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Rezensionen

Unentschlossener Abgang

Passau / Landestheater Niederbayern (April 2024)
WesenAuers Vertonung von „April. Die Geschichte einer Liebe“ huldigt Joseph Roth

Passau / Landestheater Niederbayern (April 2024)
WesenAuers Vertonung von „April. Die Geschichte einer Liebe“ huldigt Joseph Roth

Niederbayerische Wagner-Erstaufführungen, Belcanto und ambitionierte Schauspielmusik: Auf dieser konsequenten Linie hat Stefan Tilch im 22. Jahr seiner Intendanz am Landestheater Niederbayern ein Libretto nach der Erzählung „April. Die Geschichte einer Liebe“ (1925) des aus Galizien stammenden Joseph Roth geschrieben. Nach dem gemeinsamen Erfolg einer Bühnenadaption von Roths „Hiob“ (2014) setzt Tilch für die Vertonung auch diesmal auf den oberösterreichischen Komponisten Peter WesenAuer. Die resultierende Oper kommt jetzt im Fürstbischöflichen Opernhaus Passau zur Uraufführung. Das Resultat ist ein üppiges Melodram mit nur wenigen Zwischentönen.

Der namenlose „Ich“-Protagonist ist weiß an Charakter, Anzug und Stimme. Die eine fassbare Geliebte, Anna, flieht „Ich“ wegen einer anderen fernen, dem Mädchen am Fenster. Letztere könnte alsbald an Schwindsucht und Lähmung sterben, behauptet Anna aus nur zu verständlicher Eifersucht. Die Pläne und Emotionen im launischen Monat sind also wechselhaft, aber „am 28. Mai weiß man bereits, was man will“. So redet es sich „Ich“ ein, gibt Anna den Laufpass und bekommt von seiner neuen Flamme kurz vor der Abreise nach Amerika ein Lächeln. Reinhild Buchmayer singt diese Partie strahlend.

In den Filmen von Florian Rödl kommt neben dem Aufführungsort mit nostalgischen Einstellungen auch New York ins Bild. Der Postdirektor (Edward Leach) und der Kellner Ignatz (Daniel-Erik Biel) erweisen sich dank ihrer Darsteller als außerordentlich wendig, gleichermaßen der Briefträger (Albin Ahl), der Reisende (Matthias Bein) und das gesamte Ensemble. Die Kostüme und das andeutende Bühnenbild halten Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels in Farbtönen von Erdbraun bis Cognac. Tilch organisiert Abläufe ohne tiefere Beweggründe. WesenAuers Partitur dazu ist durch und durch tonal. Zumeist jauchzt erst ein melodischer Streicherchor, über dem die Stimmen in wohlklangsatten Parallelen ausufern dürfen. Es folgen dann eine synkopische Tangofläche oder ein keck darein fahrendes Trompetensolo.

Apart wirkt zunächst der aus Joachim Vollraths Sprechstimme und Martin Mairingers Tenor zusammengesetzte „Ich“. Mairingers Tongebung ist vorbildlich betreffend gesanglicher Zielstrebigkeit, deutlicher Deklamation und gestischer Gestaltung. Henrike Henoch gibt eine herzensgute Anna mit inniger Lyrik ohne Proletarierinnen-Appeal, später mit hysterisch wirkenden Wortwiederholungen.

WesenAuer kennt die musikalischen Gesetzmäßigkeiten von Film und Theater genau und setzt diese Kenntnis für die Niederbayerische Philharmonie mit eloquentem Können ein. Keine Szene ist zu lang, keine Episodenfigur zu weitschweifig und alle – mit Ausnahme des abreisenden „Ich“ – scheinen sich in der Gemächlichkeit des Milieus bestens zu fühlen. Das Flirrende der Getriebenheit im April bleibt gemütlich. Dem Chor des Landestheaters Niederbayern unter Leitung von R. Florian Daniel und der Statisterie mit der Choreografie von Sunny Prasch gelingt eine sehr synergetische Zusammenarbeit. Das Publikum spendet am Ende großzügigen Applaus.

Roland H. Dippel

„April. Die Geschichte einer Liebe“ (2024) // Oper von Peter WesenAuer

Infos und Termine auf der Website des Landestheaters Niederbayern

Bis dass die Geburt uns scheidet …

Linz / Landestheater Linz (April 2024)
Reinhard Febels „Benjamin Button“ blickt auf ein Leben im Rückwärtsgang

Linz / Landestheater Linz (April 2024)
Reinhard Febels „Benjamin Button“ blickt auf ein Leben im Rückwärtsgang

Kaum fünf Minuten auf der Welt, verlangt er Whisky, Zigarren und den Sportteil der Zeitung. Benjamin Button erblickt 1860 in Baltimore das Licht der Welt – als Greis. Er nähert sich unaufhaltsam nicht etwa seinem Tod, sondern seiner Geburt, wird jünger und jünger, schwimmt gegen den Strom, ohne Wenn und Aber. Dieses so simple wie geniale Gedankenspiel brachte F. Scott Fitzgerald 1922 als Novelle zu Papier; ein Oscar-prämierter Hollywood-Film verankerte die Geschichte 2008 im popkulturellen Gedächtnis. Die Oper, die Reinhard Febel (*1952), langjähriger Kompositionsprofessor am Salzburger Mozarteum, jetzt für das Landestheater Linz komponiert hat, ist bereits die dritte Vertonung des Stoffes in nur 15 Jahren.

„Benjamin Button“ ist ein hochartifizielles, polystilistisches Werk geworden. Dafür weitet Febel als sein eigener Librettist den zeitlichen Rahmen des Originals, epochenübergreifend reicht Benjamin Buttons Schicksal vom Amerikanischen Bürger- bis zum Ausbruch des Koreakriegs. Ein Panorama von fast 100 Jahren, was sich musikalisch niederschlägt: Die schroffe, dann wieder lyrisch-anschmiegsame Tonsprache zitiert Spätromantik ebenso wie Jazz oder Schönberg. Die unerbittliche Uhr des Lebens tickt aus dem von Ingmar Beck virtuos dirigierten Bruckner Orchester Linz in Form einer Riesenratsche, wird aufgezogen und beschleunigt: „Memento mori“.

Man genießt diesen sinnig verwobenen Strom der Zeiten in 110 pausenlosen Minuten vielleicht nicht sonderlich, aber man hört und schaut gebannt hin. Besondere Hervorhebung verdient das Libretto, in dem Febel Metaphern des täglichen Sprachgebrauchs originell verkehrt und dabei weder feine Ironie noch eine gehörige Position Melancholie vermissen lässt. Intendant Hermann Schneider steuert für diese ganz eigentümliche Atmosphäre und das im Vergleich zu Fitzgerald um einige originelle Figuren wie „Kuscheltier-Götter“ erweiterte Ensemble eine bildstarke Regiearbeit bei, die auf Südstaaten-Ästhetik (Bühne: Dieter Richter) und in allererster Linie großartige Maskenverfremdung (Kostüme: Meentje Nielsen) setzt.

Wie bringt man eine Studie über die unerträgliche Zeit zwischen Werden und Vergehen zu emotionalem Gehör? Hier liegt die Crux des Abends: So überzeugend und ideenreich Martin Achrainer sich der Titelrolle annimmt, diese bleibt über weite Strecken doch mehr Kuriosum als Mensch, mehr Theaterparabel und „Alien“ als fühlender Ankerpunkt. Das ändert sich erst am Ende einer langen Reise, wenn Benjamin schrumpft und zu „Benji“ wird. Gabriel Federspieler, Jahrgang 2010, meistert seine durchaus stattliche Menge an Gesangspassagen nicht nur mit glasklarer Knabenstimme, er fängt das zunehmend konfuse Verhalten des verlöschenden „greisen Kindes“ darüber hinaus auch noch flatterhaft-unruhig und unglaublich detailliert ein: ein berührendes Abbild von Altersdemenz im Körper eines Kleinkinds.

Dieser Verlust trifft eine ganz besonders: Hildegard, erst die kindliche Spielgefährtin des noch alten Benjamin, später seine Frau in der Mitte beider Leben, dann sein „Tantchen“ und in letzter Konsequenz die „Granny“. „Wie zwei Himmelskörper ziehen wir aneinander vorbei“ – die Sehnsucht nach den wenigen Jahren im Einklang, sie schwingt immer mit in Carina Tybjerg Madsens schwül-wehmütigem Porträt einer bedingungslos Liebenden. „Auch vorwärts leben ist schwer“, das beweist ein engagiertes Ensemble in vielfältigen Partien, darunter die mythisch-imaginären „Kuscheltier-Götter“ (Sophie Bareis, Zuzana Petrasová, Martin Enger Holm, Felix Lodel), Michael Wagner als Benjamins Vater – pragmatisch denkender Geschäftsmann durch und durch –, Matthäus Schmidlechner in der Charakterrolle des Doktor Keene oder auch die beiden Zeitungsjungen (Jonathan Hartzendorf und Alexander York) als plakative Chronisten eines Jahrhunderts amerikanischer Sozialgeschichte.

„Woher gehe ich? Wohin komme ich?“ Fast neunzig Jahre alt, spielt Benjamin Button schließlich doch noch Ball, verlernt zu sprechen – und ein Baby nimmt Abschied.

Florian Maier

„Benjamin Button“ (2024) // Oper von Reinhard Febel

Infos und Termine auf der Website des Landestheaters Linz

Viva Italia, viva Gioconda!

Salzburg / Osterfestspiele Salzburg (März 2024)
Anna Netrebko feiert ihre Titelrolle

Salzburg / Osterfestspiele Salzburg (März 2024)
Anna Netrebko feiert ihre Titelrolle

Man kann darüber diskutieren, warum das bekannteste Werk von Puccini-Lehrer Amilcare Ponchielli nicht häufiger auf den Spielplänen zu finden ist. Musikalisch hat es durchaus Ohrwurm-Qualitäten und das nicht nur wegen der allegorischen Balletteinlage, dem „Tanz der Stunden“ im dritten Akt. Möglicherweise liegt es am großen Chor- und Orchester-Aufwand, möglicherweise auch an der nicht immer logischen, brutalen und aus der Zeit gefallenen Handlung (Libretto: Arrigo Boito unter dem Pseudonym „Tobia Gorrio“). In einer Art „Traviata“-Geschichte ist die Protagonistin, die Straßensängerin Gioconda, zwischen der Verpflichtung gegenüber ihrer blinden Mutter und der Liebe zum Matrosen Enzo hin- und hergerissen, obwohl der ihre Widersacherin Laura liebt. Gioconda überwindet die eigenen Gefühle, opfert sich selbst und verhilft Kontrahentin und Geliebtem zur Flucht.

Die Salzburger Version des britischen Regisseurs Oliver Mears verzichtet auf den Selbstmord der Protagonistin am Ende, stattdessen ersticht die ihren Peiniger, den Inquisitor. So richtig „retten“ kann Mears mit dieser Umdeutung das antiquierte Frauenbild aber nicht, vor allem setzt die Inszenierung keine weiteren großen Akzente und kommt vor allem in den ersten beiden Akten statisch und einfallslos daher.

Dass es trotzdem nicht langweilig wird, darf der großartigen musikalischen Leistung des Ensembles zugeschrieben werden. Anna Netrebkos Stimme ist prädestiniert für diese Titelrolle, ihre mittlere und tiefe Lage sind ein Ereignis, das mancher Altistin zur Ehre gereichen würde. Jonas Kaufmann als Enzo kann bei diesem Faszinosum nicht ganz mithalten, seine große Arie „Cielo e mar“ bleibt trotzdem ein Höhepunkt und vor allem im Forte klingt seine Stimme signifikant wie eh und je. Nur manchmal liegt eine Art „Schleier“ auf der Stimme, als wisse der Routinier um seine Kräfte und wie man einer solchen Herausforderung auch im fortgeschrittenen Tenor-Alter bis zum Schluss gerecht wird. Besonders hörbar wird das in den Duetten mit Eve-Maud Hubeaux als Laura, die als stimmliche Überraschung des Abends gelten kann. Luca Salsi ist ein Barnaba mit vokaler Präsenz, man hätte sich lediglich ein wenig mehr Spielfreude gewünscht. Agnieszka Rehlis singt und spielt die blinde Mutter eindrucksvoll mit gebotener Tragik, Tareq Nazmi ist ein stimmlich überzeugender Inquisitionsbeamter, wenngleich die Bedeutung seiner Figur von der Regie zu wenig beachtet wird.

Die zahlreichen, wunderschönen Chorpassagen lassen der Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia und der Bachchor Salzburg in perfekter Artikulation recht häufig aus dem Off ertönen. Aus musikalischer Sicht „leider“, im Hinblick auf die ulkige Kostümfundus-Ausstattung des Chors (Annemarie Woods) und den seltsam-lächerlich choreografierten Tanzeinlagen (Lucy Burge) ist das aber vielleicht ein Vorteil.

Insgesamt ist dieser Abend einer der Musik. Antonio Pappano legt mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia einen hochemotionalen, schwelgenden Klangteppich unter die krude Geschichte. Was der Regie nicht durchwegs gelingt, schafft die Musik: ausufernde Kantilenen, spritzige Piani, pointiertes Zusammenspiel mit den Solisten – Pappano feiert das Werk seines Landsmannes und „erzählt“ die Geschichte in einer Art, wie es vielleicht nur Italiener können. 

Iris Steiner

„La Gioconda“ (1876) // Oper von Amilcare Ponchielli

Infos und Termine auf der Website der Osterfestspiele Salzburg

Ergreifendes Liebesdrama

Turin / Teatro Regio Torino (Februar 2024)
Verdis „Un ballo in maschera“ trefflich besetzt

Turin / Teatro Regio Torino (Februar 2024)
Verdis „Un ballo in maschera“ trefflich besetzt

Eigentlich dirigiert Riccardo Muti nur noch selten Oper, meist konzertant. Es sei denn, es bietet sich die Gelegenheit, mit einem Regisseur zusammenzuarbeiten, der sich passend zu seinem Verständnis in den Dienst der Musik stellt. Turin erweist sich dafür als ideales Pflaster. Dort bleibt die Einstudierung von Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ von Unsinnigkeiten verschont, die andere Opernhäuser einfordern. Wer darauf besteht, die Textpassage „Ulrica, dell’immondo sangue dei negri“ („Ulrica, vom unreinen Blut der Neger“) umzuformulieren oder zu streichen, hat nicht verstanden, dass sie dazu dient, den obersten Richter des Rassismus zu überführen. In Alla Pozniak, deren Mezzosopran nicht nur eine stupende Größe, sondern auch eine dunkle schöne Färbung besitzt, hat die Wahrsagerin eine ideale Sängerdarstellerin gefunden.

Ohne Transfer in die Gegenwart zeichnet Regisseur Andrea De Rosa das Liebesdrama um den Gouverneur Riccardo und Amelia, die Frau seines Sekretärs Renato, packend nach. Minutiös hat Muti mit dem Ensemble am Ausdruck jeder noch so kleinen Phrase gearbeitet. Zu den besonders starken Szenen zählt jene auf dem Galgenberg, in der Amelia auf der Suche nach dem Kraut, das sie von der unheilvollen Liebe erlösen soll, dem Drängen des Geliebten nicht länger widerstehen kann. 

Lidia Fridman ist eine Amelia mit imposanter Stimme. Ihr Vibrato mutet bisweilen ein wenig eng an, aber wie sie jedes Wort ihrer Arie „Morrò, ma prima in grazia“ durchlebt, in der sie darum fleht, ihren Sohn noch einmal sehen zu dürfen, rührt stark an. Der Riccardo von Piero Pretti ist die Entdeckung eines höhenaffinen, mit einer modulationsreichen Farbpalette in allen Lagen gut ansprechenden Tenors. Luca Micheletti lehrt als Renato das Fürchten, wenn er Verschwörer für sein blutiges Vorhaben einbestellt. Dazu hat Verdi Paukenwirbel im dreifachen Fortissimo notiert. Mit geballter Faust gibt Muti ihnen Gewicht, selten tönten sie derart furchterregend. Und das nach Renatos Cabaletta „Eri tu che macchiavi quell’anima“, die sich in gänzlich anderen Gefilden bewegte, im denkbar zärtlichsten Zwiegesang von Harfe und Flöte.

Die herausragende, bis in kleinste Nebenrollen trefflich besetzte Einstudierung korrespondiert auf ganzer Linie mit der stimmungsvollen szenischen Umsetzung. Auf Nicolas Boveys Bühne machen geschickte räumliche Verwandlungen Staunen: Von Zeit zu Zeit teilt sich der imposante Festsaal, in dem das Geschehen seinen Anfang nimmt, und ein atmosphärisch anderer Raum schiebt sich dazwischen. Der verdient umjubelte Turiner „Maskenball“ trägt folglich dem Anspruch Rechnung, den der mit Muti befreundete, verstorbene Giorgio Strehler einmal so formulierte: Dass eine Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur dann vollkommen ist, wenn ein guter Regisseur auch etwas vom Dirigieren und ein Dirigent vom Regieführen versteht.

Kirsten Liese

„Un ballo in maschera“ („Ein Maskenball“) (1859) // Melodramma von Giuseppe Verdi

Alles nur ein Traum!?

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2024)
Tschaikowskis „Pique Dame“ sehr reduziert

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2024)
Tschaikowskis „Pique Dame“ sehr reduziert

Der Wahnsinn entsteht im Kopf – und manchmal bleibt er auch da, wie in der Neuproduktion von Tschaikowskis vorletzter Oper „Pique Dame“. Mit seiner zweiten Regiearbeit in München fokussiert sich Regisseur Benedict Andrews auf den inneren Wahnsinn hinter dem Libretto. Er zeichnet einen durchwegs „irren“ Hermann und lässt auch sonst die äußerlich-typisierenden Merkmale seiner Protagonisten weitgehend verschwinden. Realistische Bühnenszenarien, historische Kontexte und etwa den Konflikt zwischen der russischen Gesellschaft und „dem Deutschen“ sucht man in seiner Inszenierung ebenfalls vergebens.

Was bleibt? Zunächst einmal nicht viel Erwartetes, mit dieser Bühne, die fast immer ein dunkles, leeres Loch ist und meist nur durch eindrucksvolle Lichtstimmungen (Jon Clark) belebt wird, agieren Lisa und Hermann in Glamour-Outfits und teilweise zwangsläufig halbszenisch. Es braucht etwas Zeit, sich auf Andrews Blickwinkel einzulassen, sich mit dieser düsteren, surrealen Traumfantasie anzufreunden, die auch manche Logik vermissen lässt.

Zum Erlebnis wird der Abend trotzdem, denn was da aus dem Orchestergraben heraufwabert an Beklemmendem und Beängstigendem, lässt auf- und zuhören. Der junge usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov am Pult des Bayerischen Staatsorchesters nutzt jede Gelegenheit, um an einem spannungsgeladenen Klangbild mit treibenden Tempi, stark gezeichneten Sequenzen und Rhythmen zu feilen. Dass vor allem am Anfang das Zusammenspiel mit dem Bayerischen Staatsopernchor nicht zu 100 Prozent funktioniert, schmälert den Gesamteindruck nicht.

Auch Brandon Jovanovichs Tenor klingt am Premierenabend manchmal angestrengt und technisch am Limit, was seinem Hermann-Rollenbild aber kurioserweise entgegenkommt. Dass die fabelhafte Asmik Grigorian „ihrer“ Lisa zwischen Liebe und Schmerz stimmlich den Stempel einer attraktiven, fanatischen Frau mit großen emotionalen Schwankungen aufdrückt, macht sie zur Idealbesetzung – bühnengroße Film-Nahaufnahmen vor Beginn jedes der sieben Bilder zum Star des Abends. Warum die gutaussehende junge Frau mit glänzender Zukunft den ihr ursprünglich zugedachten, smarten (und auch gesanglich hervorragend disponierten) Fürsten Jelezki alias Boris Pinkhasovich für einen unsympathischen Bad Guy verlässt, der selbst beim Liebesduett die Pistole nicht aus der Hand legt, bleibt aber ein Rätsel. Den stärksten Sänger-Schauspieler-Part des Abends hat Violeta Urmana als greise Gräfin, wenn sie mit warmem melancholischem Mezzo einer untergegangenen Welt nachtrauert, ihre Perücke abnimmt und glatzköpfig im kahlen Licht steht, ehe Hermann sie in einer halluzinatorischen Vision im düsteren Bühnen-Wasserloch ertränkt.

Das übrige Solisten-Ensemble, voran Victoria Karkacheva als Pailletten-Polina, Roman Burdenko als Tomski und Kevin Conners als Tschekanlinski, sind Teil einer eindrucksvollen musikalischen Gesamtleistung – und das, obwohl weder Regie noch Kostüm viel für sie übrig hat. Und wenn am Ende Lisa recht unspektakulär von der Brücke in ein – was sonst – dunkles Nichts im Bühnenhintergrund fällt und sich Hermann endlich selbst erschießt, ist man beinahe erleichtert. Alles nur ein Traum! 

Iris Steiner

„Пиковая дама“ („Pique Dame“) (1890) // Oper von Pjotr I. Tschaikowski

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

Gregor Samsas kleine Schwester

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2024)
Dvořáks „Rusalka“ in zwei Varianten

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2024)
Dvořáks „Rusalka“ in zwei Varianten

Kornél Mundruczós Neuinszenierung der „Rusalka“ präsentiert gleich zwei Deutungen des Stoffes: eine reale und eine surreale. Zunächst zeigt der Regisseur im Bühnenbild von Monika Pormale eine an sozialen Gegensätzen scheiternde Liebesgeschichte. Dvořáks Seejungfrau erscheint als Teenager, der mit drei Mitbewohnerinnen („Elfen“) und einem verlotterten Alt-68er („Wassermann“) in einer schäbigen Prekariats-Etagenwohnung haust. Sie ist unglücklich in den wohlhabenden Mieter („Prinz“) aus dem oberen Stockwerk verliebt. In ihrem Liebeskummer verkriecht sie sich in die Badewanne. Um Rusalka für ihren Märchenprinzen aufzuhübschen, verpasst ihr die Nachbarin (die „Hexe“ Ježibaba) einen Haarschnitt und ein schickes Kleid. Das ist plausibel. Unplausibel ist, dass dazu unter Einsatz von Trockeneisnebel ein Zaubertrank gebraut werden muss und sie dadurch sprachlos wird. Im zweiten Akt geht es statt an den Hof des Prinzen einfach ein Stockwerk höher in eine stylische Penthouse-Wohnung. Die hochnäsige Familie des Bräutigams mobbt dort das Unterschichtmädchen. Der Wassermann holt die Gescheiterte zurück in die Etagenwohnung. Damit könnte die Geschichte abgeschlossen sein.

Der letzte Akt präsentiert eine überraschend neue Deutung: Rusalka ist statt zum „Irrlicht“ zu einem riesigen, schwarzen, gliederfüßerartigen Insekt mutiert. Das Bühnenbild wechselt erneut die Etage, nun nach unten in den Keller. Elfen und Wassermann treten dort als verunstaltete Mutanten auf. Die Insekten-Rusalka schlängelt sich über den Boden und versetzt dem ihr gefolgten Prinzen tödliche Küsse. So geht durch die Inszenierung ein Bruch. Denn die aus Franz Kafkas „Verwandlung“ entlehnte Insekten-Metapher des existentiellen Fremdseins ist nicht deckungsgleich mit dem zunächst gezeigten Fremdsein des Prekariats-Mädchens in einer Oberschichten-Welt. Dabei harmoniert die Präsentation der Nixe als kleine Schwester von Gregor Samsa in ihrer Phantastik mit dem Stoff sogar besser als das Herunterbrechen des Märchens auf eine sozialkritisch aufgepolsterte Liebesgeschichte. Nicht zuletzt erzählt die Partitur, die Robin Ticciati mit der Staatskapelle Berlin farbig und atmosphärisch umsetzt, von einer verzauberten Welt, die in den ersten beiden Akten auf der Bühne nicht gezeigt wird.

Christiane Karg in der Titelpartie beglaubigt beide Regieansätze mit intensivem Spiel. Als zur Stummheit verdammte Außenseiterin überzeugt sie im zweiten Akt sogar tänzerisch (Choreografie: Candaş Baş). Nach einem ausbuchstabiert klingenden „Lied an den Mond“ findet sie intensive Töne für die zunehmende Verzweiflung ihrer Figur. Großartig gestaltet Mika Kares mit profundem Bass den Wassermann, saftige Mezzotöne hat Anna Kissjudit für die Ježibaba parat. Pavel Černoch bietet für den Prinzen solides Tenormaterial auf. Die „Fremde Fürstin“ der Anna Samuil wirkt dagegen zu hell timbriert und irritiert mit einigen schrillen Tönen in der Höhe. Die kleineren Partien sind sämtlich rollendeckend besetzt. Am Ende bleibt der Eindruck von einer musikalisch ordentlichen Aufführung mit disparaten Regieideen.

Dr. Michael Demel

„Rusalka“ (1901) // Lyrisches Märchen von Antonín Dvořák

Ungarisch-deutsche Rechtsruck-Dystopie

Regensburg / Theater Regensburg (Februar 2024)
Uraufführung der deutschen Fassung von Eötvös’ „Valuschka“

Regensburg / Theater Regensburg (Februar 2024)
Uraufführung der deutschen Fassung von Eötvös’ „Valuschka“

Sebastian Ritschel, Intendant des bald Staatstheater werdenden Regensburger Hauses, nennt „Valuschka“ die 14. Oper des gerade 80-jährigen Peter Eötvös. Die parallel entstandene ungarische Version (Oper Nummer 13) gelangte im Dezember 2023 in den Budapester Eiffel-Studios zur Uraufführung. Die Regensburger Uraufführung fand leider ohne den erkrankten Komponisten und den Übersetzer György Buda statt. Die jüngste Partitur eines der erfolgreichsten lebenden Opernkomponisten überrascht mit einem sich von vorausgegangenen Werken unterscheidenden Werkkolorit und einem formalen Ansatz, welcher immer wieder tonale Bezüge herstellt. Eötvös nennt seine Vertonung des von Kinga Keszthelyi und Mari Mezei scharf verknappten Librettos nach László Krasznahorkais auch verfilmtem Roman „Melancholie des Widerstands“ (1989) einen „Übergang zwischen Prosa-Theater und Oper als Theater“. Etwa 30 Prozent der deutschen Fassung sind anders komponiert als die ungarische.

In der Symmetrie der zwei gleich besetzten Orchestergruppen gibt es nur wenige Stellen von Opulenz und epischer Illustration. Das Philharmonische Orchester Regensburg unter GMD Stefan Veselka bleibt demzufolge immer in durch Zitate aus der abendländischen Musik gestützter Signal- und Alarmbereitschaft. Darüber entfalten sich Eötvös’ Gesangspartien prägnant, aber auch ausladend und virtuos: machtlüstern schaumschlagende Koloraturen für die ihre Ziele über einen grünen Umweg verfolgende Rechtspolitikerin Tünde (brillant: Kirsten Labonte), tastende Ariosi in kleineren Intervallen für den Außenseiter und im klinischen Gewahrsam kaltgestellten Träumer János Valuschka (sensibel bewegend: Benedikt Eder), kleinzellige Sprachmelodik à la Janáček für Valuschkas Mutter Frau Pflaum (auf dem dramatischen Punkt: Theodora Varga). Szenen- und Formklammer ist Eötvös’ souveränes Tonsatz-Geflecht für genau 28 Männerstimmen aus dem Chor und Gästen für den lostretenden Mob (Einstudierung: Harish Shankar).

Seit Beginn des Projekts 2019 ist in Europa viel passiert. Demzufolge erschließen sich Ereignisse, die durch die Ankunft eines Wanderzirkus mit dem größten ausgestopften Walfisch der Welt und einem dreiäugigen Prinzen in Gang kommen, aus west- und osteuropäischer Wahrnehmung verschieden. Eötvös steigert die Rätselhaftigkeit seines Plots nicht, bietet eher ein durch die Inszenierung und das Ensemble zu verdichtendes Konzentrat an Expression und linearer Entwicklung.

Inspiriert von den imposant verfallenden Heilstätten Beelitz hat Kristopher Kempf dazu einen bizarr-fantastischen Bühnenraum gesetzt. Pastellfarbene Graffiti überlagern Backsteinwände. Ritschels Kostüme steigern die Brüchigkeit: Frauenroben zwischen Pelz und Kittelschürze (für Svitlana Slyvias Bäuerin als starke Episodenfigur) und fast zu schöne königsblaue Uniformen. Sebastian Ritschels Personenführung ist von sorgfältiger Exaltation, nicht mehr realistisch und noch nicht Karikatur. Diese genau gesetzte Übertreibung steigert die Beklemmung, welche Krasznahorkai im Roman mit politischer Dimension und poetischen Drohgebärden aufbaut. Viel Applaus für eine Dystopie aus Eötvös’ meisterhafter Skelett-Partitur, einen Text wie literarische Nervennahrung und eine Inszenierung von kafkaesker Hintergründigkeit.

Roland H. Dippel

„Valuschka“ (2023/24) // Tragikomödie mit Musik, eine groteske Oper von Peter Eötvös (deutsche Fassung)

Infos und Termine auf der Website des Theaters Regensburg

„Mords“-Stunde im Marionettentheater

Salzburg / Mozartwoche (Januar 2024)
Rimski-Korsakows musikalischer Krimi „Mozart und Salieri“ tanzt an seidenen Fäden

Salzburg / Mozartwoche (Januar 2024)
Rimski-Korsakows musikalischer Krimi „Mozart und Salieri“ tanzt an seidenen Fäden

Manche Mythen und Legenden sind unverwüstlich. Zum Beispiel jene vom Giftmord Antonio Salieris am genialen Konkurrenten Wolfgang Amadeus Mozart. Dazu nicht unwesentlich beigetragen hat Nikolai Rimski-Korsakows 1898 erschienener Einakter „Mozart und Salieri“, in dem genau dieser wissenschaftlich längst widerlegte Unsinn zur Kriminalgeschichte hochstilisiert wird.

Die Wahrheit interessiert nur am Rande, viel wirkungsvoller ist die packende Erzählung. Und das ist ein Mord am vielleicht bedeutendsten kreativen Genie der Menschheitsgeschichte in jedem Fall. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin brachte das seit Jahrzehnten kursierende Gerücht bereits 1830 zu Papier, fünf Jahr nach Salieris Tod, als der greise Italiener in geistiger Umnachtung einen Mord gestanden haben soll. Allerdings hat sich niemand gefunden, der dieses Geständnis mit eigenen Ohren gehört hätte. Zudem war der eher als liebenswert und freundlich geltende Salieri wesentlich erfolgreicher als Mozart und hatte somit keinerlei Motiv, selbigen aus dem Weg zu räumen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später setzte Rimski-Korsakow noch eins drauf und „Mozart und Salieri“ wurde im Moskauer Solodownikow-Theater uraufgeführt. Damit lieferte er die Steilvorlage für Peter Shaffer und Miloš Forman, die mit dem Theaterstück „Amadeus“ und dem gleichnamigen Kinofilm die Mord-Theorie ein weiteres Mal in Stein meißelten.

Der musikalische Krimi aus der Feder Rimski-Korsakows ist ein düster-intimes Kammerspiel. Schlicht und übersichtlich instrumentiert, aber dennoch gewichtig – immerhin geht es um einen Giftmord und zugleich um die ewige Verdammnis eines Komponisten, der zur Kenntnis nehmen muss, dass „Genie und Verbrechen auf ewig unvereinbar sind“ (Mozart). Die Entscheidung der Stiftung Mozarteum, das Dramolett zusammen mit dem Salzburger Marionettentheater zu produzieren, erweist sich als goldrichtig. Denn durch das Spiel mit Puppen gewinnt das Drama an Leichtigkeit. Mozart und Salieri – an seidenen Fäden tanzend – sind nichts als Spiel und Traum. Der skurrile Kriminalfall darf getrost als das gesehen werden, was er ist: an den Haaren herbeigezogene Fantasie.

Das Träumen und Schmunzeln wird dem Mozartwochen-Publikum leicht gemacht, weil die Besetzung mit den Sängern und dem Kammerorchester, die eigens angefertigten Puppen und ihre geschickten Strippenzieher und nicht zuletzt die Regie des Stücks sowie das eigens für Salzburg kreierte Vorspiel ein stimmiges Ganzes ergeben. Matthias Bundschuh hat eine neue deutsche Fassung geschrieben und den rund 40-minütigen Einakter um die fiktive Figur Isora angereichert. Ekaterina Krasko legt der alternden Sängerin und Ex-Geliebten Salieris drei Arien aus dessen Opern mit kraftvoll-sauberem Sopran in den Puppenmund. Konstantin Igl gibt den Mozart mit schlankem Tenor, nur Bariton Brett Pruunsild als Salieri ist bei der Premiere nicht immer ganz so intonationssicher. Dafür agiert das elfköpfige Studierendenorchester der Universität Mozarteum Salzburg unter Kai Röhrig absolut mozartwochentauglich, sodass die „Mords“-Stunde im Marionettentheater wie im Fluge vergeht.

Christoph Lindenbauer

„Моцарт и Сальери“ („Mozart und Salieri“) (1898) // Oper von Nikolai Rimski-Korsakow mit einem Vorspiel von Matthias Bundschuh

Infos und Termine auf der Website der Mozartwoche

Das kleinere Übel

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Januar 2024)
Pures Vergnügen mit Offenbachs „Banditen“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Januar 2024)
Pures Vergnügen mit Offenbachs „Banditen“

Offenbachs „Banditen“ aus dem Jahre 1869 sind eher selten auf den Bühnen anzutreffen. Dabei ist der Großmeister der Operette mit seiner spritzig zündenden Musik hier ganz bei sich. Karsten Januschke bringt das relativ klein besetzte Frankfurter Opern- und Museumsorchester auf Touren und schafft es, seinem Publikum einen veritablen musikalischen Operetten- bzw. (korrekter) Opéra-bouffe-Schwips zu verpassen. Dem stellen sich Katharina Thoma (Regie), Etienne Pluss (Bühne), Irina Bartels (Kostüme) und vor allem Katharina Wiedenhofer (Choreografie) nicht in den Weg, sondern voll an die Seite. Timing und Rhythmus, mit denen das Ensemble bei der Sache ist, stimmen durchweg.

Gerard Schneider führt als Hauptmann Falsacappa seine Bande mit Tenorschmelz und darstellerischem Charisma wie ein Familienunternehmen. Elizabeth Reiter ist mit durchtriebenem Charme dessen Tochter Fiorella. Die verliebt sich in den ausgeraubten Bio-Bauern (!), der den Beruf wechselt. In dieser Hosenrolle geht Kelsey Lauritano als erstes gleich ein Kabinettskurier ins Netz, der einen Hochzeitsdeal zwischen den Höfen in Mantua und Granada (im Operetten-Europa haben die eine gemeinsame Grenze!) einfädeln soll. Mit den drei Millionen, die die Italiener den Spaniern in dem Zusammenhang (zurück-)zahlen sollen, wollen sich die Banditen selbst sanieren. Ein Plan, der die rechtschaffenen Banditen fast an den Galgen bringt …

Die Räuber hausen zunächst in einem Gebirgstal unter einer Autobahnbrücke an der Grenze zwischen Operetten-Spanien und Operetten-Italien. Dort befindet sich auch das Gasthaus, wo sie erst in die Rolle der Wirtsleute, dann der Italiener, schließlich der Spanier schlüpfen, um schließlich am schäbigen Hof von Mantua in deren Namen abzukassieren.

Bei der Erklärung, woher die Sympathie für die Räuber im Stück rührt, bedarf es kaum einer überdeutlichen Aktualisierung der Geschichte. Da reicht schon eine EU-Flagge und der Auftritt des korrupten italienischen Schatzmeisters. Für die berühmte Frage, was ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank sei, hat auch das Publikum der bundesdeutschen Bankenmetropole schlechthin natürlich seine eigene Antwort parat.

Da in Operetten-Herzogtümern nicht so schnell gehenkt wie betrogen wird, löst sich am Ende durch einen staatlichen Gnadenakt alles in Wohlgefallen auf. Jetzt wechseln die Räuber die Seiten. Oder nur in eine benachbarte Branche? Jedenfalls wissen wir am Ende, warum uns Falsacappa und Co. von Anfang an sympathischer waren als die diversen Hofschranzen und Schatzmeister. Das Publikum ist hochzufrieden.

Roberto Becker

„Les brigands“ („Die Banditen“) (1869) // Opéra bouffe von Jacques Offenbach in einer neuen deutschen Fassung von Katharina Thoma

Infos und Termine auf der Website der Oper Frankfurt

Oh Mann!

Oslo / Den Norske Opera (Januar 2024)
Tobias Kratzers Operntrilogie „Bluebeard’s Castle“ erkundet Rollenbilder

Oslo / Den Norske Opera (Januar 2024)
Tobias Kratzers Operntrilogie „Bluebeard’s Castle“ erkundet Rollenbilder

Béla Bartóks einzige Oper „Herzog Blaubarts Burg“ hat schon immer zu extremen Deutungen eingeladen. Es ist ja auch faszinierend, dass Judith wider besseres Wissen und gegen seine eigene Warnung der Faszination des eigenbrötlerischen Serienmörders in seinem unwirtlichen Schloss erliegt. Der ganz banale andere Grund, den Einakter in seiner enigmatischen Verschlossenheit in weitere Kontexte zu stellen, ist seine Kürze: Eine Stunde macht halt meist noch keinen vollen Abend im Musiktheater.

In Oslo hat nun Regisseur Tobias Kratzer den Psychokrimi gleich doppelt eingebettet in zwei Titel, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Robert Schumanns aus heutiger Sicht in seinem Frauenbild schwer zu ertragenden Liederzyklus „Frauenliebe und –leben“ als Prolog und nach einer Pause dann Alexander von Zemlinkys „Florentinische Tragödie“. Diese nur auf den ersten Blick erstaunliche Verbindung wird durch Kratzers Ansatz und Erzählkunst höchst sinnfällig: Er hinterfragt die Rollenbilder der Mann-Frau-Beziehung auf einer Zeitlinie vom Biedermeier bis heute, in einem kühlen, protzigen Atrium-Einheitsraum (Bühne: Rainer Sellmaier), vor dessen Hintergrund die Gefühle und die emotionale und körperliche Gewalt umso stärker wirken.

Zuerst also Schumann: Ingeborg Gillebo beginnt mit rundem, fließendem Mezzosopran die acht Lieder als Salon-Soirée und wird bald auch szenisch zur ergebenen „Magd“, die alle Demütigungen erträgt. Denn „er, der Herrlichste von allen“ hat sie erwählt, was tut es da schon, wenn er sie missachtet, dafür bestraft, nur Töchter zu gebären, achselzuckend sterben lässt. Denn Er dominiert schon stumm das Geschehen, John Lundgren, der später der florentinische Kaufmann Simone werden wird und zunächst Blaubart.

Hier erkundet Kratzer lustvoll und dicht das schnelle Wechselspiel der Fragen und der Macht zwischen dem therapiebedürftigen Hausherrn und seiner neuesten Eroberung Judith, von Dorottya Lang liebend, selbstbewusst, verzweifelt und impulsiv verkörpert. Mit wohlgerundeter, üppig blühender Stimme bei perfekter Diktion ragt sie als Sängerin an diesem Abend heraus.

Ob die völlige Durchleuchtung aller Seelenabgründe die Probleme toxischer Männlichkeit und überhaupt einer Beziehung löst? Natürlich nicht. Das wird dann auch sichtbar in Zemlinskys Tragödie nach Oscar Wildes Vorlage. Der Kaufmann Simone kehrt verfrüht heim und findet seine Frau Bianca mit ihrem Liebhaber Guido (beide exzellent: Tone Kummervold und Rodrigo Porras Garulo). Der offenbar aufgeklärte, über-tolerante Hausherr trägt lange eine geschäftstüchtige Freundlichkeit vor sich her, bis er seinen Nebenbuhler am Ende doch erdrosselt. Und Bianca? Ist endlich wieder richtig fasziniert von ihm, dem Mörder. Und da schließt sich der Kreis von Kratzers sinnlich-anregender Reise durch Jahrhunderte, Geschlechterrollen und musikalische Epochen.

Im Orchestergraben nimmt der neue Chefdirigent Edward Gardner der expressiven Musik Bartóks und Zemlinkys die Extreme, trotz feiner Einzelleistungen bleibt der Klang für dieses Orchester ungewohnt gefällig und stellenweise etwas pastos-pauschal. Kratzers präzise, dabei stets gegenüber jeder Figur empathische Erzählung und das Sängerensemble aber lohnen den Weg nach Oslo allemal.

Stephan Knies

„Bluebeard’s Castle“ // Operntrilogie bestehend aus Robert Schumanns „Frauenliebe und -leben“ (1840), Béla Bartóks „A kékszakállú herceg vára“ („Herzog Blaubarts Burg“) (entstanden 1911, uraufgeführt 1918) und Alexander von Zemlinskys „Eine florentinische Tragödie“ (1917)

Infos und Termine auf der Website des Theaters