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Rezensionen

Käpt’n Dalands Spuk-Kaschemme

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025)
„Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025)
„Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund

Wenn das Publikum den Zuschauersaal des Wiesbadener Staatstheaters betritt, ist auf der Bühne bereits eine Piraten-Motto-Party im Gange, zu der eine Texteinblendung erläutert, dass der Geschäftsmann Daland eine solche alle sieben Jahre veranstaltet. Zur Ouvertüre wird auf eine Leinwand ein wildes Amalgam aus Seefahrer-, Mantel-und-Degen- sowie Gruselgeschichte in Schwarz-Weiß-Optik projiziert: Eine junge Frau sitzt träumend am Spinnrad in einer Burg an felsiger Küste, davor brandet das Meer. Ein Seefahrer naht auf seinem Schiff, geht an Land, führt ein paar Degenkämpfe, erreicht endlich das Burgfräulein und – beißt ihr in den Hals (!).

Weil dies in Nachahmung expressionistischer Stummfilmästhetik mit einer Überzeichnung von Gestik und Mimik einhergeht, möchte man es für eine Parodie halten. Die Regie von Martin G. Berger meint es aber bitterernst. Sie deutet die Sage nämlich psychologisch als Ausdruck eines verdrängten Kindesmissbrauchs, der allmählich in eingeblendeten Filmrückblicken offenbart wird. Als dessen Konsequenz habe Dalands Frau einst ihren Mann verlassen und die Teenager-Tochter Senta mit sich genommen, um sie vor weiteren sexuellen Übergriffen des Vaters zu bewahren. Nun kehrt die erwachsene Senta zurück. In dieser Deutung ist der Holländer das Alter Ego Dalands, eine Projektion seiner düsteren Triebe.

Leider ist es unmöglich, die grotesk überzeichnete Spukgestalt mit überlangem Mantel, Piratenhut und Zottelbart (Kostüme: Esther Bialas) auch nur für eine Sekunde ernst zu nehmen. Schon deswegen funktioniert das Regiekonzept nicht, von den permanenten Reibungen des gesungenen Textes mit der gezeigten Handlung ganz abgesehen. Alles wirkt wie eine schräge Mischung aus Murnaus „Nosferatu“ und Disneys „Käpt’n Blackbeards Spuk-Kaschemme“. Entweder ist diese Komik unfreiwillig oder sie ist dem Thema des inzestuösen Kindesmissbrauchs unangemessen.

Schade ist es um die Besetzung, denn mit Tommi Hakala steht in der Titelpartie ein Sänger zur Verfügung, dessen kerniger Heldenbariton mühelos eine ungefährdete Höhenlage mit satter Tiefe verbindet. Seine Auftrittsarie („Die Frist ist um“) ist der erste musikalische Höhepunkt des Abends. Ideal besetzt ist die Senta mit Dorothea Herbert. Ihre Stimme besitzt jugendliche Frische und Kraft ohne Schärfe. Ohne Anstrengung kann sie in der „Ballade“ die Höhen attackieren, reich ist ihr Spektrum an Klangfarben und dynamischer Differenzierung. Young Doo Park bewährt sich als Daland mit seinem sonoren Bass, während Aaron Cawley als Erik sich nach starkem Beginn zunehmend mit der Höhenlage abmüht. Mühelos frisch präsentiert sich Lukas Schmidt als Steuermann, mit tadellosem Mezzo gibt Ariana Lucas die Mary. Nach der uneinheitlichen Ouvertüre fasst das Orchester unter seinem neuen Generalmusikdirektor Leo McFall im weiteren Verlauf Tritt und zeigt insgesamt eine solide Leistung. Der Chorklang ist kräftig und präsent.

Und doch läuft dieser musikalisch ordentliche und sängerisch teils beachtliche „Holländer“ szenisch in den Untiefen eines unausgegorenen Regiekonzepts auf Grund.

Dr. Michael Demel

„Der fliegende Holländer“ (1843) // Romantische Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Wiesbaden

Nichts ist komischer als das Unglück

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Januar 2025)
Galgenhumor für György Kurtágs Beckett-Vertonung „Fin de partie“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Januar 2025)
Galgenhumor für György Kurtágs Beckett-Vertonung „Fin de partie“

„Fin de partie“ ist die einzige Oper von György Kurtág. Der ungarische Komponist (*1926) vertonte hierfür das französische Original von Samuel Becketts Einakter „Endspiel“. Nach einem zähen Entstehungsprozess wurde die Oper 2018 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Nach Stationen in Dortmund und Wien bringt jetzt auch die Berliner Staatsoper dieses finster-absurde Musiktheater auf die Bühne. Regie führt Johannes Erath, der bereits in Graz eng mit der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka zusammenarbeitete.

In „Fin de partie“ geht es um vier Überlebende einer ungenannten Katastrophe. Bühnenbildner Kaspar Glarner steckt sie in ein winziges vergilbtes Tapetenzimmer mit abgeklebten Fenstern. Hausherr Hamm, der mit Blindenbrille im Rollstuhl sitzt, drangsaliert seinen steifbeinigen Diener Clov. Hamms Eltern Nagg und Nell, die seit einem Tandem-Unfall keine Beine mehr haben, hausen in zwei Mülltonnen.

Während die Dortmunder Inszenierung von Ingo Kerkhof das Publikum quasi mit auf die Opernbühne holte, setzt Johannes Erath auf maximale Distanz. Das Geschehen im Zimmer ist eingerahmt wie eine Postkarte, dann wieder wird die Perspektive verfremdet und verzerrt. So blicken wir mit Naggs Augen aus der Mülltonne, durch einen kreisförmigen Ausschnitt, in den Raum hinein. Derweil wird auf die schwarze Fläche um diesen Ausschnitt herum schattenhaft projiziert, was jenseits der Mülltonne vor sich geht.

Dem intimen Kammerspiel für vier Sänger stellt Kurtág ein 60-köpfiges Orchester gegenüber. Das soll jedoch nicht für opulenten Klangrausch sorgen, sondern beleuchtet den stets verständlichen Text mit fragmentarischen Zwischentönen, schillernden Farben, filigranen Tongespinsten im Pianissimo. Celesta und zwei Knopfakkordeons sorgen für einen Hauch von Zirkus und Varieté. All diese hochkomplexen akustischen Feinheiten kosten Dirigent Alexander Soddy und die Staatskapelle Berlin wirkungsvoll aus. Feingefühl und Expressivität gehen dabei Hand in Hand.

Regisseur Erath liest das zwischen Absurdität und Tragik kippelnde Stück in erster Linie als Komödie. Visuell spektakulär ist am Ende ein umgestürztes Riesenrad, das die gesamte Bühne einnimmt. Clov und Hamm turnen kerngesund in silbernen Glitzeranzügen darauf herum. Im Zeichen des absurden Theaters, das unlogische Szenarien ausdrücklich erlaubt, ist so ein Eingriff durchaus legitim. Die vier Solisten bieten einen großen Abend und meistern fulminant ihre französischen Monologe, die mit unzähligen komplizierten Taktwechseln gespickt sind. Die feinfühlige Personenregie schärft die Charaktere und Interaktionen.

Nuanciert und spannungsreich singt der französische Bassbariton Laurent Naouri die ausufernden Selbstgespräche des in stoischer Würde an seinen Rollstuhl gefesselten Hamm. Bo Skovhus setzt seine enorme Bühnenpräsenz und sein Slapstick-Talent für den clownesken Diener Clov ein. Als Nell sinniert Dalia Schaechter mit mildem Mezzo ihren Erinnerungen und dem Endspiel ihrer Ehe nach. Aus ihrem Mund kommt ein zentraler Satz des Abends: „Nichts ist komischer als das Unglück.“ Stephan Rügamer als Nagg witzelt sich mit seiner mal schneidenden, mal schmeichelnden Tenorstimme durch seine letzten Stunden.

Der ausweglose Überlebenskampf der vier nicht voneinander loskommenden Gestalten wird hier in eine gehörige Portion Galgenhumor verpackt. Dennoch macht sich im Laufe der 100 pausenlosen Minuten immer mehr Beklemmung breit, das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Am Ende sorgen die grandiosen Sängerdarsteller und das funkelnde Orchester für begeisterten Applaus.

Antje Rößler

„Fin de Partie“ (2018) // Oper von György Kurtág

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Unter den Linden

Zu wissen, wer man ist

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2024)
Damiano Michieletto setzt „La fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2024)
Damiano Michieletto setzt „La fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene

Das illustre Münchner Premierenpublikum – Anne-Sophie Mutter in der Königsloge – ist begeistert. Es gibt wiederholt Szenenapplaus und frenetischen Beifall mit Fußgetrampel am Ende. Star des Abends ist der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Tenor Xabier Anduaga. Er verkörpert Tonio, den Tiroler, der die Regimentstochter Marie einst vor dem Sturz in einen Abgrund bewahrte, sich in sie verliebte und dem sie das Leben rettet, als das 21. Regiment der französischen Armee ihn als Spion köpfen möchte. Mit dem herrlichen Schmelz seines Timbres, voluminöser Strahlkraft und körperbetonten Spitzentönen interpretiert er auch die bekannteste Arie der Oper, die Cavatine „Ah! mes amis, quel jour de fête!“ mit neun hohen Cs, in der er sein Schicksal preist, Soldat und Bräutigam zu sein. Der gewaltige Beifall nach dieser Arie löst minutenlange Erstarrung auf der Bühne aus, ehe die Marquise de Berkenfield Marie als ihre „Nichte“ mit auf ihr Anwesen nimmt, um sie standesgemäß zu bilden und zu verheiraten.

Der Regisseur Damiano Michieletto und sein Bühnenbildner Paolo Fantin, die eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, setzen Gaetano Donizettis komische Oper „la fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene. Der realistische Wald im Hintergrund der Spielfläche, in dem sich plötzlich ein „Fenster“ in das Anwesen der Marquise öffnet, erscheint im zweiten Akt als Bild, aus dem die Soldaten einfallen, um Marie zurückzuholen. Mit den Kostümen von Agostino Cavalca bietet die Inszenierung wirkungsvolle Momente der Symbolik und ironischen Brechung. Doch erlangt sie damit keine Tiefe. Daran ändert auch die Schauspielerin Sunnyi Melles als Duchesse de Crakentorp und Erzählerin nichts. In neu verfassten Monologen an Stelle der Dialoge führt sie durch die Handlung und erklärt forsch: „Das Einzige, was im Leben zählt, ist zu wissen, wer man ist.“ Von all den Fragen um die psychologische Komplexität der Marketenderin Marie, das Frau-Werden eines Mädchens, das unter Soldaten aufwächst, sowie den historischen Kontext der Handlung, die das Programmheft aufwirft, berührt die Inszenierung keine. Vielmehr irritiert die romantische Verklärung des Soldatenlebens, die, angetrieben von den Trompetensignalen und Trommelwirbeln der Musik, immer wieder in Klamauk mündet.

So wird der Abend zu einem Fest für Melomanen. Neben Xabier Anduaga ist es die Sopranistin Pretty Yende in der Rolle der Marie, die mit ihrer Bühnenpräsenz, ihrem darstellerischen Talent und ihrem Gesang, der sich von Lyrischem über halsbrecherische Koloraturen bis zu Durchbrüchen über den Schönklang hinaus erstreckt, das Publikum zu Beifallsstürmen hinreißt. Auch der Bariton Misha Kiria als Sergeant Sulpice und Maries Ziehvater sowie die Sopranistin Dorothea Röschmann als Marquise de Berkenfield und Maries leibliche Mutter überzeugen mit ihren komischen Übertreibungen und ihrem Gesang. Und Stefano Montanari geleitet das wie immer exzellent spielende Bayerische Staatsorchester mit Esprit durch alle Kontraste der Partitur.

Ruth Renée Reif

„La fille du régiment“ (1840) // Opéra comique von Gaetano Donizetti

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

Gewagt und gewonnen

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Dezember 2024)
Benatzkys „Im Weißen Rössl“ als Travestie-Streich

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Dezember 2024)
Benatzkys „Im Weißen Rössl“ als Travestie-Streich

Natürlich kommen in Braunschweig bei der Neuinszenierung des Benatzky-Singspiels „Im Weißen Rössl“ alle Ohrwürmer dran. Da kann man im Salzkammergut „gut lustig sein“; da muss es „was Wunderbares sein“, geliebt zu werden; da kann der Sigismund nichts dafür, „dass er so schön ist“; da steht im Weißen Rössl „das Glück vor der Tür“ und „zuschau’n“ kann der bedauernswerte Zahlkellner Leopold nicht beim Flirt seiner angebeteten Chefin Josepha mit dem Dauergast Dr. Otto Siedler. Alle Lieder und Couplets werden toll gesungen. Aus dem Orchestergraben flutet rauschhaft Sinfonisches hervor, gestaltet vom Braunschweiger Staatsorchester unter der präzisen und zugleich emotional erfüllten Leitung von Alexander Sinan Binder.

Aber diese Hits sind eingebettet in eine innovative Deutung des Geschehens. Denn auch in Braunschweig verschafft man der jahrelang verschmähten Operette wieder ein neues Standing. Und da wagt Regisseur Immo Karaman unter Einbeziehung von Schauspiel und Ballett Extremes – zunächst sehr befremdlich wirkend, im Laufe des Abends aber immer mehr faszinierend. Die Rössl-Wirtin spielt ein Mann in Frauenkleidern (herausragend: Matthew Peña). Erst am Schluss wird dieser Travestie-Streich entschlüsselt. Der Zahlkellner Leopold schwankt zwischen Männer- und Frauenliebe. Fast alle Bewegungsabläufe werden als Slapsticks grotesk überzeichnet (unglaublich gymnastisch dabei: Ivan Marković als Leopold). Und die von Fabian Posca bunt und zugleich exakt choreografierten Tanzszenen würden einem internationalen Travestie-Club Ehre machen. Das Bühnenbild (auch Immo Karaman) vermeidet mit minimalistischem Aufwand allen Operetten-Schnickschnack.

Synchron zu dieser surrealistisch-skurril wirkenden, gleichwohl höchst amüsanten Aktionsweise gibt es eine andere Deutungsebene. Wartende Menschen (der großartig singende Chor) an einer öden Bushaltestelle könnten Touristen auf dem Weg zum Wolfgangsee sein. Die Beleuchtung und das Outfit aber aktivieren auch Deportationsbilder. An der gleichen Haltestelle wartet Leopold nach seiner Entlassung einsam und melancholisch auf den Bus und singt leise „Zuschau’n kann i net“, während er sich auf einem Akkordeon begleitet. Herzergreifend! Und dann die Enttarnung der „Wirtin“: Beim schon von Nazi-Herrschaft überschatteten Schützenfest fällt die Frauen-Perücke vom Kopf. Schrecklich! Die Männer, völkisch in Krachlederne gekleidet, vertreiben daraufhin die „Wirtin“ und Leopold erkennt nun, dass sie ein Mann ist. Vielleicht hat er das schon die ganze Zeit gewusst. Denn im Schlussbild gehen Leopold und die „Wirtin“ Hand in Hand über die leere Bühne aus der Szene. Sehr bewegend!

Harter Schnitt zum glitzernden Finale. Mit einer Persiflage auf TV-Shows der 50er Jahre werden noch einmal alle Paare durch den Kakao dieser spießigen Ästhetik gezogen und ironisiert. Das ist eine amüsante Idee, die aber etwas zu lang ausgewalzt wird. Riesenbeifall und viele Vorhänge zeigen: Karaman wagt und gewinnt. Braunschweig ist eine Theaterreise wert.

Claus-Ulrich Heinke

„Im Weißen Rössl“ (1930) // Singspiel von Ralph Benatzky, bühnenpraktische Rekonstruktion der Originalfassung von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn unter Mitarbeit von Winfried Fechner

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Braunschweig

Seelenstürme

Košice / Národné divadlo Košice (Dezember 2024)
Die slowakische Nationaloper „Krútňava“ mündet in Verzweiflung

Košice / Národné divadlo Košice (Dezember 2024)
Die slowakische Nationaloper „Krútňava“ mündet in Verzweiflung

Das Nationaltheater Košice feiert den 75. Jahrestag der mit Kalkül entwickelten Nationaloper „Krútňava“ („Katrena“) von Egon Suchoň. Die Hommage ereignet sich also nicht am Uraufführungsort, dem Slowakischen Nationaltheater Bratislava, dessen Intendant Matej Drlička im Sommer 2024 durch die rechtspopulistische Kulturministerin Martina Šimkovičová entlassen wurde, und auch nicht an der Staatsoper Banská Bystrica, wo 2008 die erste Produktion der rekonstruierten Originalpartitur herauskam.

Košices Operndirektor Roland Khern Tóth hat für die Neuproduktion Vera Nemirova eingeladen. Im abstrahierenden Bühnenbild von Stephan Braunfels setzt sie eine packende Leistung. Nemirova und ihr Dramaturg Stanislav Trnovský verzichten auf die Dialogrollen des Dichters und seines Doppelgängers, die im originalen Textbuch über Schicksalsläufe und die von ihnen inspirierten Kunstschöpfungen diskutieren. Während des Vorspiels zeigen sie Katrena (Eva Katráková-Bodorová) und den nach seinem Tod allgegenwärtigen Ján Štelina (Martin Stolár) in einem heftigen Liebesakt. Die entscheidende Frage der Oper lautet sodann: Wer ist der Vater von Katrenas Kind? In der Originalfassung nennt Katrena ihren Ehemann Ondrej. Dieser wird nach dem Geständnis des Eifersuchtsmords an Ján Štelina der Gerichtsbarkeit überantwortet. Katrenas Säugling ähnelt dem Toten. Aber ihr Wort an Ondrej bei dessen Verhaftung, er sei der Vater, gilt. Die Hoffnung des alten Štelina, Jáns Vater, auf einen leiblichen Erben wird also zunichte.

Die Seelenstürme dreier Lebender und eines Toten schreien über den Schlussakkord Suchoňs hinaus. Dessen Oper endet weder heroisch noch festlich, sondern schlichtweg verzweifelt. Sofort nach der Uraufführung wurden Eingriffe vorgenommen, durch welche die religiösen Bezüge entfielen und die Vaterschaft von Katrenas Säugling eindeutig Ján zugesprochen wird. Damit entfällt der ambivalente Schluss: Ist Katrenas Aussage, Ondrej sei der Vater ihres Kindes, die Wahrheit oder ein Trost vor dessen Verurteilung?

Die Szenen um das Neugeborene lässt Nemirova in gutsituierten Kreisen der 1950er Jahre spielen. Sie zeigen vor Braunfels’ symbolischer Verallgemeinerung ein schroffes Milieu. Je mehr Katrena durch die Heirat mit dem sie misshandelnden Ondrej und die Frage nach der Vaterschaft ihres Kindes in die patriarchale Verschleißspirale gerät, desto weniger singt und spricht sie. Durch die Kostüme Simona Vachálkovás und Marek Šarišskýs Choreografie werden die Genreszenen mit dem imposanten Chor und dem Ballett zu kalten Farbfunken.

Außerordentlich gute Solisten gestalten die herausfordernden Partien. Peter Valentovič hält mit dem Orchester des Nationaltheaters Košice die Dunkelheit Suchoňs in rundem wie attackierendem Sog. In der expressiven Partie der Katrena bewegt Eva Katráková-Bodorová zutiefst. Am Ende ist sie zermalmt von zwei machtvoll präsenten Männern: Der Heldentenor Titusz Tóbisz hat hinter Ondrejs cholerischen Vokal-Eskalationen auch Seele, Jozef Benci entwickelt ein eindringliches Porträt des alten Štelina. Das volle Haus applaudiert mit Enthusiasmus.

Roland H. Dippel

„Krútňava“ („Katrena“) (1949) // Oper von Eugen Suchoň

Die Macht der Stimmen

Mailand / Teatro alla Scala (Dezember 2024)
Inaugurazione mit Verdis „La forza del destino“

Mailand / Teatro alla Scala (Dezember 2024)
Inaugurazione mit Verdis „La forza del destino“

Der gar nicht so oft auf den Bühnen zu sehende Titel „La forza del destino“ kündet zwar von der Macht des Schicksals – dieses Werk Verdis, das er 1869 speziell für die Scala bearbeitet hat, könnte aber auch „Die Macht der Unvernunft“ oder „Der Triumph eines verlogenen Ehrbegriffes“ heißen. Was ist es anderes, wenn der Bruder die Schwester noch im Sterben umbringt, ohne dass die etwas verbrochen hat? Abgesehen davon, dass sie den „falschen“ Mann liebt – zumindest nach Ansicht von Vater und Bruder. Ein Blick in den Gruselkatalog der sogenannten „Ehrenmorde“ in der Grauzone der Parallelgesellschaften zeigt, dass das alles nicht so weit in der Vergangenheit versunken ist, wie wir es in emanzipierten und säkularen Zeiten gerne hätten.

Einen Hauch von Relevanz für unsere Gegenwart bietet sogar die ansonsten meilenweit vom hierzulande üblichen Interpretations-Ehrgeiz entfernte Inszenierung von Leo Muscato. Vor allem mit der Kostümierung der Chöre nutzt Silvia Aymonino das üppige, TV-übertragungstaugliche Drehbühnenbild von Federica Parolini, um zu den martialischen Chorpassagen Waffenlärm und Kriegsgräuel in gleich mehreren Jahrhunderten zu illustrieren und das Finale in eine Ruinenlandschaft wie von heute zu verlegen. Im Ganzen betrachtet haben die Italiener auch diesmal genau die immer leicht museal wirkende Opern-Opulenz bekommen, die sie mögen.

Beeindruckend ist freilich allein schon die Verdi-Spannung, die ein zügig zu Werke gehender Riccardo Chailly mit seinem Orchester erzeugt und trotz des häufigen Szenenapplauses und der zwei Pausen auch durchgehend hält. Da bleiben sogar beim eventversessenen Inaugurazione-Publikum die Handys aus. Der unstrittige Star des Abends ist Anna Netrebko. Die adelt Donna Leonora mit ihrem unverwechselbaren, dunkel samtigen Timbre, tadellosen Höhen und darstellerischer Präsenz. Ludovic Tézier ist ihr mit imponierender Stimmgewalt auftrumpfender Bruder Don Carlo di Vargas. Dass Brian Jagde statt des ursprünglich vorgesehenen Jonas Kaufmann die Rolle des vom Pech verfolgten Don Alvaro übernimmt, erweist sich als Glücksfall – für ihn und für das Publikum, das sich an einem mühelosen Tenorschmelz erfreuen darf.

Auch sonst ist die Besetzung dem Anlass und diesem Verdi-Opernhaus par excellence angemessen. Von Vasilisa Berzhanskaya (Preziosilla) über Alexander Vinogradov (Padre Guardiano) bis Marco Filippo Romano (Fra Melitone) werden alle gefeiert. Dass die zeitgleiche Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame de Paris Mailand diesmal die große Show stiehlt, mag für die Milanisi ein Wermutstropfen sein. Die echten Opernfreunde unter ihnen können sich immerhin an einem Wiedersehen mit den Premierengästen Plácido Domingo und José Carreras erfreuen.

Roberto Becker

„La forza del destino“ (1862/69) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Teatro alla Scala

kostenfreier Stream bis 8. März 2025 auf ARTE Concert

Der wilde Tanz des Josef K.

Wien / MusikTheater an der Wien (Dezember 2024)
Gottfried von Einems „Prozess“ als Opernbeitrag zum Kafka-Jahr

Wien / MusikTheater an der Wien (Dezember 2024)
Gottfried von Einems „Prozess“ als Opernbeitrag zum Kafka-Jahr

„Sie erleben jetzt die Generalprobe!“ Ein Raunen geht durch das Publikum, das erwartungsvoll auf den Beginn der Premiere von Gottfried von Einems Oper „Der Prozess“ wartet. Intendant Stefan Herheim fährt launig fort: „Ein Virus hat uns in der letzten Woche lahmgelegt. Daher war ein kompletter Durchlauf bis jetzt nicht möglich. Sehen Sie bitte über ein paar Stolperer hinweg – wir sind selbst gespannt.“ Doch von Unsicherheiten merkt man in den nächsten eineinhalb Stunden nichts. Im Gegenteil: Die Rasanz des Stücks ist bemerkenswert.

Nach dem Sensationserfolg „Dantons Tod“ präsentierte Gottfried von Einem 1953 seine zweite Oper, basierend auf dem Romanfragment von Franz Kafka. Das Werk konnte nicht an den Erfolg anschließen und wird bis heute selten gespielt. Das liegt sicher nicht an der Musik, die sich nicht atonal, sondern beschwingt, mit satten Jazzklängen angereichert und in vielen Farben schillernd – oft im Gegensatz zu den bedrückenden Ereignissen des Librettos – in die Ohren der Zuhörer schmeichelt. Vielmehr sind es die verwirrenden Szenen, die zwar den Schrecken einer plötzlichen Verhaftung und die Hilflosigkeit des Opfers vorführen, aber – wie bei Kafka – fragmentarisch bleiben.

Herheim hat keine leichte Aufgabe, dieses Werk in Szene zu setzen. Mit schwungvollen Regieeinfällen treibt er alles auf die Spitze, verlässt das typisch düstere Kafkaeske und präsentiert eine wilde Revue, die auch kantige Sexszenen nicht scheut. Gespielt wird eine in der Corona-Pandemie entstandene Fassung, für ein kleines Orchester arrangiert von Tobias Leppert – ideal für eine Bühne wie jene der Wiener Kammeroper. Das stets hervorragend disponierte Klangforum Wien unter Dirigent Walter Kobéra ist auf der hinteren Bühne platziert.

Gottfried von Einem wurde mehrfach von der Gestapo verhört und konnte sich daher gut in die Psyche von Josef K. hineinversetzen. Genau hier setzt Herheim an. Josef K. hat in dieser Inszenierung im ersten Teil eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Komponisten und taumelt oft wie im Fieberdelirium über die Bühne. Nach der Pause ist er ein verschüchterter junger Mann, der immer hilfloser seinem Untergang entgegenwankt.

Die Besetzung wurde auf neun Personen reduziert. Einige Darsteller übernehmen Doppelrollen, was manchmal verwirrend ist. Doch letztlich ist es unwichtig, wer wer ist, denn jeder – auch das Publikum – kann Täter oder Opfer sein. Es gibt nur eine Frauenrolle: Anne-Fleur Werner überzeugt mit massivem Körpereinsatz und singt, auch im knappen Dessous, tadellos. Unter den Stimmen der jungen Sänger stechen Talente hervor, die man sich merken sollte: Alexander Grassauer, Timothy Connor, Valentino Blasina, Lukas Karzel, Philipp Schöllhorn und Leo Mignonneau. Der größte Applaus aber muss Robert Murray als Josef K. gelten. Kraftvoll tönt der Tenor des Briten, der die Rolle mit Komik, Bravour und Verzweiflung gestaltet. Vom Virus, das das Ensemble niederstreckte, spürt das Publikum nichts. Dafür bedankt es sich mit herzlichem Applaus.

Susanne Dressler

„Der Prozess“ (1953) // Oper von Gottfried von Einem

Infos und Termine auf der Website des MusikTheaters an der Wien

Märchenpoesie ohne Katastrophenschutz

Münster / Theater Münster (Oktober 2024)
Humperdincks „Königskinder“ als soziale Drei-Generationen-Story

Münster / Theater Münster (Oktober 2024)
Humperdincks „Königskinder“ als soziale Drei-Generationen-Story

Gegen das Zeitphänomen der digitalen Entfremdung sind diese üppige Märchenoper und diese Produktion ein wunderbares Gegenmittel. Noch nicht allzu häufig, aber regelmäßig erinnern sich Theater inzwischen wieder an Engelbert Humperdincks neben „Hänsel und Gretel“ zweiten großen Erfolg „Königskinder“ in der Opernfassung für New York 1910. Das Experiment eines Melodrams mit in den Noten fixierten Sprechhöhen hatte sich im Münchner Nationaltheater 1897 als zu schwieriger Brocken erwiesen. Die Gänsemagd und der Königssohn überwinden in Elsa Bernstein-Porges’ Schauspiel soziale Schranken, scheitern aber an der im primitiven Vorteilsdenken befangenen Umwelt. Deshalb gehen beide zugrunde. Damit drängen in dieses Märchen auch immer wieder die Sozialmiseren vor 1914.

Die realistischen Ansichten auf einer frühsommerlichen und einer herbstlichen Fotografie aus Wäldern des Münsterlandes, die aus einem Fotowettbewerb für die Neuinszenierung ausgewählt wurden, verbinden Natursehnsucht und die Preziosität des Werks. Regisseurin Clara Kalus, Bühnenbildner Dieter Richter und Carola Valles mit den Kostümen erarbeiten drei Zeitebenen: Königssohn und Gänsemagd agieren in der Sphäre eines Kunstmärchens aus den eskapistischen Strömungen um 1900. In der Stadtgesellschaft Hellabrunn protzt und prollt eine westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Und sie stürzt mit raubeiniger Randalierlust auf alle, für welche solche egomanische Selbstgefälligkeit nicht des Volkes wahrer Himmel ist. Der von Anton Tremmel super einstudierte Chor und der Theaterkinderchor Gymnasium Paulinum setzen scharfe Akzente. Der zweite Akt ist bestes Spielfutter.

Garrie Davislim und Anna Schoeck zeigen, wie aus überwältigender Sympathie tiefe Emotionen entstehen und dazu auch der Erkenntniszuwachs durch den Schmerz gehört. Die beiden Titelfiguren sind ideal in Stimme und Spiel. Schoecks Sopran blüht schon in der Blitzentwicklung der Gänsemagd zum Erwachsenwerden voll auf. Davislim als Königssohn hat alles für die lyrischen Piano-Flächen beim Kennenlernen und auch die dramatischen Attacken beim Volksfest in Hellabrunn. Mit beeindruckender Kondition nimmt er sogar die Stellen mit leichterer Deklamation voll kantabel. Nur im Finale des zweiten Aktes, wenn das Paar zusammengeschlagen wird, zeigt er Verletzlichkeit.

Johan Hyunbong Choi als Spielmann akzentuiert mehr die lyrischen als burlesken Akzente. Er und Wioletta Hebrowska als Hexe geben ein packendes zweites Paar. Einen besonders eindrucksvollen Akzent setzt die Regie: Offenbar haben die Hexe und der Spielmann eine mit einem scharfen Keil beendete Liebesgeschichte hinter sich. Auch vokal betont Hebrowska die Noblesse einer lebenserfahrenen weisen Frau. Charakterfarben setzen Gregor Dalal als derber Holzhacker und Youn-Seong Shim als vom Hersteller zum Vertreter mit Sortimentskoffer aufgestiegenen Besenbinder. Die Figur von dessen Töchterchen wird aufgeteilt in ein kindliches Double der Gänsemagd und eine Scharführerin der „letzten Generation“ (Elisabeth Quick).

Henning Ehlert, der sich das Stück ausdrücklich gewünscht hatte, findet am Pult mit Nachdruck und Kraft zu den unzählbaren Schönheiten dieser Partitur. Das Sinfonieorchester Münster liefert einen himmelhoch jauchzenden und zu Tode betrübenden Klangrausch.

Roland H. Dippel

„Königskinder“ (1897/1910) // Märchenoper von Engelbert Humperdinck

Infos und Termine auf der Website des Theaters Münster

Musikalisches Juwel

Wien / Neue Oper Wien (Oktober 2024)
Pascal Dusapins „Passion“ nimmt der Liebe ihre Leichtigkeit

Wien / Neue Oper Wien (Oktober 2024)
Pascal Dusapins „Passion“ nimmt der Liebe ihre Leichtigkeit

Entspannt sitzt Pascal Dusapin vor der Vorstellung im Café des MuTh und gibt seelenruhig Autogramme. Er signiert nicht einfach, er zeichnet Notenlinien. Begeistert bedanken sich die Autogrammjäger. Dusapin, der schon durch seine auffällige Löwenmähne ins Auge fällt, wurde 1955 in Nancy geboren und gilt als wichtiger Vertreter avantgardistischer und emotional tiefgehender Musik. In Österreich ist er ein eher unbekannter Name. Daher ist es wieder einmal dem unermüdlichen Leiter der Neuen Oper Wien, Walter Kobéra, hoch anzurechnen, dass man das Werk dieses französischen Komponisten kennenlernen darf.

„Passion“ wird in Österreich zum ersten Mal gezeigt; die Uraufführung fand 2008 in Aix-en-Provence statt. Die Choreografin und Tänzerin Trisha Brown inszenierte die Oper als Tanzstück, zwei Jahre später stellte Sasha Waltz das Werk in ihrer Interpretation bei der Biennale di Venezia vor. Auch dort stand die Körperlichkeit im Vordergrund. In Wien ist die Oper kein Tanzstück, dennoch wird den Sängerinnen und Sängern in der Inszenierung von Ursula Horner eine Menge an Körperarbeit abverlangt. Von der Handlung allein ist nicht viel zu holen in Dusapins Werk, für das er mit Rita de Letteriis das Libretto verfasste. Lei und Lui sind verliebt und tasten sich vorsichtig an eine Beziehung heran. Doch bald verdunkelt sich das Liebesglück. Lui wird zunehmend besitzergreifender, während Lei versucht, sich aus den Fesseln der Emotionen zu befreien. Doch sie hat keine Chance: Der Brautschleier wird für sie zum Leichentuch. Gli Altri, die Anderen, können das Drama nur beobachten und begleiten.

Mit ästhetischen Bewegungen und starken Gruppenbildern wird die Tragik dieser allzu leidenschaftlichen Liebe präsentiert. Eine wichtige Rolle spielen die Kostüme (Melanie Jane Frost). Gli Altri tragen einfache schwarze Hosen und Oberteile, während Lei und Lui in ihren weißen Barockgewändern hervorstechen. Nach und nach schälen sie sich aus den einzelnen Kleidungsstücken, bis Lei am Ende in einem einfachen weißen Hemd ungeschützt auf der Bühne steht, während Lui mit ihrem Korsett kämpft. Dusapins Musik ist fein und intim, experimentell, aber stets eingängig. Besonders prägend setzen sich Flöte und Harfe aus dem Orchester durch, das Klangbild ergänzen Live-Elektronik, Cembalo, Oud und das Röcheln, Flüstern, Ächzen und laute Atmen der Protagonisten auf der Bühne.

Die türkische Sopranistin Melis Demiray meistert bravourös die anspruchsvolle Partie und bewegt sich dabei tänzerisch elegant auf der Bühne. Bariton Wolfgang Resch steht ihr in nichts nach, auch wenn seine musikalische Rolle etwas geringer ausfällt. Die sechs weiteren Sänger – hinreißend das PPCM Vokalensemble – sind perfekt eingesetzt und bilden einen würdigen Rahmen für das verzweifelte Paar. Das amadeus ensemble-wien beweist unter der Leitung von Walter Kobéra einmal mehr, wie subtil das Orchester mit zeitgenössischen Tönen umgehen kann. Das Publikum bedankt sich für den interessanten Abend mit heftigem Applaus.

Susanne Dressler

„Passion“ (2008) // Oper von Pascal Dusapin

Versuchskaninchen

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2024)
Alban Bergs „Wozzeck“ als Proband von Medizin, Militär, Kirche und Politik

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2024)
Alban Bergs „Wozzeck“ als Proband von Medizin, Militär, Kirche und Politik

Ein Geruch hängt über der Bühne. Ein Geruch von Armut, Treibjagd, Ausweglosigkeit und Unheil. Franz heißt der Mensch, das Tier, das Opfer. Unterwegs mit Plastiktüte, stets gehetzt, wird er erst zum Mörder, bevor er Hand an sich selbst legt. Dabei wollte er unbedingt ’raus der Misere seiner kleinen ungeordneten Familie, indem er sich und seinen Leib der wissenschaftlichen Medizin verkaufte. Um diese Dienstleistung spezieller Art kämpft er in seiner Not auch gegen die Menschenmaterial-Konkurrenz.

Doch hier, im sinnfällig schwarzen Opernhaus von Lyon, hat er nach Georg Büchner nicht nur den privaten Interessen eines ehrgeizigen Doktors Folge zu leisten, hier ist er ausgewählter Proband eines weit größeren Menschenexperiments, von dem Medizin, Militär, Kirche und Staat zu profitieren suchen. Etwas unscharf in der Anordnung formuliert: Zu was ist der Mensch fähig? Zu was ist er in der Lage, wird er nur hinreichend drangsaliert? Ein Suchscheinwerfer beleuchtet es konstant.

Nicht Bohnen-Diät, nicht Schöpsenfleisch-Diät, nicht, dass es ihm verboten ist, öffentlich zu husten, wird Franz zur größten Qual – und auch nicht, dass er seine diagnostizierten geistigen Verirrungen pflegen soll –, sondern dieser stattliche Tambourmajor, der so ungeheuren Eindruck macht auf Marie, Franzens Lebensgefährtin. Dieser Tambourmajor ist eingeweiht und Instrument des Forschungsvorhabens; er installiert in Maries enger, billiger Wohnküche eine Überwachungskamera, die Live-Bilder zu senden hat ins wissenschaftliche Zentrum, wo der Doktor, der Hauptmann, ein Pastor sowie ein Minister den Lauf ihrer Untersuchungen verfolgen. Zwei Momente gibt’s, die die Studie arg forcieren: wenn sich der Tambourmajor in der engen Schlafkammer hinter der Küche Marie gefügig macht und Franz von Doktor und Hauptmann dieser Beischlaf gesteckt wird. Nun kennt Wozzeck kein Halten mehr: Marie wird zum Kollateralschaden des Experiments – und wenig später dann ersticht der Proband sich selbst.

Kirche, Militär, Politik aber: Sie wenden sich kopfschüttelnd ab, zeigen sich empört über den „Wissensdrang“ der Medizin. Was bleibt nach Richard Brunels drastischer, fatalistischer, soghafter, großstädtischer und naturferner Inszenierung von starker Personenführung? Es bleibt das gemeinsame Kind von Marie und Franz, das medienabgelenkt nicht so recht begreift, was der Tod seiner Eltern ihm bedeuten wird.

Der Lyoner Intendant kochte selbst, und auch die musikalische Leitung bleibt Chefsache: Daniele Rustioni dirigiert einen zugespitzten, geschärften, dramatisch packenden Berg-„Wozzeck“ – Szene und Graben gehen Hand in Hand. Und Stéphane Degout singt und spielt die Titelrolle ungewöhnlich wehrhaft-kämpferisch, freilich librettogemäß erfolglos, während Ambur Braid als Marie und Pragmatikerin des Lebens sich ungewöhnlich schnörkellos und voluminös entäußert. Vorzüglich daneben: der hohe Tenor von Thomas Ebenstein als Hauptmann.

Rüdiger Heinze

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website der Opéra de Lyon