oper, meist konzertant. Es sei denn, es bietet sich die Gelegenheit, mit einem Regisseur zusammenzuarbeiten, der sich passend zu seinem Verständnis in den Dienst der Musik stellt. Turin erweist sich dafür als ideales Pflaster. Dort bleibt die Einstudierung von Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ von Unsinnigkeiten verschont, die andere Opernhäuser einfordern. Wer darauf besteht, die Textpassage „Ulrica, dell’immondo sangue dei negri“ („Ulrica, vom unreinen Blut der Neger“) umzuformulieren oder zu streichen, hat nicht verstanden, dass sie dazu dient, den obersten Richter des Rassismus zu überführen. In Alla Pozniak, deren Mezzosopran nicht nur eine stupende Größe, sondern auch eine dunkle schöne Färbung besitzt, hat die Wahrsagerin eine ideale Sängerdarstellerin gefunden.

Ohne Transfer in die Gegenwart zeichnet Regisseur Andrea De Rosa das Liebesdrama um den Gouverneur Riccardo und Amelia, die Frau seines Sekretärs Renato, packend nach. Minutiös hat Muti mit dem Ensemble am Ausdruck jeder noch so kleinen Phrase gearbeitet. Zu den besonders starken Szenen zählt jene auf dem Galgenberg, in der Amelia auf der Suche nach dem Kraut, das sie von der unheilvollen Liebe erlösen soll, dem Drängen des Geliebten nicht länger widerstehen kann. 

Lidia Fridman ist eine Amelia mit imposanter Stimme. Ihr Vibrato mutet bisweilen ein wenig eng an, aber wie sie jedes Wort ihrer Arie „Morrò, ma prima in grazia“ durchlebt, in der sie darum fleht, ihren Sohn noch einmal sehen zu dürfen, rührt stark an. Der Riccardo von Piero Pretti ist die Entdeckung eines höhenaffinen, mit einer modulationsreichen Farbpalette in allen Lagen gut ansprechenden Tenors. Luca Micheletti lehrt als Renato das Fürchten, wenn er Verschwörer für sein blutiges Vorhaben einbestellt. Dazu hat Verdi Paukenwirbel im dreifachen Fortissimo notiert. Mit geballter Faust gibt Muti ihnen Gewicht, selten tönten sie derart furchterregend. Und das nach Renatos Cabaletta „Eri tu che macchiavi quell’anima“, die sich in gänzlich anderen Gefilden bewegte, im denkbar zärtlichsten Zwiegesang von Harfe und Flöte.

Die herausragende, bis in kleinste Nebenrollen trefflich besetzte Einstudierung korrespondiert auf ganzer Linie mit der stimmungsvollen szenischen Umsetzung. Auf Nicolas Boveys Bühne machen geschickte räumliche Verwandlungen Staunen: Von Zeit zu Zeit teilt sich der imposante Festsaal, in dem das Geschehen seinen Anfang nimmt, und ein atmosphärisch anderer Raum schiebt sich dazwischen. Der verdient umjubelte Turiner „Maskenball“ trägt folglich dem Anspruch Rechnung, den der mit Muti befreundete, verstorbene Giorgio Strehler einmal so formulierte: Dass eine Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur dann vollkommen ist, wenn ein guter Regisseur auch etwas vom Dirigieren und ein Dirigent vom Regieführen versteht.

Kirsten Liese

„Un ballo in maschera“ („Ein Maskenball“) (1859) // Melodramma von Giuseppe Verdi

Alles nur ein Traum!?

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2024)
Tschaikowskis „Pique Dame“ sehr reduziert

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2024)
Tschaikowskis „Pique Dame“ sehr reduziert

Der Wahnsinn entsteht im Kopf – und manchmal bleibt er auch da, wie in der Neuproduktion von Tschaikowskis vorletzter Oper „Pique Dame“. Mit seiner zweiten Regiearbeit in München fokussiert sich Regisseur Benedict Andrews auf den inneren Wahnsinn hinter dem Libretto. Er zeichnet einen durchwegs „irren“ Hermann und lässt auch sonst die äußerlich-typisierenden Merkmale seiner Protagonisten weitgehend verschwinden. Realistische Bühnenszenarien, historische Kontexte und etwa den Konflikt zwischen der russischen Gesellschaft und „dem Deutschen“ sucht man in seiner Inszenierung ebenfalls vergebens.

Was bleibt? Zunächst einmal nicht viel Erwartetes, mit dieser Bühne, die fast immer ein dunkles, leeres Loch ist und meist nur durch eindrucksvolle Lichtstimmungen (Jon Clark) belebt wird, agieren Lisa und Hermann in Glamour-Outfits und teilweise zwangsläufig halbszenisch. Es braucht etwas Zeit, sich auf Andrews Blickwinkel einzulassen, sich mit dieser düsteren, surrealen Traumfantasie anzufreunden, die auch manche Logik vermissen lässt.

Zum Erlebnis wird der Abend trotzdem, denn was da aus dem Orchestergraben heraufwabert an Beklemmendem und Beängstigendem, lässt auf- und zuhören. Der junge usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov am Pult des Bayerischen Staatsorchesters nutzt jede Gelegenheit, um an einem spannungsgeladenen Klangbild mit treibenden Tempi, stark gezeichneten Sequenzen und Rhythmen zu feilen. Dass vor allem am Anfang das Zusammenspiel mit dem Bayerischen Staatsopernchor nicht zu 100 Prozent funktioniert, schmälert den Gesamteindruck nicht.

Auch Brandon Jovanovichs Tenor klingt am Premierenabend manchmal angestrengt und technisch am Limit, was seinem Hermann-Rollenbild aber kurioserweise entgegenkommt. Dass die fabelhafte Asmik Grigorian „ihrer“ Lisa zwischen Liebe und Schmerz stimmlich den Stempel einer attraktiven, fanatischen Frau mit großen emotionalen Schwankungen aufdrückt, macht sie zur Idealbesetzung – bühnengroße Film-Nahaufnahmen vor Beginn jedes der sieben Bilder zum Star des Abends. Warum die gutaussehende junge Frau mit glänzender Zukunft den ihr ursprünglich zugedachten, smarten (und auch gesanglich hervorragend disponierten) Fürsten Jelezki alias Boris Pinkhasovich für einen unsympathischen Bad Guy verlässt, der selbst beim Liebesduett die Pistole nicht aus der Hand legt, bleibt aber ein Rätsel. Den stärksten Sänger-Schauspieler-Part des Abends hat Violeta Urmana als greise Gräfin, wenn sie mit warmem melancholischem Mezzo einer untergegangenen Welt nachtrauert, ihre Perücke abnimmt und glatzköpfig im kahlen Licht steht, ehe Hermann sie in einer halluzinatorischen Vision im düsteren Bühnen-Wasserloch ertränkt.

Das übrige Solisten-Ensemble, voran Victoria Karkacheva als Pailletten-Polina, Roman Burdenko als Tomski und Kevin Conners als Tschekanlinski, sind Teil einer eindrucksvollen musikalischen Gesamtleistung – und das, obwohl weder Regie noch Kostüm viel für sie übrig hat. Und wenn am Ende Lisa recht unspektakulär von der Brücke in ein – was sonst – dunkles Nichts im Bühnenhintergrund fällt und sich Hermann endlich selbst erschießt, ist man beinahe erleichtert. Alles nur ein Traum! 

Iris Steiner

„Пиковая дама“ („Pique Dame“) (1890) // Oper von Pjotr I. Tschaikowski

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

Gregor Samsas kleine Schwester

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2024)
Dvořáks „Rusalka“ in zwei Varianten

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2024)
Dvořáks „Rusalka“ in zwei Varianten

Kornél Mundruczós Neuinszenierung der „Rusalka“ präsentiert gleich zwei Deutungen des Stoffes: eine reale und eine surreale. Zunächst zeigt der Regisseur im Bühnenbild von Monika Pormale eine an sozialen Gegensätzen scheiternde Liebesgeschichte. Dvořáks Seejungfrau erscheint als Teenager, der mit drei Mitbewohnerinnen („Elfen“) und einem verlotterten Alt-68er („Wassermann“) in einer schäbigen Prekariats-Etagenwohnung haust. Sie ist unglücklich in den wohlhabenden Mieter („Prinz“) aus dem oberen Stockwerk verliebt. In ihrem Liebeskummer verkriecht sie sich in die Badewanne. Um Rusalka für ihren Märchenprinzen aufzuhübschen, verpasst ihr die Nachbarin (die „Hexe“ Ježibaba) einen Haarschnitt und ein schickes Kleid. Das ist plausibel. Unplausibel ist, dass dazu unter Einsatz von Trockeneisnebel ein Zaubertrank gebraut werden muss und sie dadurch sprachlos wird. Im zweiten Akt geht es statt an den Hof des Prinzen einfach ein Stockwerk höher in eine stylische Penthouse-Wohnung. Die hochnäsige Familie des Bräutigams mobbt dort das Unterschichtmädchen. Der Wassermann holt die Gescheiterte zurück in die Etagenwohnung. Damit könnte die Geschichte abgeschlossen sein.

Der letzte Akt präsentiert eine überraschend neue Deutung: Rusalka ist statt zum „Irrlicht“ zu einem riesigen, schwarzen, gliederfüßerartigen Insekt mutiert. Das Bühnenbild wechselt erneut die Etage, nun nach unten in den Keller. Elfen und Wassermann treten dort als verunstaltete Mutanten auf. Die Insekten-Rusalka schlängelt sich über den Boden und versetzt dem ihr gefolgten Prinzen tödliche Küsse. So geht durch die Inszenierung ein Bruch. Denn die aus Franz Kafkas „Verwandlung“ entlehnte Insekten-Metapher des existentiellen Fremdseins ist nicht deckungsgleich mit dem zunächst gezeigten Fremdsein des Prekariats-Mädchens in einer Oberschichten-Welt. Dabei harmoniert die Präsentation der Nixe als kleine Schwester von Gregor Samsa in ihrer Phantastik mit dem Stoff sogar besser als das Herunterbrechen des Märchens auf eine sozialkritisch aufgepolsterte Liebesgeschichte. Nicht zuletzt erzählt die Partitur, die Robin Ticciati mit der Staatskapelle Berlin farbig und atmosphärisch umsetzt, von einer verzauberten Welt, die in den ersten beiden Akten auf der Bühne nicht gezeigt wird.

Christiane Karg in der Titelpartie beglaubigt beide Regieansätze mit intensivem Spiel. Als zur Stummheit verdammte Außenseiterin überzeugt sie im zweiten Akt sogar tänzerisch (Choreografie: Candaş Baş). Nach einem ausbuchstabiert klingenden „Lied an den Mond“ findet sie intensive Töne für die zunehmende Verzweiflung ihrer Figur. Großartig gestaltet Mika Kares mit profundem Bass den Wassermann, saftige Mezzotöne hat Anna Kissjudit für die Ježibaba parat. Pavel Černoch bietet für den Prinzen solides Tenormaterial auf. Die „Fremde Fürstin“ der Anna Samuil wirkt dagegen zu hell timbriert und irritiert mit einigen schrillen Tönen in der Höhe. Die kleineren Partien sind sämtlich rollendeckend besetzt. Am Ende bleibt der Eindruck von einer musikalisch ordentlichen Aufführung mit disparaten Regieideen.

Dr. Michael Demel

„Rusalka“ (1901) // Lyrisches Märchen von Antonín Dvořák

Ungarisch-deutsche Rechtsruck-Dystopie

Regensburg / Theater Regensburg (Februar 2024)
Uraufführung der deutschen Fassung von Eötvös’ „Valuschka“

Regensburg / Theater Regensburg (Februar 2024)
Uraufführung der deutschen Fassung von Eötvös’ „Valuschka“

Sebastian Ritschel, Intendant des bald Staatstheater werdenden Regensburger Hauses, nennt „Valuschka“ die 14. Oper des gerade 80-jährigen Peter Eötvös. Die parallel entstandene ungarische Version (Oper Nummer 13) gelangte im Dezember 2023 in den Budapester Eiffel-Studios zur Uraufführung. Die Regensburger Uraufführung fand leider ohne den erkrankten Komponisten und den Übersetzer György Buda statt. Die jüngste Partitur eines der erfolgreichsten lebenden Opernkomponisten überrascht mit einem sich von vorausgegangenen Werken unterscheidenden Werkkolorit und einem formalen Ansatz, welcher immer wieder tonale Bezüge herstellt. Eötvös nennt seine Vertonung des von Kinga Keszthelyi und Mari Mezei scharf verknappten Librettos nach László Krasznahorkais auch verfilmtem Roman „Melancholie des Widerstands“ (1989) einen „Übergang zwischen Prosa-Theater und Oper als Theater“. Etwa 30 Prozent der deutschen Fassung sind anders komponiert als die ungarische.

In der Symmetrie der zwei gleich besetzten Orchestergruppen gibt es nur wenige Stellen von Opulenz und epischer Illustration. Das Philharmonische Orchester Regensburg unter GMD Stefan Veselka bleibt demzufolge immer in durch Zitate aus der abendländischen Musik gestützter Signal- und Alarmbereitschaft. Darüber entfalten sich Eötvös’ Gesangspartien prägnant, aber auch ausladend und virtuos: machtlüstern schaumschlagende Koloraturen für die ihre Ziele über einen grünen Umweg verfolgende Rechtspolitikerin Tünde (brillant: Kirsten Labonte), tastende Ariosi in kleineren Intervallen für den Außenseiter und im klinischen Gewahrsam kaltgestellten Träumer János Valuschka (sensibel bewegend: Benedikt Eder), kleinzellige Sprachmelodik à la Janáček für Valuschkas Mutter Frau Pflaum (auf dem dramatischen Punkt: Theodora Varga). Szenen- und Formklammer ist Eötvös’ souveränes Tonsatz-Geflecht für genau 28 Männerstimmen aus dem Chor und Gästen für den lostretenden Mob (Einstudierung: Harish Shankar).

Seit Beginn des Projekts 2019 ist in Europa viel passiert. Demzufolge erschließen sich Ereignisse, die durch die Ankunft eines Wanderzirkus mit dem größten ausgestopften Walfisch der Welt und einem dreiäugigen Prinzen in Gang kommen, aus west- und osteuropäischer Wahrnehmung verschieden. Eötvös steigert die Rätselhaftigkeit seines Plots nicht, bietet eher ein durch die Inszenierung und das Ensemble zu verdichtendes Konzentrat an Expression und linearer Entwicklung.

Inspiriert von den imposant verfallenden Heilstätten Beelitz hat Kristopher Kempf dazu einen bizarr-fantastischen Bühnenraum gesetzt. Pastellfarbene Graffiti überlagern Backsteinwände. Ritschels Kostüme steigern die Brüchigkeit: Frauenroben zwischen Pelz und Kittelschürze (für Svitlana Slyvias Bäuerin als starke Episodenfigur) und fast zu schöne königsblaue Uniformen. Sebastian Ritschels Personenführung ist von sorgfältiger Exaltation, nicht mehr realistisch und noch nicht Karikatur. Diese genau gesetzte Übertreibung steigert die Beklemmung, welche Krasznahorkai im Roman mit politischer Dimension und poetischen Drohgebärden aufbaut. Viel Applaus für eine Dystopie aus Eötvös’ meisterhafter Skelett-Partitur, einen Text wie literarische Nervennahrung und eine Inszenierung von kafkaesker Hintergründigkeit.

Roland H. Dippel

„Valuschka“ (2023/24) // Tragikomödie mit Musik, eine groteske Oper von Peter Eötvös (deutsche Fassung)

Infos und Termine auf der Website des Theaters Regensburg

„Mords“-Stunde im Marionettentheater

Salzburg / Mozartwoche (Januar 2024)
Rimski-Korsakows musikalischer Krimi „Mozart und Salieri“ tanzt an seidenen Fäden

Salzburg / Mozartwoche (Januar 2024)
Rimski-Korsakows musikalischer Krimi „Mozart und Salieri“ tanzt an seidenen Fäden

Manche Mythen und Legenden sind unverwüstlich. Zum Beispiel jene vom Giftmord Antonio Salieris am genialen Konkurrenten Wolfgang Amadeus Mozart. Dazu nicht unwesentlich beigetragen hat Nikolai Rimski-Korsakows 1898 erschienener Einakter „Mozart und Salieri“, in dem genau dieser wissenschaftlich längst widerlegte Unsinn zur Kriminalgeschichte hochstilisiert wird.

Die Wahrheit interessiert nur am Rande, viel wirkungsvoller ist die packende Erzählung. Und das ist ein Mord am vielleicht bedeutendsten kreativen Genie der Menschheitsgeschichte in jedem Fall. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin brachte das seit Jahrzehnten kursierende Gerücht bereits 1830 zu Papier, fünf Jahr nach Salieris Tod, als der greise Italiener in geistiger Umnachtung einen Mord gestanden haben soll. Allerdings hat sich niemand gefunden, der dieses Geständnis mit eigenen Ohren gehört hätte. Zudem war der eher als liebenswert und freundlich geltende Salieri wesentlich erfolgreicher als Mozart und hatte somit keinerlei Motiv, selbigen aus dem Weg zu räumen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später setzte Rimski-Korsakow noch eins drauf und „Mozart und Salieri“ wurde im Moskauer Solodownikow-Theater uraufgeführt. Damit lieferte er die Steilvorlage für Peter Shaffer und Miloš Forman, die mit dem Theaterstück „Amadeus“ und dem gleichnamigen Kinofilm die Mord-Theorie ein weiteres Mal in Stein meißelten.

Der musikalische Krimi aus der Feder Rimski-Korsakows ist ein düster-intimes Kammerspiel. Schlicht und übersichtlich instrumentiert, aber dennoch gewichtig – immerhin geht es um einen Giftmord und zugleich um die ewige Verdammnis eines Komponisten, der zur Kenntnis nehmen muss, dass „Genie und Verbrechen auf ewig unvereinbar sind“ (Mozart). Die Entscheidung der Stiftung Mozarteum, das Dramolett zusammen mit dem Salzburger Marionettentheater zu produzieren, erweist sich als goldrichtig. Denn durch das Spiel mit Puppen gewinnt das Drama an Leichtigkeit. Mozart und Salieri – an seidenen Fäden tanzend – sind nichts als Spiel und Traum. Der skurrile Kriminalfall darf getrost als das gesehen werden, was er ist: an den Haaren herbeigezogene Fantasie.

Das Träumen und Schmunzeln wird dem Mozartwochen-Publikum leicht gemacht, weil die Besetzung mit den Sängern und dem Kammerorchester, die eigens angefertigten Puppen und ihre geschickten Strippenzieher und nicht zuletzt die Regie des Stücks sowie das eigens für Salzburg kreierte Vorspiel ein stimmiges Ganzes ergeben. Matthias Bundschuh hat eine neue deutsche Fassung geschrieben und den rund 40-minütigen Einakter um die fiktive Figur Isora angereichert. Ekaterina Krasko legt der alternden Sängerin und Ex-Geliebten Salieris drei Arien aus dessen Opern mit kraftvoll-sauberem Sopran in den Puppenmund. Konstantin Igl gibt den Mozart mit schlankem Tenor, nur Bariton Brett Pruunsild als Salieri ist bei der Premiere nicht immer ganz so intonationssicher. Dafür agiert das elfköpfige Studierendenorchester der Universität Mozarteum Salzburg unter Kai Röhrig absolut mozartwochentauglich, sodass die „Mords“-Stunde im Marionettentheater wie im Fluge vergeht.

Christoph Lindenbauer

„Моцарт и Сальери“ („Mozart und Salieri“) (1898) // Oper von Nikolai Rimski-Korsakow mit einem Vorspiel von Matthias Bundschuh

Infos und Termine auf der Website der Mozartwoche

Das kleinere Übel

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Januar 2024)
Pures Vergnügen mit Offenbachs „Banditen“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Januar 2024)
Pures Vergnügen mit Offenbachs „Banditen“

Offenbachs „Banditen“ aus dem Jahre 1869 sind eher selten auf den Bühnen anzutreffen. Dabei ist der Großmeister der Operette mit seiner spritzig zündenden Musik hier ganz bei sich. Karsten Januschke bringt das relativ klein besetzte Frankfurter Opern- und Museumsorchester auf Touren und schafft es, seinem Publikum einen veritablen musikalischen Operetten- bzw. (korrekter) Opéra-bouffe-Schwips zu verpassen. Dem stellen sich Katharina Thoma (Regie), Etienne Pluss (Bühne), Irina Bartels (Kostüme) und vor allem Katharina Wiedenhofer (Choreografie) nicht in den Weg, sondern voll an die Seite. Timing und Rhythmus, mit denen das Ensemble bei der Sache ist, stimmen durchweg.

Gerard Schneider führt als Hauptmann Falsacappa seine Bande mit Tenorschmelz und darstellerischem Charisma wie ein Familienunternehmen. Elizabeth Reiter ist mit durchtriebenem Charme dessen Tochter Fiorella. Die verliebt sich in den ausgeraubten Bio-Bauern (!), der den Beruf wechselt. In dieser Hosenrolle geht Kelsey Lauritano als erstes gleich ein Kabinettskurier ins Netz, der einen Hochzeitsdeal zwischen den Höfen in Mantua und Granada (im Operetten-Europa haben die eine gemeinsame Grenze!) einfädeln soll. Mit den drei Millionen, die die Italiener den Spaniern in dem Zusammenhang (zurück-)zahlen sollen, wollen sich die Banditen selbst sanieren. Ein Plan, der die rechtschaffenen Banditen fast an den Galgen bringt …

Die Räuber hausen zunächst in einem Gebirgstal unter einer Autobahnbrücke an der Grenze zwischen Operetten-Spanien und Operetten-Italien. Dort befindet sich auch das Gasthaus, wo sie erst in die Rolle der Wirtsleute, dann der Italiener, schließlich der Spanier schlüpfen, um schließlich am schäbigen Hof von Mantua in deren Namen abzukassieren.

Bei der Erklärung, woher die Sympathie für die Räuber im Stück rührt, bedarf es kaum einer überdeutlichen Aktualisierung der Geschichte. Da reicht schon eine EU-Flagge und der Auftritt des korrupten italienischen Schatzmeisters. Für die berühmte Frage, was ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank sei, hat auch das Publikum der bundesdeutschen Bankenmetropole schlechthin natürlich seine eigene Antwort parat.

Da in Operetten-Herzogtümern nicht so schnell gehenkt wie betrogen wird, löst sich am Ende durch einen staatlichen Gnadenakt alles in Wohlgefallen auf. Jetzt wechseln die Räuber die Seiten. Oder nur in eine benachbarte Branche? Jedenfalls wissen wir am Ende, warum uns Falsacappa und Co. von Anfang an sympathischer waren als die diversen Hofschranzen und Schatzmeister. Das Publikum ist hochzufrieden.

Roberto Becker

„Les brigands“ („Die Banditen“) (1869) // Opéra bouffe von Jacques Offenbach in einer neuen deutschen Fassung von Katharina Thoma

Infos und Termine auf der Website der Oper Frankfurt

Oh Mann!

Oslo / Den Norske Opera (Januar 2024)
Tobias Kratzers Operntrilogie „Bluebeard’s Castle“ erkundet Rollenbilder

Oslo / Den Norske Opera (Januar 2024)
Tobias Kratzers Operntrilogie „Bluebeard’s Castle“ erkundet Rollenbilder

Béla Bartóks einzige Oper „Herzog Blaubarts Burg“ hat schon immer zu extremen Deutungen eingeladen. Es ist ja auch faszinierend, dass Judith wider besseres Wissen und gegen seine eigene Warnung der Faszination des eigenbrötlerischen Serienmörders in seinem unwirtlichen Schloss erliegt. Der ganz banale andere Grund, den Einakter in seiner enigmatischen Verschlossenheit in weitere Kontexte zu stellen, ist seine Kürze: Eine Stunde macht halt meist noch keinen vollen Abend im Musiktheater.

In Oslo hat nun Regisseur Tobias Kratzer den Psychokrimi gleich doppelt eingebettet in zwei Titel, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Robert Schumanns aus heutiger Sicht in seinem Frauenbild schwer zu ertragenden Liederzyklus „Frauenliebe und –leben“ als Prolog und nach einer Pause dann Alexander von Zemlinkys „Florentinische Tragödie“. Diese nur auf den ersten Blick erstaunliche Verbindung wird durch Kratzers Ansatz und Erzählkunst höchst sinnfällig: Er hinterfragt die Rollenbilder der Mann-Frau-Beziehung auf einer Zeitlinie vom Biedermeier bis heute, in einem kühlen, protzigen Atrium-Einheitsraum (Bühne: Rainer Sellmaier), vor dessen Hintergrund die Gefühle und die emotionale und körperliche Gewalt umso stärker wirken.

Zuerst also Schumann: Ingeborg Gillebo beginnt mit rundem, fließendem Mezzosopran die acht Lieder als Salon-Soirée und wird bald auch szenisch zur ergebenen „Magd“, die alle Demütigungen erträgt. Denn „er, der Herrlichste von allen“ hat sie erwählt, was tut es da schon, wenn er sie missachtet, dafür bestraft, nur Töchter zu gebären, achselzuckend sterben lässt. Denn Er dominiert schon stumm das Geschehen, John Lundgren, der später der florentinische Kaufmann Simone werden wird und zunächst Blaubart.

Hier erkundet Kratzer lustvoll und dicht das schnelle Wechselspiel der Fragen und der Macht zwischen dem therapiebedürftigen Hausherrn und seiner neuesten Eroberung Judith, von Dorottya Lang liebend, selbstbewusst, verzweifelt und impulsiv verkörpert. Mit wohlgerundeter, üppig blühender Stimme bei perfekter Diktion ragt sie als Sängerin an diesem Abend heraus.

Ob die völlige Durchleuchtung aller Seelenabgründe die Probleme toxischer Männlichkeit und überhaupt einer Beziehung löst? Natürlich nicht. Das wird dann auch sichtbar in Zemlinskys Tragödie nach Oscar Wildes Vorlage. Der Kaufmann Simone kehrt verfrüht heim und findet seine Frau Bianca mit ihrem Liebhaber Guido (beide exzellent: Tone Kummervold und Rodrigo Porras Garulo). Der offenbar aufgeklärte, über-tolerante Hausherr trägt lange eine geschäftstüchtige Freundlichkeit vor sich her, bis er seinen Nebenbuhler am Ende doch erdrosselt. Und Bianca? Ist endlich wieder richtig fasziniert von ihm, dem Mörder. Und da schließt sich der Kreis von Kratzers sinnlich-anregender Reise durch Jahrhunderte, Geschlechterrollen und musikalische Epochen.

Im Orchestergraben nimmt der neue Chefdirigent Edward Gardner der expressiven Musik Bartóks und Zemlinkys die Extreme, trotz feiner Einzelleistungen bleibt der Klang für dieses Orchester ungewohnt gefällig und stellenweise etwas pastos-pauschal. Kratzers präzise, dabei stets gegenüber jeder Figur empathische Erzählung und das Sängerensemble aber lohnen den Weg nach Oslo allemal.

Stephan Knies

„Bluebeard’s Castle“ // Operntrilogie bestehend aus Robert Schumanns „Frauenliebe und -leben“ (1840), Béla Bartóks „A kékszakállú herceg vára“ („Herzog Blaubarts Burg“) (entstanden 1911, uraufgeführt 1918) und Alexander von Zemlinskys „Eine florentinische Tragödie“ (1917)

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Lichtspieloper

Bielefeld / Theater Bielefeld (Januar 2024)
Live-Drawing für Honeggers „Johanna auf dem Scheiterhaufen“

Bielefeld / Theater Bielefeld (Januar 2024)
Live-Drawing für Honeggers „Johanna auf dem Scheiterhaufen“

Johanna steht. Sie steht auf dem Scheiterhaufen und sie steht vor Gericht. In einem großartigen musikalischen Gemälde hat Arthur Honegger das von Paul Claudel beschriebene Leben der Heiligen Jungfrau von Orléans vertont. In Bielefelds Rudolf-Oetker-Halle wird das Oratorium als „Lichtspieloper“ aufgeführt, mit Johanna Wokalek in der Titelrolle. Als Clou hat das Theater Bielefeld den Comic-Zeichner und Grafiker Reinhard Kleist verpflichtet. Parallel zur Aufführung fertigt er live Szenenskizzen an, deren Entstehen auf einem großen Bildschirm im Bühnenhintergrund zu verfolgen ist.

Es ist eng auf der Bühne, auf der neben dem Orchester auch die Chöre des Theaters stehen. Die zahlreichen Solisten singen in der szenischen Einrichtung von Wolfgang Nägele einerseits am linken Rand der Bühne, aber je nach Rollenverständnis auch von anderen Standorten aus. Rechts ist im Orchester ein Ondes Martenot platziert, jenes aus dem Theremin weiterentwickelte Instrument, mit dem elektronisch variable Töne erzeugt werden können. Demzufolge findet der Kinder- und Jugendchor auf dem linken Rang Platz.

Im Zentrum des Geschehens jedoch steht Johanna Wokalek. Sie steht die ganzen 90 Minuten durch. Denn es wird ja über sie verhandelt, gerichtet. Bruder Dominik (John Wesley Zielmann) ist ihr Gegenpart, der Episoden aus ihrem wahren Leben vorträgt. In diesen insgesamt drei Gesprächsteilen schweigt die Musik. Nicht aber z.B. in der Gerichtsverhandlung mit dem vorbestimmten Todesurteil. Der Vorsitzende Richter ist ein Schwein, die Beisitzer sind Schaf und Esel. Als Karikaturen im Text angelegt und so auch gezeichnet von Reinhard Kleist, erinnern sie an Honoré Daumier. Das Urteil stand vorher fest: Johanna soll mit dem Teufel im Bunde gewesen sein. Der Verdacht entsetzt sie. Sie bestreitet es. Vergeblich.

Wie es dazu kam, erklärt Bruder Dominik anhand der Erfindung des Kartenspiels. Dies ist die genialste Szene des Abends. Die Richter stehen am Zeichentisch von Reinhard Kleist. Und während er sich abmüht, die Szene auf Papier zu bannen, schieben die Richter die Karten mit den Abbildungen der Kriegsparteien hin und her, immer wieder neu mischend. Das ist auf dem Bildschirm im Hintergrund gut zu verfolgen. Selten wurde Machtpolitik so eindringlich dargestellt. Johanna, das einfache Mädchen aus Domrémy, versteht natürlich nichts. Sie ruft ihre Heiligen Katharina und Margarethe an. Aus deren Antwort versteht sie den Aufruf, den Dauphin nach Reims zu führen – was letztendlich ihren Untergang besiegelt. Die Frauenrollen Jungfrau (Veronika Lee), Margarethe (Mayan Goldenfeld) und Katharina (Freya Apffelstaedt) beeindrucken mit stimmlicher Intensität.

Musikalisch ist das Werk eine große Wundertüte, was aus der Entstehungszeit – 1934 – heraus zu verstehen ist. Mittelalterliches Mysterienspiel steht neben Stilelementen der 20er-Jahre-Revue, Chöre und Tänze aus Barock und Jazz werden ebenso verwendet wie Gregorianik und Volkslied. Von Honegger als erstem musikalisch eingesetzt, ist das Ondes Martenot zu Anfang und am Ende besonders deutlich zu hören. Bielefelds GMD Alexander Kalajdzic beherrscht den riesigen Aufwand – das Philharmonische Orchester, Chor, Extrachor, Kinder- und Jugendchor –, der zu dieser Aufführung notwendig ist, bestens. Die unterschiedlichen Stilelemente werden sorgsam herausgearbeitet, die Choreinsätze (Einstudierung: Hagen Enke) kommen exakt. Über allem aber steht Johanna Wokalek, die in dieser Rolle schon öfter aufgetreten ist. Es gelingt ihr, die unterschiedlichen Stimmungen der Johanna zu zeigen: Mut und Leidenschaft, Sehnsucht und Verzagtheit, Wut und Liebe. Der Applaus mündet in einem wohlverdienten Jubelsturm.

Ulrich Schmidt

„Jeanne d’Arc au bûcher“ („Johanna auf dem Scheiterhaufen“) (entstanden 1934/35; szenische Uraufführung 1942) // Dramatisches Oratorium von Arthur Honegger in der deutschen Fassung von Hans Reinhart

Infos und Termine auf der Website des Theaters Bielefeld

Ohne Hokuspokus

Rostock / Volkstheater Rostock (Januar 2024)
Lucy Landymores unterhaltsame Kinderoper „Der Zauberer von Oz“ zeigt eine moderne Heldin

Rostock / Volkstheater Rostock (Januar 2024)
Lucy Landymores unterhaltsame Kinderoper „Der Zauberer von Oz“ zeigt eine moderne Heldin

Nebelmaschine, Glitzerregen, technische Zaubereien – das alles braucht die knapp einstündige Kinderoper „Der Zauberer von Oz“ am Volkstheater Rostock nicht, um zu bezaubern. Sie ist ein in jeder Hinsicht ehrliches Stück Musiktheater, das mit seinen genuinen Bordmitteln Groß und Klein zugleich beglückt. Bei diesem „Musiktheater für alle“ handelt es sich um eine Koproduktion des Volkstheaters Rostock und der Opernfestspiele Heidenheim, wo im Sommer 2023 die Uraufführung in einem Zirkuszelt stattfand. Die Rostocker Version setzt nun auf die Intimität des kleinen Ateliertheaters. Mittendrin statt nur dabei, so die Devise. Ganz nah sitzen die Kinder am Geschehen und können mitten hinein in die fabelhafte Wunderwelt tauchen und mit Dorothy und ihren Freunden interagieren.

Der Librettist (und „orpheus“-Autor) Stephan Knies orientiert sich am Roman von Lyman Frank Baum und nicht an der Verfilmung mit Judy Garland. Durch kluge dramaturgische Setzungen gelingt ihm eine harmonische Spannungskurve. Lucy Landymores expressive Musik unterstützt dies, fordert den Musikerinnen und Musikern allerdings einiges ab.

Stimmlich überragend ist Leila Schütz, die in vier Rollen (Tante Em, Glinda, Hexe des Westens, Wärterin) brilliert. Auch Tobias Zepernick (Vogelscheuche) oder Jussi Juola (Löwe) vereinen Spielfreude und stimmliche Meisterschaft. Ein toller Twist ist es, den Blechmann als Schlagzeuger zu interpretieren – umso größer die Anforderungen an den Darsteller, der nicht nur ein exzellenter Perkussionist sein muss (wie die Komponistin Landymore), sondern auch ein veritabler Schauspieler und Sänger. Anton Thelemann erweist sich als Glücksfall für diese Produktion. Darstellerisch dominiert Margherita Campostrini als Dorothy die Bühne. Ihr gelingt das Kunststück, jenseits der archetypischen Judy-Garland-Dorothy eine eigene, moderne Heldin zu erschaffen.

Das Publikum erlebt in Rostock eine erfreulicherweise entstereotypisierte Lesart. Dorothy ist eine moderne Heldin im metallisch glitzernden Manga-Look mit Sailer-Moon-Buns, die Vogelscheuche schlüpft hingegen in Mieder und trägt verzierte Damenhüte. Für die lustvollen Kostüm- und Bühnenentwürfe ist das international renommierte Performance-Duo VestAndPage verantwortlich. Mit viel Liebe zum Detail zeichnen sie ein monotones Kansas, ein fabelhaftes Oz und bezaubernde Figuren. Regisseurin Christine Gegenbauer erzählt ein stimmungsvolles, rundes Märchen, das Spaß macht und die bekannten Vorlagen fast gänzlich vergessen lässt.

Ein tolles Stück zeitgenössisches Musiktheater, das Groß und Klein zugleich fasziniert und jenseits kitschiger Klischees intuitiv zugängige zeitgenössische Musik für Kinder anbietet. Die lebhaften Reaktionen der Kinder bestätigen: Es funktioniert!

Dr. Dimitra Will

„Der Zauberer von Oz“ (2023) // Musiktheater für alle von Lucy Landymore

Infos und Termine auf der Website des Volkstheaters Rostock

Bekehrung eines Grantlers

Füssen / Festspielhaus Neuschwanstein (Dezember 2023)
Ein Weihnachtsmusical nach Charles Dickens feiert die Kraft der Liebe

Füssen / Festspielhaus Neuschwanstein (Dezember 2023)
Ein Weihnachtsmusical nach Charles Dickens feiert die Kraft der Liebe

1843 entstand Charles Dickens’ Erzählung „A Christmas Carol“. Aus dieser vielfach verfilmten Weihnachtsgeschichte machten Komponist Dirk Michael Steffan und Autor Michael Tasche vor 22 Jahren das Musical „Vom Geist der Weihnacht“. Es lockte seither 700.000 Besucher in deutsche Theater.

Nun hat das Stück am Festspielhaus Neuschwanstein Premiere. Andächtige Feststimmung verbreitet hier vor allem der sensationell gelegene Theaterbau am Forggensee – am anderen Ufer leuchtet das Schloss Neuschwanstein unterm Sternenhimmel. Festspielhausdirektor Benjamin Sahler hingegen hält sich in seiner neuen Inszenierung zurück, was weihnachtlichen Prunk angeht – ganz im Einklang mit Dickens’ Geschichte, die unter der armen Bevölkerung Londons spielt.

Schikaniert werden die kleinen Händler und Handwerker von dem gierigen Pfandleiher Ebenezer Scrooge. Doch an Heiligabend bekommt Scrooge Besuch vom Geist seines untoten Freundes Marley. Der will ihn davon überzeugen, dass Liebe und Freude mehr wert sind als materielle Reichtümer.

Kristian Vetter ist als Scrooge eine echte Wuchtbrumme. „Weihnachten ist Rattendreck, schmeißt den ganzen Plunder weg“ schimpft er, um sich dann ausdrucksstark vom knausrigen Grantler in einen Wohltäter zu verwandeln. Jörg Hilger saust als durch und durch sympathischer Geist auf einer Art Lastenfahrrad mit Windmühlenantrieb umher. Misha Kovar als Bilderbuch-Engel, mit Goldlocken und weißglitzerndem Kleid, kommt ebenfalls mittels Windkraft angeschwebt. Darstellerisch hat so ein Engel ohnehin nicht viele Facetten. Doch auch stimmlich schwächelt Kovar, mit gekünstelter Tongebung und übermäßigem Vibrato. Liebevoll sind die Nebenfiguren gestaltet. Buchhalter Cratchit (Lutz Thase) friert sich am erkalteten Kamin die Finger ab und schiebt seinen hinkenden Sohn Timmy (Noah von Rom) auf der Sackkarre umher. Großen Applaus gibt es für Mrs. Fezziwig (Anja Wessel) und ihren virtuosen Kochrezepte-Rap. Sahlers detailfreudige Personenregie kommt jedoch nicht gegen das allzu rührselige Libretto an.

In sauber arrangierten Tableaus teilt die Londoner Bevölkerung Grüße und Geschenke aus. Stefanie Grönings Choreografien wirken ein wenig zahm. Nur als Geister dürfen die 17 Tänzer so richtig zeigen, was sie draufhaben. Als Kulissen kommen die Fassaden eines Londoner Marktplatzes schön zur Wirkung. Die Szenen in den Innenräumen, das weihnachtliche Familienfest oder Scrooges Schlafzimmer, wirken auf der riesigen Drehbühne aber etwas verloren.

Scrooge reist zusammen mit Marleys Geist und dem Engel durch seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bis er schließlich den Wert der Liebe erkennt. Die Geschichte seiner Bekehrung dauert etwa drei Stunden. Viel Zeit nehmen die gesprochenen, ziemlich kitschigen Dialoge ein. „Jeder hat das Recht auf Glück“ heißt es, oder „Deine Zukunft ist jetzt“. Da wird fest auf die Tränendrüse gedrückt.

Komponist Dirk Michael Steffan hat eine Partitur mit Synthesizer-lastiger Begleitung geschrieben, die aus der Konserve eingespielt wird. So können die durchaus ohrwurmtauglichen Lieder ihre volle Wirkung kaum entfalten, zumal der Gesang zu laut aus den Boxen wummert und die Instrumente überdeckt. Stilistisch gibt es ein Allerlei, das vom Militärmarsch und mittelalterlich anmutenden Tänzen über Anklänge an Mozart oder Weill bis hin zum Schlager reicht.

Anfangs will der Funke nicht recht überspringen. Doch nach der Pause kommt Stimmung im Saal auf. Am Ende feiert das Premierenpublikum die Beteiligten mit stürmischem Applaus.

Antje Rößler

„Der Geist der Weihnacht“ (Originaltitel: „Vom Geist der Weihnacht“) (2001) // Musical von Dirk Michael Steffan

Infos und Termine auf der Website des Festspielhauses Neuschwanstein