Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025) „Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund
Wenn das Publikum den Zuschauersaal des Wiesbadener Staatstheaters betritt, ist auf der Bühne bereits eine Piraten-Motto-Party im Gange, zu der eine Texteinblendung erläutert, dass der Geschäftsmann Daland eine solche alle sieben Jahre veranstaltet. Zur Ouvertüre wird auf eine Leinwand ein wildes Amalgam aus Seefahrer-, Mantel-und-Degen- sowie Gruselgeschichte in Schwarz-Weiß-Optik projiziert: Eine junge Frau sitzt träumend am Spinnrad in einer Burg an felsiger Küste, davor brandet das Meer. Ein Seefahrer naht auf seinem Schiff, geht an Land, führt ein paar Degenkämpfe, erreicht endlich das Burgfräulein und – beißt ihr in den Hals (!).
Weil dies in Nachahmung expressionistischer Stummfilmästhetik mit einer Überzeichnung von Gestik und Mimik einhergeht, möchte man es für eine Parodie halten. Die Regie von Martin G. Berger meint es aber bitterernst. Sie deutet die Sage nämlich psychologisch als Ausdruck eines verdrängten Kindesmissbrauchs, der allmählich in eingeblendeten Filmrückblicken offenbart wird. Als dessen Konsequenz habe Dalands Frau einst ihren Mann verlassen und die Teenager-Tochter Senta mit sich genommen, um sie vor weiteren sexuellen Übergriffen des Vaters zu bewahren. Nun kehrt die erwachsene Senta zurück. In dieser Deutung ist der Holländer das Alter Ego Dalands, eine Projektion seiner düsteren Triebe.
Leider ist es unmöglich, die grotesk überzeichnete Spukgestalt mit überlangem Mantel, Piratenhut und Zottelbart (Kostüme: Esther Bialas) auch nur für eine Sekunde ernst zu nehmen. Schon deswegen funktioniert das Regiekonzept nicht, von den permanenten Reibungen des gesungenen Textes mit der gezeigten Handlung ganz abgesehen. Alles wirkt wie eine schräge Mischung aus Murnaus „Nosferatu“ und Disneys „Käpt’n Blackbeards Spuk-Kaschemme“. Entweder ist diese Komik unfreiwillig oder sie ist dem Thema des inzestuösen Kindesmissbrauchs unangemessen.
Schade ist es um die Besetzung, denn mit Tommi Hakala steht in der Titelpartie ein Sänger zur Verfügung, dessen kerniger Heldenbariton mühelos eine ungefährdete Höhenlage mit satter Tiefe verbindet. Seine Auftrittsarie („Die Frist ist um“) ist der erste musikalische Höhepunkt des Abends. Ideal besetzt ist die Senta mit Dorothea Herbert. Ihre Stimme besitzt jugendliche Frische und Kraft ohne Schärfe. Ohne Anstrengung kann sie in der „Ballade“ die Höhen attackieren, reich ist ihr Spektrum an Klangfarben und dynamischer Differenzierung. Young Doo Park bewährt sich als Daland mit seinem sonoren Bass, während Aaron Cawley als Erik sich nach starkem Beginn zunehmend mit der Höhenlage abmüht. Mühelos frisch präsentiert sich Lukas Schmidt als Steuermann, mit tadellosem Mezzo gibt Ariana Lucas die Mary. Nach der uneinheitlichen Ouvertüre fasst das Orchester unter seinem neuen Generalmusikdirektor Leo McFall im weiteren Verlauf Tritt und zeigt insgesamt eine solide Leistung. Der Chorklang ist kräftig und präsent.
Und doch läuft dieser musikalisch ordentliche und sängerisch teils beachtliche „Holländer“ szenisch in den Untiefen eines unausgegorenen Regiekonzepts auf Grund.
Dr. Michael Demel
„Der fliegende Holländer“ (1843) // Romantische Oper von Richard Wagner
Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Wiesbaden