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Rezensionen

Märchenpoesie ohne Katastrophenschutz

Münster / Theater Münster (Oktober 2024)
Humperdincks „Königskinder“ als soziale Drei-Generationen-Story

Münster / Theater Münster (Oktober 2024)
Humperdincks „Königskinder“ als soziale Drei-Generationen-Story

Gegen das Zeitphänomen der digitalen Entfremdung sind diese üppige Märchenoper und diese Produktion ein wunderbares Gegenmittel. Noch nicht allzu häufig, aber regelmäßig erinnern sich Theater inzwischen wieder an Engelbert Humperdincks neben „Hänsel und Gretel“ zweiten großen Erfolg „Königskinder“ in der Opernfassung für New York 1910. Das Experiment eines Melodrams mit in den Noten fixierten Sprechhöhen hatte sich im Münchner Nationaltheater 1897 als zu schwieriger Brocken erwiesen. Die Gänsemagd und der Königssohn überwinden in Elsa Bernstein-Porges’ Schauspiel soziale Schranken, scheitern aber an der im primitiven Vorteilsdenken befangenen Umwelt. Deshalb gehen beide zugrunde. Damit drängen in dieses Märchen auch immer wieder die Sozialmiseren vor 1914.

Die realistischen Ansichten auf einer frühsommerlichen und einer herbstlichen Fotografie aus Wäldern des Münsterlandes, die aus einem Fotowettbewerb für die Neuinszenierung ausgewählt wurden, verbinden Natursehnsucht und die Preziosität des Werks. Regisseurin Clara Kalus, Bühnenbildner Dieter Richter und Carola Valles mit den Kostümen erarbeiten drei Zeitebenen: Königssohn und Gänsemagd agieren in der Sphäre eines Kunstmärchens aus den eskapistischen Strömungen um 1900. In der Stadtgesellschaft Hellabrunn protzt und prollt eine westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Und sie stürzt mit raubeiniger Randalierlust auf alle, für welche solche egomanische Selbstgefälligkeit nicht des Volkes wahrer Himmel ist. Der von Anton Tremmel super einstudierte Chor und der Theaterkinderchor Gymnasium Paulinum setzen scharfe Akzente. Der zweite Akt ist bestes Spielfutter.

Garrie Davislim und Anna Schoeck zeigen, wie aus überwältigender Sympathie tiefe Emotionen entstehen und dazu auch der Erkenntniszuwachs durch den Schmerz gehört. Die beiden Titelfiguren sind ideal in Stimme und Spiel. Schoecks Sopran blüht schon in der Blitzentwicklung der Gänsemagd zum Erwachsenwerden voll auf. Davislim als Königssohn hat alles für die lyrischen Piano-Flächen beim Kennenlernen und auch die dramatischen Attacken beim Volksfest in Hellabrunn. Mit beeindruckender Kondition nimmt er sogar die Stellen mit leichterer Deklamation voll kantabel. Nur im Finale des zweiten Aktes, wenn das Paar zusammengeschlagen wird, zeigt er Verletzlichkeit.

Johan Hyunbong Choi als Spielmann akzentuiert mehr die lyrischen als burlesken Akzente. Er und Wioletta Hebrowska als Hexe geben ein packendes zweites Paar. Einen besonders eindrucksvollen Akzent setzt die Regie: Offenbar haben die Hexe und der Spielmann eine mit einem scharfen Keil beendete Liebesgeschichte hinter sich. Auch vokal betont Hebrowska die Noblesse einer lebenserfahrenen weisen Frau. Charakterfarben setzen Gregor Dalal als derber Holzhacker und Youn-Seong Shim als vom Hersteller zum Vertreter mit Sortimentskoffer aufgestiegenen Besenbinder. Die Figur von dessen Töchterchen wird aufgeteilt in ein kindliches Double der Gänsemagd und eine Scharführerin der „letzten Generation“ (Elisabeth Quick).

Henning Ehlert, der sich das Stück ausdrücklich gewünscht hatte, findet am Pult mit Nachdruck und Kraft zu den unzählbaren Schönheiten dieser Partitur. Das Sinfonieorchester Münster liefert einen himmelhoch jauchzenden und zu Tode betrübenden Klangrausch.

Roland H. Dippel

„Königskinder“ (1897/1910) // Märchenoper von Engelbert Humperdinck

Infos und Termine auf der Website des Theaters Münster

Musikalisches Juwel

Wien / Neue Oper Wien (Oktober 2024)
Pascal Dusapins „Passion“ nimmt der Liebe ihre Leichtigkeit

Wien / Neue Oper Wien (Oktober 2024)
Pascal Dusapins „Passion“ nimmt der Liebe ihre Leichtigkeit

Entspannt sitzt Pascal Dusapin vor der Vorstellung im Café des MuTh und gibt seelenruhig Autogramme. Er signiert nicht einfach, er zeichnet Notenlinien. Begeistert bedanken sich die Autogrammjäger. Dusapin, der schon durch seine auffällige Löwenmähne ins Auge fällt, wurde 1955 in Nancy geboren und gilt als wichtiger Vertreter avantgardistischer und emotional tiefgehender Musik. In Österreich ist er ein eher unbekannter Name. Daher ist es wieder einmal dem unermüdlichen Leiter der Neuen Oper Wien, Walter Kobéra, hoch anzurechnen, dass man das Werk dieses französischen Komponisten kennenlernen darf.

„Passion“ wird in Österreich zum ersten Mal gezeigt; die Uraufführung fand 2008 in Aix-en-Provence statt. Die Choreografin und Tänzerin Trisha Brown inszenierte die Oper als Tanzstück, zwei Jahre später stellte Sasha Waltz das Werk in ihrer Interpretation bei der Biennale di Venezia vor. Auch dort stand die Körperlichkeit im Vordergrund. In Wien ist die Oper kein Tanzstück, dennoch wird den Sängerinnen und Sängern in der Inszenierung von Ursula Horner eine Menge an Körperarbeit abverlangt. Von der Handlung allein ist nicht viel zu holen in Dusapins Werk, für das er mit Rita de Letteriis das Libretto verfasste. Lei und Lui sind verliebt und tasten sich vorsichtig an eine Beziehung heran. Doch bald verdunkelt sich das Liebesglück. Lui wird zunehmend besitzergreifender, während Lei versucht, sich aus den Fesseln der Emotionen zu befreien. Doch sie hat keine Chance: Der Brautschleier wird für sie zum Leichentuch. Gli Altri, die Anderen, können das Drama nur beobachten und begleiten.

Mit ästhetischen Bewegungen und starken Gruppenbildern wird die Tragik dieser allzu leidenschaftlichen Liebe präsentiert. Eine wichtige Rolle spielen die Kostüme (Melanie Jane Frost). Gli Altri tragen einfache schwarze Hosen und Oberteile, während Lei und Lui in ihren weißen Barockgewändern hervorstechen. Nach und nach schälen sie sich aus den einzelnen Kleidungsstücken, bis Lei am Ende in einem einfachen weißen Hemd ungeschützt auf der Bühne steht, während Lui mit ihrem Korsett kämpft. Dusapins Musik ist fein und intim, experimentell, aber stets eingängig. Besonders prägend setzen sich Flöte und Harfe aus dem Orchester durch, das Klangbild ergänzen Live-Elektronik, Cembalo, Oud und das Röcheln, Flüstern, Ächzen und laute Atmen der Protagonisten auf der Bühne.

Die türkische Sopranistin Melis Demiray meistert bravourös die anspruchsvolle Partie und bewegt sich dabei tänzerisch elegant auf der Bühne. Bariton Wolfgang Resch steht ihr in nichts nach, auch wenn seine musikalische Rolle etwas geringer ausfällt. Die sechs weiteren Sänger – hinreißend das PPCM Vokalensemble – sind perfekt eingesetzt und bilden einen würdigen Rahmen für das verzweifelte Paar. Das amadeus ensemble-wien beweist unter der Leitung von Walter Kobéra einmal mehr, wie subtil das Orchester mit zeitgenössischen Tönen umgehen kann. Das Publikum bedankt sich für den interessanten Abend mit heftigem Applaus.

Susanne Dressler

„Passion“ (2008) // Oper von Pascal Dusapin

Versuchskaninchen

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2024)
Alban Bergs „Wozzeck“ als Proband von Medizin, Militär, Kirche und Politik

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2024)
Alban Bergs „Wozzeck“ als Proband von Medizin, Militär, Kirche und Politik

Ein Geruch hängt über der Bühne. Ein Geruch von Armut, Treibjagd, Ausweglosigkeit und Unheil. Franz heißt der Mensch, das Tier, das Opfer. Unterwegs mit Plastiktüte, stets gehetzt, wird er erst zum Mörder, bevor er Hand an sich selbst legt. Dabei wollte er unbedingt ’raus der Misere seiner kleinen ungeordneten Familie, indem er sich und seinen Leib der wissenschaftlichen Medizin verkaufte. Um diese Dienstleistung spezieller Art kämpft er in seiner Not auch gegen die Menschenmaterial-Konkurrenz.

Doch hier, im sinnfällig schwarzen Opernhaus von Lyon, hat er nach Georg Büchner nicht nur den privaten Interessen eines ehrgeizigen Doktors Folge zu leisten, hier ist er ausgewählter Proband eines weit größeren Menschenexperiments, von dem Medizin, Militär, Kirche und Staat zu profitieren suchen. Etwas unscharf in der Anordnung formuliert: Zu was ist der Mensch fähig? Zu was ist er in der Lage, wird er nur hinreichend drangsaliert? Ein Suchscheinwerfer beleuchtet es konstant.

Nicht Bohnen-Diät, nicht Schöpsenfleisch-Diät, nicht, dass es ihm verboten ist, öffentlich zu husten, wird Franz zur größten Qual – und auch nicht, dass er seine diagnostizierten geistigen Verirrungen pflegen soll –, sondern dieser stattliche Tambourmajor, der so ungeheuren Eindruck macht auf Marie, Franzens Lebensgefährtin. Dieser Tambourmajor ist eingeweiht und Instrument des Forschungsvorhabens; er installiert in Maries enger, billiger Wohnküche eine Überwachungskamera, die Live-Bilder zu senden hat ins wissenschaftliche Zentrum, wo der Doktor, der Hauptmann, ein Pastor sowie ein Minister den Lauf ihrer Untersuchungen verfolgen. Zwei Momente gibt’s, die die Studie arg forcieren: wenn sich der Tambourmajor in der engen Schlafkammer hinter der Küche Marie gefügig macht und Franz von Doktor und Hauptmann dieser Beischlaf gesteckt wird. Nun kennt Wozzeck kein Halten mehr: Marie wird zum Kollateralschaden des Experiments – und wenig später dann ersticht der Proband sich selbst.

Kirche, Militär, Politik aber: Sie wenden sich kopfschüttelnd ab, zeigen sich empört über den „Wissensdrang“ der Medizin. Was bleibt nach Richard Brunels drastischer, fatalistischer, soghafter, großstädtischer und naturferner Inszenierung von starker Personenführung? Es bleibt das gemeinsame Kind von Marie und Franz, das medienabgelenkt nicht so recht begreift, was der Tod seiner Eltern ihm bedeuten wird.

Der Lyoner Intendant kochte selbst, und auch die musikalische Leitung bleibt Chefsache: Daniele Rustioni dirigiert einen zugespitzten, geschärften, dramatisch packenden Berg-„Wozzeck“ – Szene und Graben gehen Hand in Hand. Und Stéphane Degout singt und spielt die Titelrolle ungewöhnlich wehrhaft-kämpferisch, freilich librettogemäß erfolglos, während Ambur Braid als Marie und Pragmatikerin des Lebens sich ungewöhnlich schnörkellos und voluminös entäußert. Vorzüglich daneben: der hohe Tenor von Thomas Ebenstein als Hauptmann.

Rüdiger Heinze

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website der Opéra de Lyon

Feuchtes Grab

Karlsruhe / Badisches Staatstheater Karlsruhe (September 2024)
Leben und Überleben in Ethel Smyths „The Wreckers“

Karlsruhe / Badisches Staatstheater Karlsruhe (September 2024)
Leben und Überleben in Ethel Smyths „The Wreckers“

Die Meere sind leergefischt, die Luft verpestet, der Tod allgegenwärtig. Fressen oder gefressen werden? Eine isolierte Dorfgemeinschaft an der rauen Küste Cornwalls erklärt sich zu „Gottes auserwähltem Volk“ – und macht den Hunger- zum Blutrausch. Mit manipulierten Leuchtfeuern bringt sie vorbeifahrende Schiffe zum Kentern, tötet die Überlebenden, zehrt von der Beute. Doch dann erwachen vereinzelt Zweifel und Reue – und ein fanatischer Mob ruft zum „Jüngsten Gericht“ auf …

Die längst überfällige Würdigung weiblicher Komponistinnen hat in den letzten Jahren spürbar an Fahrt aufgenommen. An der Britin Ethel Smyth (1858-1944) kommt man dabei kaum vorbei – mit gutem Grund, wie die Karlsruher Premiere von „The Wreckers“ mit einem großen Ausrufezeichen unterstreicht. Ihr lange als Geheimtipp gehandeltes „Lyrical Drama“ gilt vielen als „Missing Link“ in der britischen Operngeschichte zwischen Purcell und Britten, uraufgeführt knapp 40 Jahre vor „Peter Grimes“. Das Badische Staatstheater hat sich für die englischsprachige Fassung von 1909 entschieden: ein atmosphärischer Pluspunkt dieser originär britischen Küstenoper gegenüber den französischen und deutschen Libretto-Varianten.

Nicht minder originär ist die Klangsprache, in der große Chöre in hitzigen Attacken aufbranden, aber immer auch Raum für Inseln der Intimität bleibt. Smyth war eine Instrumentierkünstlerin, und die lautmalerisch auftrumpfende Badische Staatskapelle unter GMD Georg Fritzsch bleibt dem weder in der Geschichte selbst noch im sinfonischen Zwischenspiel „On the Cliffs of Cornwall“ einen Beweis schuldig. Entfesselte Natur, sich aufbäumende Seele – so manche Oper wirkt heute wie ein staubiges Relikt aus längst vergangenen Tagen, diese aber definitiv nicht.

Das spielt Regisseur Keith Warner in die Karten. Er verlegt die Handlung in eine vage angedeutete Zukunft. Gleich einer ausgehungerten, sektenhaften Raubtier-Meute lauert der energiegeladene Badische Staatsopernchor (Einstudierung: Ulrich Wagner) in einem rostigen U-Boot auf seine nächsten Opfer, von oben drücken stürmische Wellen herein. Atmosphäre steht im assoziationsreichen Bühnenbild von Tilo Steffens an erster Stelle, Gasmasken und religiöse Versatzstücke (Kostüme: Julia Müller und Verena Polkowski) lassen die Zeiten verschwimmen. Suggestives, konzentriertes, aber nie aufgesetztes Theater ist das. Nicht zufällig steht gerade diese Smyth-Oper 118 Jahre nach ihrer Uraufführung allein in dieser Saison auf gleich drei deutschen Spielplänen, zeigt sie doch, welche Abgründe sich bei der Paarung von selbst gerichtetem Überlebensinstinkt, religiösem Fanatismus und „Herdentrieb“ auftun – Musiktheater am Puls der Zeit.

Abgerundet wird der Gesamteindruck von einer starken Premierenbesetzung. Sopranistin Ralitsa Ralinova liegt das Jugendlich-Lyrische mit einem Schuss dramatischer (Messer-)Spitzen sehr, ihr Porträt der eifersüchtigen Avis lebt von aufregenden Schattierungen auch im Schauspiel. Der prachtvoll schimmernde und dann wieder angemessen fahle Bass von Konstantin Gorny als Pastor und Anführer Pascoe steht dem in Nichts nach, anders als sein etwas eindimensional angelegtes Rollenprofil seitens der Regie. Brett Spragues schlanker, bardengleicher Tenor auf Tuchfühlung mit den intensiven dramatischen Ausbrüchen von Mezzosopranistin Dorothea Spilger verleiht den sich liebenden Außenseitern Mark und Thirza lichte Konturen bis in den „Verrätertod“. Und auch das weitere Ensemble (Melanie Lang, Klaus Schneider, Armin Kolarczyk und Liangliang Zhao) verdient unbedingt Erwähnung.

Florian Maier

„The Wreckers“ (1906/09) // Lyrical Drama von Ethel Smyth

Infos und Termine auf der Website des Badischen Staatstheaters Karlsruhe

Tosca on Stage

Erfurt / Theater Erfurt (September 2024)
Ein Perspektivenwechsel für Puccinis Oper

Erfurt / Theater Erfurt (September 2024)
Ein Perspektivenwechsel für Puccinis Oper

Das Erfurter Theater wirbt mit dem Konzept „Tosca on Stage“ für seine neue Inszenierung. Es bietet daran zumindest eine passive Zuschauer-Teilnahme, und die 75 Plätze im Bühnenhalbrund sind fast alle besetzt. Diese Zuschauer, die zuvor Einblick in die Bühnentechnik erhalten, sehen die Vorstellung von der Hinterbühne aus und bilden einen Teil der Bühnenkulisse, so die Idee von Regisseur Stephan Witzlinger und Bühnenbildner Hank Irwin Kittel.

Auch in seiner Inszenierung entwickelt Witzlinger eine eigene Sichtweise auf das höchst dramatische Werk. Seine Schlüsselfigur ist der dämonische Scarpia (Máté Sólyom-Nagy), der – selbst mit einigen Ticks behaftet – den satanischen Plan schmiedet, Tosca das Messer zu überlassen, in dem grausamen Wissen, dass er am Ende der tödliche Sieger sein wird. Um diesen dramaturgischen Kniff gestaltet Witzlinger seine auf die Drehbühne gerichtete Regie. Die Ortswechsel übernehmen wenige Gegenstände und der Chor. Alles wird von einer pointierten Lichtregie unterstützt, die diese Fokussierung intensiv ausleuchtet. Witzlinger versteht es, die Charaktere überzeugend herauszuarbeiten, und betreibt eine sehr agile Personenführung. Die Einzel- und Gruppenhandlungen besitzen eine hohe Intensität und ziehen die Zuschauer von beiden Seiten in das Geschehen hinein. Auch die Kostüme von Hank Irwin Kittel unterstreichen die Handlungsstränge intensiv.

Die Sängerinnen und Sänger überzeugen insgesamt mit hoher stimmlicher Qualität. Jérémie Schütz präsentiert einen stimmlich emotional aufwühlenden Cavaradossi, Claire Rutter als Tosca steht ihm stimmlich nicht nach. Beide Gäste singen mit viel Volumen. Als Scarpia betritt Máté Sólyom-Nagy einen dramaturgisch eigenen Weg, den er teils mit sensiblem und teils mit sehr robustem Schauspiel ausfüllt. Gesanglich fehlt ihm manchmal die grausame Konnotation, aber er überzeugt mit seinem „teuflischen Spiel“. Eine echte Freude in der Inszenierung ist Kakhaber Shavidze. Er spielt nicht einen zurückgenommenen und unscheinbaren Küster, sondern glänzt durch freundlich organisierendes Benehmen und amüsiert das Publikum mit seinem verschmitzten Auftritt. Auch Borislav Rashkov als Angelotti und Tristan Blanchet als Spoletta können darstellerisch überzeugen.

Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Clemens Fieguth. Es gelingt ihm, Tempi und Dynamik mit dem Philharmonischen Orchester Erfurt und den Sängern gut umzusetzen. Zwischen dem Orchester und Tosca gibt es bisweilen Temposchwankungen. Doch das Zusammenspiel mit dem Opernchor des Theaters Erfurt fasziniert das Publikum. Auch der Kinderchor bildet eine spannende Klangfacette im musikalischen Gesamteindruck. Unvergesslich ist das Glockenspiel zu Beginn des dritten Aktes.

Larissa Gawritschenko und Thomas Janda

„ Tosca“ (1900) // Melodramma von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Theaters Erfurt

Rätselhaft

Bremerhaven / Stadttheater Bremerhaven (September 2024)
Puccinis „Turandot“ im Drogenrausch

Bremerhaven / Stadttheater Bremerhaven (September 2024)
Puccinis „Turandot“ im Drogenrausch

Die drei Rätsel, die Prinzessin Turandot stellt, werden von Prinz Calaf zwar gelöst, rätselhaft aber bleibt in der Inszenierung von Philipp Westerbarkei trotzdem vieles. Das beginnt mit dem Schauplatz: Von einem China aus märchenhaften Zeiten ist nicht viel zu sehen, eher weht mit einem Art-déco-Stil der 1920er Jahre ein Hauch von „Babylon Berlin“ über der Szenerie. Bevor die eigentliche Oper mit ihren wuchtigen Orchesterschlägen beginnt, erklingt die Melodie von „Nessun dorma“ am Klavier. Eine junge Frau räkelt sich lasziv und setzt sich einen Schuss Rauschgift. Es ist Turandot, die die gesamte Handlung offenbar nur im Drogenwahn durchlebt. Die meist dunkel gehaltene Bühne (ebenfalls von Westerbarkei) wandelt sich durch Vorhänge und Lichtstimmungen. Im Bühnenhintergrund erscheint eine riesige, fahle Mondscheibe. Bei den Kostümen (Tassilo Tesche) dominiert Schwarz. Nur Turandot trägt zeitweilig ein blaues Gewand und einen üppigen Federkopfputz. Immer, wenn Calaf ein Rätsel gelöst hat, legt sie ein Kleidungsstück ab: ihren Federputz, ihren Umhang und später sogar die Perücke.

Die drei Minister sind skurrile Figuren. Warum sie sich zwischendurch entkleiden und neckische Spielchen vollführen, ist unklar. Auch die Frage, warum Calaf am Ende der Oper wie tot am Boden liegt, bleibt offen. Zumindest sieht es nicht nach einem Happy End aus. Aber wenn die Handlung nur als Traum oder Rausch gesehen wird, sind die Gesetze der Logik ohnehin außer Kraft gesetzt. Da kommt es vor allem auf eine spannende Personenführung an. Und die ist Westerbarkei durchaus gelungen.

Langweilig ist diese „Turandot“-Inszenierung in keinem Moment. Dafür sorgt schon die packende musikalische Leistung. Mit Thomas Paul steht ein hervorragender Calaf auf der Bühne. Seine kraftvolle und strahlende Tenorstimme kommt ohne Mühe über das Orchester. Sein schönes Timbre verfärbt sich auch nicht in extremer Lage. „Non piangere, Liù“ und natürlich das bravourös geschmetterte „Nessun dorma“ werden zu Höhepunkten der Aufführung. Auch Agnes Selma Weiland kann in der Titelpartie überzeugen. Sie hat die für diese Rolle notwendige Durchschlagskraft und sichere, fast schneidende Höhe. In leiseren Passagen verliert ihre Stimme nur geringfügig an Substanz. Victoria Kunze ist eine der vielseitigsten Sängerinnen im Bremerhavener Ensemble. Als Liù trifft sie mit ihrem beseelten Gesang mitten ins Herz. Ihre Selbstopferung aus Liebe ist überzeugend und berührend.

Einen überwältigenden Eindruck hinterlassen die von Mario Orlando El Fakih Hernández und Edward Mauritius Münch bestens einstudierten Chöre. Und Marc Niemann am Pult des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven musiziert einerseits so wuchtig und andererseits so fein differenziert, dass keine Wünsche offenbleiben. Seine dynamische und stimmige Interpretation verdeutlicht einmal mehr, zu welchen Höchstleistungen ein kleines Haus wie Bremerhaven fähig ist. Intendant Lars Tietje sollte sich fragen, ob der zurzeit schwelende Konflikt mit dem Orchester wirklich nötig ist.

Wolfgang Denker

„Turandot“ (1926 posthum) // Dramma lirico von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Stadttheaters Bremerhaven

Kamera aus!

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2024)
„Hoffmanns Erzählungen“ scheitern am Cinemascope-Format

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2024)
„Hoffmanns Erzählungen“ scheitern am Cinemascope-Format

Wenn Mariame Clément mit Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ eines konsequent gelingt, dann, der „Opéra fantastique“ gehörig die Fantasie auszutreiben. Ihre Inszenierung bei den Salzburger Festspielen soll die Grenzen zwischen Kunst und Künstler verschwimmen lassen: Ihr Hoffmann ist ein sensibler, überspannter Regisseur, der seine Erzählungen an diversen Filmsets mit der Kamera einfängt. Speziell im Antonia-Akt wechselt die Perspektive zwischen „Action!“ und Backstage gefühlt sekündlich – man fragt sich des Öfteren, ob Clément eigentlich selbst noch im Blick hat, was im emotionalen Straucheln der Titelfigur wirklich „echt“ und was Drehbuch ist.

Das gibt der Produktion einen extrem verkünstelten, unnötig verkopften, pseudo-intellektuellen Touch. Und nimmt der Geschichte einen beträchtlichen Teil ihres Zaubers, nicht zuletzt auch durch aschgraue Bühnentristesse (Ausstattung: Julia Hansen). Schade, hält doch gerade Offenbachs posthum uraufgeführter Klassiker eigentlich ein wahres Füllhorn an Inspiration bereit. Übermäßiges Gewusel (Stichwort Filmset) und fade gezeichnete Nebenfiguren tun diesmal aber das Übrige, um die wenigen originellen Momente (etwa ein tänzelnd-konfuser Albtraum in Rot im Giulietta-Akt) schnell vergessen zu machen.

Leider erweist sich auch der Orchestergraben als Problem. Marc Minkowskis Zugriff trägt über weite Strecken zur Nicht-Stimmung bei, die Wiener Philharmoniker fahren unter seiner Leitung lange (viel zu lange!) auf Sparflamme. Das Dirigat klingt dadurch in den ersten Akten arg uninspiriert, zu wenig verspielt und magisch – es fehlt das Ohr für die französische Seele der Partitur. Mit der aufkommenden Dramatik der späteren Akte scheint sich Minkowski wohler zu fühlen, wenn er diese stellenweise auch zu dick aufträgt und dadurch rein lautstärketechnisch insbesondere dem Protagonisten der Titelrolle im Wege steht.

Das macht Benjamin Bernheim zu schaffen. Sein Hoffmann gerät im Großen Festspielhaus zum Drahtseilakt: Feine Lyrismen und der schwärmerische Grundton der Partie sorgen summa summarum zwar für feindosierten Hörgenuss – was aber fehlt sind Ecken und Kanten, die beißende Verbitterung und desillusionierte Härte eines mehrfach traumatisierten und letztlich abgestürzten Künstlers.

Gut, wenn man da eine Muse wie Kate Lindsey an seiner Seite hat. Sie ruft eine unaufgeregte, aber solide Leistung inklusive charmanter Ironie ab und weiß ihre Momente zum Glänzen zu nutzen, etwa in der traumwandlerischen Apotheose der Kaye-Keck-Fassung, wenn ihre Stimme mit einem famosen Solo gleichsam schwerelos über der stilsicheren Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Alan Woodbridge) schwebt. Die drei Geliebten werden von Kathryn Lewek verkörpert. Unterm Strich kann sie drei Erfolge verbuchen, wenn auch mit deutlicher Tendenz zur Olympia, deren herrliche Koloraturen wie mühelos fließen. Ebenfalls gestaltwandlerisch präsentieren darf sich Christian Van Horn, dessen Bassbariton jedoch zu blass bleibt – von seinen Widersachern macht Dr. Miracle noch am meisten Eindruck.

Bleibt die ewige Fassungsfrage. Minkowski entscheidet sich für die orchesterbegleitenden Rezitative und hält mit selten gespielten Arien für Nicklausse und Dapertutto gleich noch ein paar musikalische Raritäten bereit. Und doch täuscht auch das nicht über einen Festspielabend weit unter den Erwartungen hinweg.

Florian Maier

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881 posthum) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach auf Basis der kritischen Edition von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck

Infos und Termine auf der Website der Salzburger Festspiele

kostenfreier Stream ab 16. August 2024 auf ARTE Concert

Vergessenes Juwel

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2024)
Verdis Südamerika-Oper „Alzira“

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2024)
Verdis Südamerika-Oper „Alzira“

Im Rahmen ihrer beeindruckenden Serie der frühen Verdi-Opern zeigen die Opernfestspiele Heidenheim in diesem Sommer die selten gespielte „Alzira“, eines der Werke aus den vom Komponisten selbst so bezeichneten „Galeerenjahren“. Die Oper wurde 1845 uraufgeführt, das Sujet nach Voltaire war zu dieser Zeit bereits über 100 Jahre alt.  

Regisseur Andreas Baesler hat auch die Bühne gestaltet und lässt das koloniale Spannungsfeld, das durch die Spanier in Peru entstand, mit relativ wenigen Mitteln, aber sehr intensiv in Einklang mit Verdis kraftvoller Musik aufleben. Damit wirft das Stück auch seine Schatten auf die Zeit der spanischen Kolonisation in den übrigen Andenstaaten Südamerikas und in Mexiko. Man fühlt sich bei der Intensität des Geschehens manchmal an die Geschichten um Pizarro und seine blutige Invasion im damaligen Inkareich erinnert.

Das Bühnenbild enthält auch Assoziationen an das peruanische Ambiente. So wird Machu Picchu angedeutet und immer wieder sieht man Maisfelder. Tanja Hofmanns Kostüme verbinden geschickt moderne und historische Elemente und setzen den stählernen Brustpanzern der Spanier die bunten Inka-Gewänder mit den Knotenschnüren entgegen. Die Handlung ist durchaus dramatisch. Zamoros Ringen um Alziras Liebe mit dem sie ebenso stark begehrenden, aber zunächst keineswegs zimperlichen Gouverneur Gusmano beherrscht das Stück und lässt den interessanten politischen Hintergrund verschwimmen. Dennoch hat Verdi dazu eine zeitweise hochdramatische und das Seelenleben der Protagonisten intensiv ausleuchtende Musik geschrieben. Marcus Bosch interpretiert sie mit seiner Cappella Aquileia eindrucksvoll, das Prädikat „Vergessenes Juwel“ ist durchaus angemessen.

In beeindruckenden Tableaus glänzt wieder einmal der bewährte Tschechische Philharmonische Chor Brünn unter Leitung von Petr Fiala. Marian Pop überzeugt als Gusmano mit einem klangvollen, farbigen Bariton. Er spielt die Rolle ausdrucksstark zunächst hart und rücksichtslos, im Sterben gibt er dann aber auch den großmütigen und gnädigen Machthaber. Sung Kyu Park stellt Inkahäuptling Zamoro mit einem gegenüber dem Vorjahr stark verbesserten Spinto-Tenor, kraftvollen Spitzentönen und authentischem Spiel auf die Bühne. Ania Jeruc ist eine sehr gute lyrisch-dramatische Alzira mit leuchtendem Sopran und hoher Emotionalität. Zurückhaltend gibt Julia Rutigliano mit warmem Mezzo ihre Vertraute Zuma. Auch alle anderen Rollen sind bestens besetzt. Eine Rarität, die man öfter erleben möchte.

Dr. Klaus Billand

„Alzira“ (1845) // Tragedia lirica von Giuseppe Verdi

Hosenrolle neu gedacht

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024)
Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024)
Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus

Sein viertes Musikdrama „Tancredi“ zählt zu den weniger bekannten ernsten Opern Rossinis, die außer beim Festival in Pesaro selten aufgeführt werden. Allemal achtbar hat sich Regisseur Jan Philipp Gloger der dankbaren Aufgabe angenommen, das Stück auf die Bregenzer Festspielbühne zu bringen, wo solche Raritäten in kammermusikalischer kleinerer Besetzung traditionell ihren Platz finden.

Eine junge Frau namens Amenaide soll in diesem Stück einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Ihr Vater – hier ein Mafioso im Drogengeschäft – drängt sie dazu, um den Zusammenhalt mit einer verfeindeten Familie zu stärken, die sich vom selben Feind bedroht sieht. Amenaide aber trägt bereits eine andere tiefe Liebe im Herzen: Tancredi ist ihre Geliebte. Geliebte? Ist der Titelheld denn nicht ein Mann? Eigentlich schon, allerdings in Hosenrolle. Warum also sollte die vorgesehene Mezzosopranistin nicht einmal als Frau erscheinen, womit die Liebe, um die es hier zentral geht, eine gleichgeschlechtliche ist, auch wenn die Geschichte mit einem männlichen Tancredi genauso gut funktioniert hätte? Wer will, kann diese Variante als das Bemühen deuten, Oper vielfältiger, diverser oder woker zu machen, oder auch einfach nur einem lesbischen Publikum Identifikationsfiguren zu bieten, die das Musiktheater anderweitig nicht hergibt. Jedenfalls funktioniert die Geschichte ohne Verrenkungen und radikale Eingriffe, die Rossini zuwiderlaufen würden. Ben Baurs Bühne zeigt eine gelungene Kombination alter Architektur und moderner Möblierung, mit antiken Rundbögen eines alten Palazzos und heutig eingerichteten Wohnräumen samt Küche und Fitnessstudio.

Wie Amenaide um ihre Liebe kämpft und sich bemüht, der Geliebten bis zum tragischen, tödlichen Ende ihre Treue zu beweisen, singt und spielt Mélissa Petit mit ihrem schlank geführten, höhen- und koloraturensicheren Sopran ausgezeichnet. Anna Goryachova in der Titelrolle steht ihr mit ihrem fülligen, warmen Mezzo in nichts nach. Unweigerlich leidet man mit, wie sie über so lange Strecken unnötig leidet, in der festen Überzeugung, die Freundin würde sie hintergehen.

Nicht minder exquisit sind die männlichen Hauptpartien besetzt: Antonino Siragusa gefällt mit seinem hellen, in allen Lagen agilen, geschmeidigen Tenor als lange Zeit gnadenloser Vater. Andreas Wolf gibt mit seinem Bassbariton überzeugend einen höchst rüden Freier Orbazzano. Als Amenaides Vertraute Isaura ist in kleinerer Rolle Mezzosopranistin Laura Polverelli eine der schönsten Arien in der Oper mit einem bezaubernden Klarinettensolo vorbehalten. Auch sie verfügt über eine große Stimme, allerdings auch über ein orgelndes Vibrato.

Leider wackelt es häufig zwischen Bühne und Graben, vor allem bei Übergängen und auf Strecken endlos langer Koloraturen. Selten einmal sind der Prager Philharmonische Chor und die Sänger mit den Wiener Symphonikern auf den Schlag zusammen, was auf Dauer von drei Stunden ermüdet und zeigt, dass es der so leichtfüßig daherkommende Rossini doch ziemlich in sich hat. Zudem feilt Dirigentin Yi-Chen Lin zu wenig an der Dynamik, an farblichen Schattierungen und am Ausdruck, sodass die Musik sehr gleichförmig erscheint. Die schönsten Momente in der Musik bescheren rundum die erstklassigen Bläsersolisten, die der Reihe nach ihren Auftritt haben.

Kirsten Liese

„Tancredi“ (1813) // Melodramma eroico in der Ferrara-Fassung

Haus der Blinden

München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024)
Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel

München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024)
Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel

„Ich fühle mich krank hier“, gesteht Mélisande zögernd ein. Man kann es ihr in der Münchner Neuproduktion von Claude Debussys einziger Oper in jeder Sekunde nachempfinden. Von den ersten Takten an zieht sich im Prinzregententheater die Dunkelheit zusammen, musikalisch, bühnenästhetisch, emotional. Regisseurin Jetske Mijnssen sperrt die Natur konsequent aus und verortet die Geschichte ausschließlich in den Innenräumen von Schloss Allemonde – kein Wald, kein Park, keine Felsengrotte wie im Original. Ben Baurs Ausstattung ist entsprechend reduziert: dunkler Parkettboden, eine Chaiselongue, zwei Kerzenleuchter, Bett, Tisch, Stühle, steif-konventionelle Kleidung – und nach hinten zu pechschwarzes Nichts, umrahmt von kaltem Neonlicht. Den verrätselten Symbolismus dieser hermetisch abgeriegelten Welt, der schon Maurice Maeterlincks Dramenvorlage berühmt machte, übersetzt Mijnssen konsequent in die großbürgerliche Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende – 1902 wurde Debussys Oper in Paris uraufgeführt.

Der Mief eines stumm an sich selbst erstickenden Familienclans tritt in dieser Lesart ungeschönt und mit fein gearbeiteten Gesten hervor, ohne auf überzogen soapige Effekte zu setzen. Das würde auch gar nicht passen zu „Pelléas et Mélisande“, diesem leisen, traumverlorenen „Drame lyrique“. Inmitten der subtilen Märchenanklänge im Libretto steckt im Kern die Tragödie einer aus vier Generationen bestehenden Familie – und genau auf die kommt es Mijnssen auch an, mit all dem nur zwischen den Zeilen zu Lesenden, das am Esstisch unausgesprochen bleibt.

Alles andere als erstickender Mief wird in dieser zweiten Premiere der Münchner Opernfestspiele von einem überragenden Ensemble aufgeboten. An erster Stelle zu nennen ist Christian Gerhaher, auf den die ganze Produktion wie zugeschnitten zu sein scheint: Sein Golaud ist eine Charakterstudie sondergleichen, ein getriebener, überspannter, abgründiger Choleriker, der nicht weiß wohin mit seinen jähzornigen Ausbrüchen, die sich in intensivst aufbrodelnder und doch nie eindimensionaler Gesangskunst Bahn brechen. Sabine Devieilhe zeichnet Mélisande, die ihm an den eigenen Bruder entgleitende Frau, nicht nur mit kristalliner Anmut, sondern kratzt immer wieder auch an den brennenden Narben der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihrer Partie. Pelléas, der Dritte im Bunde, kann sowohl mit einem Tenor als auch einem Bariton besetzt werden. Mit Ben Bliss hat sich die Bayerische Staatsoper für Ersteres entschieden, was dank dessen leichtfüßiger Jugendlichkeit und seinem schlanken, betörenden Timbre nicht zuletzt der Abgrenzung der beiden Brüder zugutekommt.

Der erhabene Bass von Franz-Josef Selig als greises Familienoberhaupt Arkel und die bei aller Etikette empathische Geneviève von Sophie Koch tun das ihre zu einem absolut runden Gesamteindruck. Unbedingt zu erwähnen ist auch Felix Hofbauer vom Tölzer Knabenchor, der Golauds Sohn aus erster Ehe – ein verschüchtertes, misshandeltes, stumm leidendes Kind – in seltener Knabensopran-Qualität und mit exzellentem Schauspiel darstellt.

Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht Hannu Lintu. Er verlässt sich nicht allein auf das träumerisch-wogende Schillern in Debussys Partitur, sondern steuert auch auf gezielte musikalische Eruptionen hin, was dem dramaturgischen Spannungsaufbau im Wechselspiel sehr guttut.

Das Element Wasser zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch die Inszenierung, die „Quelle der Blinden“ mündet im letzten Akt in einem die ganze Bühne flutenden Wassersteg – die Brücke ins Jenseits? Dass Jetske Mijnssen nicht krampfhaft versucht, auf all die Fragezeichen von Maeterlinck und Debussy gekünstelt Antworten zu konstruieren, macht diesen Abend zu einem Höhepunkt des laufenden Festspielsommers.

Florian Maier

„Pelléas et Mélisande“ (1902) // Drame lyrique von Claude Debussy

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper