Münster / Theater Münster (Oktober 2024) Humperdincks „Königskinder“ als soziale Drei-Generationen-Story
Gegen das Zeitphänomen der digitalen Entfremdung sind diese üppige Märchenoper und diese Produktion ein wunderbares Gegenmittel. Noch nicht allzu häufig, aber regelmäßig erinnern sich Theater inzwischen wieder an Engelbert Humperdincks neben „Hänsel und Gretel“ zweiten großen Erfolg „Königskinder“ in der Opernfassung für New York 1910. Das Experiment eines Melodrams mit in den Noten fixierten Sprechhöhen hatte sich im Münchner Nationaltheater 1897 als zu schwieriger Brocken erwiesen. Die Gänsemagd und der Königssohn überwinden in Elsa Bernstein-Porges’ Schauspiel soziale Schranken, scheitern aber an der im primitiven Vorteilsdenken befangenen Umwelt. Deshalb gehen beide zugrunde. Damit drängen in dieses Märchen auch immer wieder die Sozialmiseren vor 1914.
Die realistischen Ansichten auf einer frühsommerlichen und einer herbstlichen Fotografie aus Wäldern des Münsterlandes, die aus einem Fotowettbewerb für die Neuinszenierung ausgewählt wurden, verbinden Natursehnsucht und die Preziosität des Werks. Regisseurin Clara Kalus, Bühnenbildner Dieter Richter und Carola Valles mit den Kostümen erarbeiten drei Zeitebenen: Königssohn und Gänsemagd agieren in der Sphäre eines Kunstmärchens aus den eskapistischen Strömungen um 1900. In der Stadtgesellschaft Hellabrunn protzt und prollt eine westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Und sie stürzt mit raubeiniger Randalierlust auf alle, für welche solche egomanische Selbstgefälligkeit nicht des Volkes wahrer Himmel ist. Der von Anton Tremmel super einstudierte Chor und der Theaterkinderchor Gymnasium Paulinum setzen scharfe Akzente. Der zweite Akt ist bestes Spielfutter.
Garrie Davislim und Anna Schoeck zeigen, wie aus überwältigender Sympathie tiefe Emotionen entstehen und dazu auch der Erkenntniszuwachs durch den Schmerz gehört. Die beiden Titelfiguren sind ideal in Stimme und Spiel. Schoecks Sopran blüht schon in der Blitzentwicklung der Gänsemagd zum Erwachsenwerden voll auf. Davislim als Königssohn hat alles für die lyrischen Piano-Flächen beim Kennenlernen und auch die dramatischen Attacken beim Volksfest in Hellabrunn. Mit beeindruckender Kondition nimmt er sogar die Stellen mit leichterer Deklamation voll kantabel. Nur im Finale des zweiten Aktes, wenn das Paar zusammengeschlagen wird, zeigt er Verletzlichkeit.
Johan Hyunbong Choi als Spielmann akzentuiert mehr die lyrischen als burlesken Akzente. Er und Wioletta Hebrowska als Hexe geben ein packendes zweites Paar. Einen besonders eindrucksvollen Akzent setzt die Regie: Offenbar haben die Hexe und der Spielmann eine mit einem scharfen Keil beendete Liebesgeschichte hinter sich. Auch vokal betont Hebrowska die Noblesse einer lebenserfahrenen weisen Frau. Charakterfarben setzen Gregor Dalal als derber Holzhacker und Youn-Seong Shim als vom Hersteller zum Vertreter mit Sortimentskoffer aufgestiegenen Besenbinder. Die Figur von dessen Töchterchen wird aufgeteilt in ein kindliches Double der Gänsemagd und eine Scharführerin der „letzten Generation“ (Elisabeth Quick).
Henning Ehlert, der sich das Stück ausdrücklich gewünscht hatte, findet am Pult mit Nachdruck und Kraft zu den unzählbaren Schönheiten dieser Partitur. Das Sinfonieorchester Münster liefert einen himmelhoch jauchzenden und zu Tode betrübenden Klangrausch.
Roland H. Dippel
„Königskinder“ (1897/1910) // Märchenoper von Engelbert Humperdinck