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Rezensionen

Von der Psychologie des Krieges

München / Bayerische Staatsoper (Mai 2023)
Die neue »AIDA« aus der Sicht der Leidenden

München / Bayerische Staatsoper (Mai 2023)
Die neue »AIDA« aus der Sicht der Leidenden

Statt goldener Elefanten paradieren Kriegsversehrte zum Triumphmarsch – erschreckend stimmig zur Musik und mit vorherrschender Botschaft: Krieg ist furchtbar, egal wo. In diesem Setting eines im Kostümbild von Carla Teti angedeuteten östlichen Regimes manifestiert Regisseur Damiano Michieletto Verdis Festmusiken gekonnt zu brutalen Stilmitteln musikalischer Kriegspropaganda. In bläulich-kalt ausgeleuchteten, nicht klar definierten Phantasieräumen (Bühne: Paolo Fantin) – zerbombte Wohnungen, Notunterkünfte – rieselt mehr und mehr Asche aus großen (Einschlag-?)Löchern von der Decke. Nach der Pause dominiert ein riesiger Ascheberg beinahe vollständig die Bühne und hat alles unter sich begraben.

Und in diesem Ansatz liegt auch die große Stärke seiner dystopischen Umdeutung: Michieletto nutzt die kammermusikalische Werksanlage und erzählt die Geschichte ohne jeden Pomp, vor dem Hintergrund einer morbiden Kriegsgeschichte und aus der persönlichen Sicht der Leidenden: Held liebt die falsche Frau, die strategisch passendere Rivalin wird nicht erhört, der Held zum Verräter degradiert und am Ende glücklich im gemeinsamen Tod mit der unselig Geliebten. Dabei weichen gängige goldene Ägypten-Klischees der dystopisch-pazifistischen Deutung, etwa wenn parallel zur Huldigung als Kriegsheld eine zweite Video-Handlungsebene Radamès’ psychisches Kriegstrauma thematisiert. Dass erzählerisch nicht immer alles in Gänze aufgeht und am Ende beim Tod in der Gruft etwas zu viel „Luftballon-Idylle“ herrscht, ist nicht weiter schlimm. Erschreckend offensichtlich fügen sich Triumph und Zerstörung sogar musikalisch stimmig ineinander – den einen oder anderen schaurigen Gänsehautmoment inklusive.

Die Schwächen dieser Produktion stecken leider ausgerechnet im wenig homogenen Solistenensemble: Brian Jagde singt den Radamès durchgehend laut, unsensibel und ohne emotional erkennbarem Bezug zur Angebeteten – seine hohen Töne sind manchmal wirklich zu viel des Guten. George Petean als Amonasro klingt im Gegensatz dazu oft harmlos und kommt stellenweise gar nicht über das sehr deftig aufspielende Bayerische Staatsorchester unter Daniele Rustioni. Anita Rachvelishvilis Amneris kämpft sich mehr durch die Partie, als dass sie diese stimmlich gestaltet, die Aida der zu Beginn etwas nervösen Elena Stikhina könnte eine sensible, berührende sein – wenn ihre feinfühlige und innige Interpretation nicht von den Kollegen über den Haufen gesungen würde. Dass sie in ihrer körperlichen Präsenz samt (gewollt) unscheinbarem Kostüm nicht gegen die (übrigens sehr unvorteilhaft gekleidete) Rivalin ankommt, macht es auch nicht besser. Trotzdem mit Abstand die beste sängerische Leistung des Abends. Positiv und bühnenpräsent auch Alexandros Stavrakakis als König, stimmschön Alexander Köpeczi als Ramfis. Ausgesprochen beeindruckend und spannungsgeladen gestaltet der Chor (Einstudierung: Johannes Knecht) die Pianissimi, die selbst von der Hinterbühne aus eine sehr ergreifende Wirkung entfalten.

Iris Steiner

»Aida« (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

Endzeitstimmung in Walhall

Neapel / Teatro di San Carlo (April 2023)
Wagners „Walküre“ im zersprungenen Bilderrahmen

Neapel / Teatro di San Carlo (April 2023)
Wagners „Walküre“ im zersprungenen Bilderrahmen

Im nach einer kürzlichen Renovierung wie neu erstrahlenden, wunderschönen Teatro di San Carlo holt man eine ansehnliche „Walküre“ von Richard Wagner aus dem Archiv, und zwar die Inszenierung von Federico Tiezzi aus dem Jahr 2005. Er zählt mit seinen szenischen Arbeiten zu den führenden Exponenten der italienischen Neo-Avantgarde und unterstreicht das mit der Wahl von Giulio Paolini als einem auf geometrische und architektonische Formen setzenden Bühnenbildner. Giovanna Buzzi schuf die äußerst geschmackvollen Kostüme aus der Entstehungszeit des Stücks.

Es geht Tiezzi vor allem darum, mit den Bildern von Paolini große Harmonie zwischen Wagners Musik und der Szene herzustellen, wobei die Personenregie allerdings bisweilen etwas zu kurz kommt. Drei unterschiedliche Bühnenbilder, in vornehmlich dezenten Pastelltönen, basieren auf einem schlichten neunzellig-kubischen Stangengerüst. Zu Beginn ist darin eine hölzerne stilisierte Weltesche zu sehen, mit dem Schwert durch die zersprungene Glasplatte eines goldenen Bilderrahmens im Stamm. Im zweiten Aufzug finden sich großen Meteoriten im Kubus, als sei Wotans Walhall aus dem All damit bombardiert worden. Bei den Walküren im dritten Aufzug, die sich auch an einer Heldenleiche anatomisch betätigen, dominieren wieder die goldenen Bilderrahmen mit Torsi und anderen Körperteilen griechischer und römischer Krieger.

Warum diese Bilderrahmen? Tiezzi sieht die „Walküre“ als ein bourgeoises Endzeit-Familiendrama à la „Buddenbrooks“, das seinem Untergang entgegengeht. Das vermag er insbesondere in der Figur des Wotan im zweiten Aufzug in dieser Bildästhetik nachvollziehbar darzustellen. Er könnte auch ein Alfred Krupp mit seinem Industrie-Imperium sein. Dazu passen die goldenen Bilderrahmen als Metapher für den entsprechenden Reichtum. Tiezzi sieht in Wotan aber nicht nur Bezüge zu Thomas Mann, sondern auch Shakespeare’sche Implikationen eines Mannes voller Zweifel wie Hamlet oder Richard II. In seinem Regiekonzept spielt sich die Handlung vor allem im Kopf der Akteure ab, was in manchen Szenen wie ein artifizielles Zurückhalten individueller Emotionen wirkt. Das gilt sogar für die Passion Siegmunds und Sieglindes, die fast wie in Trance agieren.

Jonas Kaufmann weiß dieses Konzept eindrucksvoll umzusetzen, zumal es zur Figur des Siegmund passt. Sein angedunkelter kerniger Tenor ist Garant für eine äußerst einnehmende Rollengestaltung. Christopher Maltman debütiert als Wotan mit großer vokaler und darstellerischer Performance, ganz die zentrale Rolle der Figur in dieser Inszenierung verkörpernd. Okka von der Damerau ist eine stimmlich kraftvolle Brünnhilde, bisweilen mit einer leichten Grellheit in den Spitzentönen. Vida Miknevičiūtė gibt eine exzellente Sieglinde, die hervorragend zu Kaufmann passt, und Varduhi Abrahamyan eine nachdrückliche Fricka. John Relyea besticht durch seinen klangvollen Bass und das Walküren-Oktett ist durchwegs bestens besetzt. Dan Ettinger dirigiert mit viel Verve das Orchestra del Teatro di San Carlo, welches seinen Vorgaben eindrucksvoll folgt.

Dr. Klaus Billand

„Die Walküre“ (1870) // Erster Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Wagner am Flipper

Linz / Landestheater Linz (April 2023)
Ein kaum mehr verständliches Regiekonzept für „Die Meistersinger von Nürnberg“

Linz / Landestheater Linz (April 2023)
Ein kaum mehr verständliches Regiekonzept für „Die Meistersinger von Nürnberg“

Zum 10. Geburtstag des 2013 eröffneten Musiktheaters am Volksgarten lässt das Landestheater Linz Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ neuinszenieren. Dafür engagierte man den wenig Wagner-erfahrenen Regisseur Paul-Georg Dittrich, unterstützt wird er von Sebastian Hannak (Bühnenbild), Anna Rudolph (Kostüme) und Robi Voigt (Videodesign). Das Team versucht, das Stück in „bester“ Regietheater-Manier einmal mehr völlig umzukrempeln – allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Ausgangspunkt ist Eva Pogner, aus deren Sicht die Unvereinbarkeit des Kunstbegriffs der Meistersinger mit jenem von Stolzing erlebt werden soll.

Es beginnt in Evas Kinderzimmer mit einem Riesen-Teddybär und aufziehbaren Spielzeugfiguren à la Olympia. Diese vertändeln freilich das ganze Vorspiel, bevor Eva ihren „Helden“ mit anonymer weißer Maske aus einer Spielzeugkiste holt und ihn auf der Festwiese nach dem Preislied wieder in einen solchen verpuppt, um dann mit den Worten „Nicht Meister! – Nein! Will ohne Meister selig sein!“ zu verschwinden. Man will also die Frage stellen, ob die Frau nach heutigen Maßstäben noch so auf der Opernbühne gezeigt werden kann, wie Eva in der Oper von Wagner konzipiert wurde.

Leider verliert dieser an sich löbliche Ansatz schnell an dramaturgischer und darstellerischer Wirkung, wenn die Meistersinger schon im ersten Akt als offenbar hoffnungslos jeden Ernstes verlustig gegangene uniforme Clown-Gruppe gezeigt werden – obwohl sie doch über eine lange Zeit etwas für die Kunst getan haben – und Eva im zweiten Akt fast wie ein Flittchen durch die Männerwelt lichtert. Hier rückt nun ein riesiger Flipper (Pinball) ins Zentrum der Räumlichkeiten, hinter denen die Idee einer Art Reise anhand einer filmischen „Zoom-out-Bewegung“ stehen soll. Dazu streift das Bühnenbild mit übertrieben bunten, kirmesartigen Elementen die Grenzen des Kitsches. Jedenfalls verläuft sich spätestens im dritten Akt das nur durch Lesen eines Programmaufsatzes noch in Grenzen verständliche Regiekonzept, wenn in einem Bunker Sachs mit einem einzigen Flipper befasst ist, dem auf der Festwiese nach und nach per störendem Gabelstapler hereingefahrene Kisten weitere elf hinzufügen. Nachdem die Festwiesengesellschaft verschwunden ist, flippern Nürnberger Kinder wie entfesselt auf ihnen, die immerhin noch jeweils für einen bekannten Komponisten stehen, herum. Die großen Charaktere wie Sachs, Pogner, Beckmesser, aber insbesondere auch Stolzing kommen in diesem Konzept zu kurz. Die Kernaussage der „Meistersinger“ wird nicht erkennbar getroffen.

Musikalischer Lichtblick ist Markus Poschner mit dem Bruckner Orchester Linz, das seine große Wagner-Kompetenz ausspielt, und die von Elena Pierini und Martin Zeller geleiteten Chöre des Hauses. Claudio Otelli singt einen guten, wenn auch – teilweise regiebedingt – nicht allzu persönlichkeitsstarken Sachs. Dominik Nekel ist ein klangvoller Pogner, Ralf Lukas ein exzellenter Beckmesser in Stimme und Spiel, Erica Eloff eine vielseitige Eva mit kraftvollem Sopran und Heiko Börner ein vokal wenig überzeugender Stolzing.

Dr. Klaus Billand

„Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) // Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Landestheaters Linz

Rossini statt Bach und Telemann

Dessau / Anhaltisches Theater Dessau (März 2023)
Die „Petite Messe solennelle“ als schlichtes Ensemblespiel „Ritus“

Dessau / Anhaltisches Theater Dessau (März 2023)
Die „Petite Messe solennelle“ als schlichtes Ensemblespiel „Ritus“

Gioachino Rossini fragte sich selbstironisch, ob seine Messe „heilige“ oder nicht doch eher „vermaledeite“ Musik sei. Er forderte für seine „Petite Messe solennelle“ als Besetzung „12 Sänger von drei Geschlechtern – Männer, Frauen und Kastraten“. Das für einen Privatanlass 1864 entstandene Opus ist im Bach- und Telemann-lastigen Mitteldeutschland ein nur äußerst selten zu hörendes Juwel aus der katholischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts.

Im überkonfessionellen Tanz- und Chorspiel „Ritus“ hat die genderfluide Zukunft schon begonnen. Staunend und neugierig betasten sich die Individuen, bilden in gemessenem Tempo Ornamente aus Armen und Blicken. Durch den Raum schreitet dazu eine stille „Engelsgestalt“ mit Leidensmiene und Jenseitshoffnung (Kerstin Dathe). Das Anhaltische Theater Dessau hat auch die idealen Stimmen: die für Wagners „Rheingold“ zu den Dresdner Musikfestspielen 2023 geholte Sopranistin Ania Vegry, die Belcanto-erfahrene Mezzosopranistin Rita Kapfhammer, den betörenden Tenor Costa Latsos und den Bassbariton Modestas Sedlevičius.

Rossinis „Petite Messe solennelle“ bietet im Vergleich zu vielen Werken der sakralen Chormusik einen Vorteil. Anstelle einer großen Orchester-Besetzung benötigt man nur einen Konzertflügel und ein Harmonium. Alexander Koryakin und Arang Park musizieren auf der Vorbühne unter dem breiten Portal mit dunklen Holzkassetten, die aus dem breiten Parkett ein Gefühl von außerordentlicher Raumtiefe geben.

Zu Beginn erscheinen alle Darsteller in Weiß – mit Hemden, Blusen, T-Shirts, Jogginghose, Sakko, Rock. Ihr erster Auftritt ist gemessen, die Klänge dazu fast karg. Man erkennt nicht, wer zum Chor, zum Ballett oder zu den Musiktheater-Solisten gehört. Hinten ist das einzige Dekorationsstück: das Segment einer umgefallenen Kuppel wie die des Petersdoms in Rom, vor schwarzem Hintergrund. Schlicht und konzentriert sind Guido Petzolds Bühnen- und Lichträume und die Kostüme von Judith Fischer. Ressourcen-Schonung gelingt nicht nur als Behauptung, sondern vor allem als kreative Leistung. Sebastian Kennerknecht bringt Rossinis Musik am Pult bewegend und akzentuiert zum Klingen.

Ballettdirektor Stefano Giannetti hat ein besonderes Faible für große Kirchenmusik, er greift in seiner szenischen Gesamtleitung den langen, ruhigen Fluss auf. Erst schickt er Costa Latsos während seines betörend gesungenen Solos „Domine Deus“ in einen gar nicht so einfachen Pas de deux mit einem Tänzer und später die Sopranistin Ania Vegry in das Duo mit einer Tänzerin, in dem sich die sportive Ebene der Choreografie unter strahlenden Spitzentönen erledigt.

Insgesamt, das merkt man auch am nachhaltig intensiven Premieren-Applaus, gelingt in „Ritus“ ein Hauch von edler Nachdenklichkeit, der die angekündigte Ironie weitgehend vermissen lässt. Zum Glück, denn die undogmatische Spiritualität des Abends gerät zu einem starken Ereignis.

Roland H. Dippel

„Ritus“ (1864/2023) // Tanz- und Musiktheater von Stefano Giannetti zur Musik der „Petite Messe solennelle“ von Gioachino Rossini

Infos und Termine auf der Website des Anhaltischen Theaters Dessau

Wo liegt das Paradies?

Genf / Grand Théâtre de Genève (März 2023)
Christian Josts Flüchtlingsdrama „Voyage vers L’Espoir“

Genf / Grand Théâtre de Genève (März 2023)
Christian Josts Flüchtlingsdrama „Voyage vers L’Espoir“

Ein üppiges grünes Maisfeld – real auf der Bühne und als Video auf der Leinwand. Kinder spielen darin Verstecken. Aber die Idylle trübt. Sie erzählen sich, dass ihre Eltern sie verlassen wollen. Und auch die Musik aus dem Orchestergraben wird bedrohlicher. In Xavier Kollers oscarprämiertem Film „Reise der Hoffnung“ aus dem Jahr 1990 ist es eine zerknautschte Postkarte aus der Schweiz mit Alpenpanorama, die bei Familienvater Haydar die Sehnsucht weckt, seine Heimat Anatolien zu verlassen. Am Grand Théâtre de Genève ist in Christians Josts Oper „Voyage vers L’Espoir“ in der Inszenierung von Kornél Mundruczó (Ausstattung: Monika Pormale) das Maisfeld die Metapher für ein besseres Leben. Oder ist das Paradies schon da? So denkt Haydars Frau Meryem, die glücklich ist mit dem, was sie hat. Den Sandhügel, auf dem sie steht, möchte sie nicht verlassen. Sie gehen trotzdem. Und werden am Ende ihr Kind in den Schweizer Alpen verlieren.

Xavier Kollers tief berührenden, realistischen, unpathetischen Film über das tragische Ende einer illegalen Einwanderung in die Schweiz als Grundlage für eine Oper zu nehmen, ist ein schwieriges Unterfangen. Christian Jost, dessen französischsprachige Oper nach dem Libretto von Kata Wéber eigentlich bereits im Frühjahr 2020 uraufgeführt werden sollte, möchte die tragische Flüchtlingsgeschichte nicht zu konkret erzählen. Deshalb verzichtet er auf gesprochene Worte und klangmalerische Effekte, koppelt den Orchesterpart in weiten Teilen vom Bühnengeschehen ab und entwickelt damit in den drei ineinander übergehenden Akten einen Erzählstrom, der ein Eigenleben führt. Das kann durchaus suggestive Kraft gewinnen, wenn sich im ersten Akt die Solovioline aus den Orchestermassen schält und Emotionen weiterträgt. Jost arbeitet mit durchaus tonalen Klangschichtungen, Wiederholungen und starker Rhythmik, die im zweiten Akt, der die lange Wanderung beschreibt, vom groß besetzten Schlagzeug vorangetrieben wird. Mit Glissandi in Streichern und Bläsern wird der sichere Boden immer wieder verlassen, rutscht weg, gleitet ins Ungewisse. Dirigent Gabriel Feltz mischt mit dem Orchestre de la Suisse Romande gekonnt die Klangfarben, hält die Balance und sorgt dafür, dass die auch mal swingenden Rhythmen im Fluss bleiben. Josts Musik fehlt jedoch eine konkretere theatralische Kraft. Sie kreist um sich selbst, anstatt dem Drama zu dienen.

Das größere Problem des Abends liegt aber im Gesang. Jost hat für alle Figuren kantable Legatolinien komponiert, die zu schön klingen, um wahr zu sein. Kartal Karagedik als Haydar, Rihab Chaieb als Meryem, Ivan Thirion als Lkw-Fahrer Matteo, Denzil Delaere als Mafioso Haci Baba, Julieth Lozano als Ärztin – ob im versifften U-Bahnhof, in der Fahrerkabine oder in der Bar: Jede und jeder singt mit vollem Vibrato und sattem Ton. Keine Figur wird durch ihre Stimme charakterisiert. Und auch die extremen körperlichen und psychischen Belastungen dieser Flucht hinterlassen keine Spuren. Nur Ulysse Liechti als Mehmed Ali, den die Flucht das Leben kostet, hat mit seiner reinen, fragilen Knabenstimme einen besonderen Ton.

Das zweite Problem sind die vielen Videos, die entweder live gefilmt und direkt auf Leinwand übertragen oder von echten Flüchtlingsströmen eingeblendet werden. Das Meiste wird so doppelt und dreifach erzählt. Der Fokus, den diese Geschichte auf der Opernbühne bräuchte, ist dahin. Erst im dritten Akt in den schneebedeckten Alpen wird der Abend atmosphärisch dichter. Hier begleitet das Orchester mit Vibraphon, Streicherteppich und lyrischen Trompeten den Gesang. Nichts lenkt mehr ab vom eigentlichen, tragischen Geschehen. Auch die nüchterne Verhörszene am Ende gelingt stimmig. Noch einmal sieht man die wogenden Maisfelder auf zwei Bildschirmen. Dann versiegt der Klangstrom.

Georg Rudiger

„Voyage vers L’Espoir“ (2023) // Oper von Christian Jost

Große Oper auf kleiner Bühne

Gießen / Stadttheater Gießen (März 2023)
Puccinis „Tosca“ als Kammerspiel

Gießen / Stadttheater Gießen (März 2023)
Puccinis „Tosca“ als Kammerspiel

Das kleine Stadttheater Gießen gönnt sich große Oper. Der Orchestergraben ist für die Besetzung, die eine „Tosca“ erfordert, zu klein, und so werden die Musiker auf der Bühne postiert, wo sie die gesamte hintere Hälfte einnehmen. Der Graben ist abgedeckt und erweitert die Bühne zum Zuschauerraum hin. Die Nähe zum Publikum nutzt Regiedebütant Martin Andersson, um mit seinen darstellerisch überzeugenden Protagonisten ein dichtes Kammerspiel aufzuführen. Dazu braucht es nur wenige Requisiten: ein Gerüst für den Maler Cavaradossi, die Tür zu einer Kapelle, ein Weihwasserbecken und einige Blumen für die Kirche, einen Schreibtisch und ein Sofa für Scarpias Büro im Palazzo Farnese und eine nackte Pritsche für Cavaradossis Gefängniszelle. Die Handlung wird an die Gegenwart herangerückt und läuft flüssig, spannend und ohne Regiemätzchen ab. So könnte auch eine traditionelle „Tosca“ in historischen Kostümen funktionieren.

Darüber legt der Regisseur aber eine zweite Ebene: In Videoeinblendungen, welche auf fünf in halber Bühnenhöhe angeordnete lamellenartige Segel projiziert werden, sieht man die drei Protagonisten in Freizeitkleidung: Scarpia mit Tosca bei der Fahrt auf einer Vespa durch Rom an einem Sommerabend, alle drei beim vergnügten Wasserspiel am Strand, aber auch Scarpia, wie er eifersüchtig ein Tête-à-tête von Tosca mit Cavaradossi beobachtet. Vielleicht hat es diese Szenen tatsächlich gegeben, vielleicht sind darunter Sehnsuchtsbilder Scarpias. Diese Kontrastierung von Bühnengeschehen und Videosequenzen ist sehr reizvoll und verleiht dem Kolportage-Plot des Librettos Tiefe, ohne dabei aufdringlich psychologisierend zu wirken.

Das Philharmonische Orchester Gießen zeigt sich unter der Leitung von Andreas Schüller in guter Form. Die Musiker präsentieren Puccinis farbige Partitur detailreich und luzide. Dabei halten sie sich mit der Lautstärke so nobel zurück, dass das Kammerspiel im Vordergrund nicht übertönt wird. Die jungen Sänger werden zu keinem Zeitpunkt zum Forcieren gedrängt. Ensemblemitglied Grga Peroš präsentiert sich als Scarpia in stupender Form und zeichnet das differenzierte Porträt eines enttäuschten Liebenden, der zum zynischen Gewaltmenschen wird. In der Titelpartie überzeugt Margarita Vilsone mit ihrem hellen, klaren Sopran, mit dem sie indes gelegentlich ein wenig zu stark aufdreht. Michael Ha als Cavaradossi offenbart Spinto-Qualitäten und genießt es sichtlich, saftige Spitzentöne in den Zuschauerraum zu schleudern. Bei der Rücknahme der Lautstärke wirkt sein Timbre ein wenig blass. Insgesamt jedoch ist ein gut aufeinander abgestimmtes Trio in den Hauptpartien zu erleben, das an weit größeren Häusern mühelos bestehen könnte. Ausgezeichnet sind auch die Nebenrollen besetzt. So ist ein musikalisch runder und szenisch spannender Abend zu erleben, der dem Gießener Stadttheater zur Ehre gereicht.

Dr. Michael Demel

„Tosca“ (1900) // Melodramma von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Stadttheaters Gießen

Alles Wahnsinn …

Paris / Opéra national de Paris (März 2023)
Thomas’ „Hamlet“ zwischen den Zeiten

Paris / Opéra national de Paris (März 2023)
Thomas’ „Hamlet“ zwischen den Zeiten

Shakespeare oder Thomas? Das ist bei diesem „Hamlet“ durchaus eine Frage. Natürlich dominiert die Musik des Franzosen Ambroise Thomas (1811-1896), der mit seiner Grand-opéra-Version der Geschichte um den Prinzen von Dänemark sein Publikum vor allem unterhalten wollte. Das gelingt mit der geschmeidigen, groß orchestrierten Musik allemal und heute nicht viel anders als damals. Es sind ja oft die Werke im Windschatten der großen Neuerer, die beim Publikum ankommen. Vor allem, wenn die Oper in musikalischer Haute Couture auf den Laufsteg geschickt wird, wie es Direktor Alexander Neef jetzt in der Bastille macht.

Dirigent Pierre Dumoussaud kann dabei beim fabelhaften Orchestre de l’Opéra national de Paris und dessen Vertrautheit mit dem französischen Idiom voll auf Sinnlichkeit setzen. Er hat aber auch ein so erstklassiges Ensemble zu Verfügung, dass etwaige besondere Rücksicht auf die Reichweite der Stimmen nicht zu seiner Sorge gehören muss.

Für die umfangreiche Titelpartie ist Ludovic Tézier mit seinem Timbre, seiner Mühelosigkeit und vokalen Gestaltungskraft eine Idealbesetzung. Als Ophélie spielt Lisette Oropesa ihren jugendlichen Charme aus und macht ihre Wahnsinnsarie zu einem koloraturblitzenden Höhepunkt auf dem Weg in den Selbstmord. Hamlets Mutter ist mit Ève-Maud Hubeaux genauso souverän besetzt wie Claudius mit Jean Teitgen. Auch das übrige Ensemble bis hin zu den Totengräbern ist handverlesen. Zusammen mit der Choreografie von Claude Bardouil und dem von Allesandro Di Stefano einstudierten Chor bewegt sich die Pariser Oper auf dem Qualitätsniveau, das man vom ersten Haus Frankreichs zurecht erwarten darf.

Darüber hinaus wird das Opern-Schmuckstück aus dem 19. Jahrhundert von Regisseur Krzysztof Warlikowski und Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak zeitgemäß in Szene gesetzt. In Michel Carrés und Jules Barbiers Libretto-Version des Shakespeare-Stückes bringt Hamlet den Mörder seines Vaters um und wird König. Die Regie macht aus Hamlets vorgespieltem Wahnsinn einen Raum – klinisch, vergittert, trist. Die aus den Fugen geratene Zeit ist hier zum Irrenhaus geworden, in dem die Gegenwart im ersten und fünften Akt besonders deprimierend wirkt. Was soll aus so einer Thronbesteigung schon werden. Die mittleren Akte spielen als Erinnerung zwanzig Jahre früher. Ein Zeitsprung, der den Blick auf die Psyche der Akteure schärft und deren Schicksal weiterdenkt. Vielleicht ist es aber auch nur ein Perspektivwechsel, der Hamlets Sicht auf die Welt zeigt. Der Geist des Vaters jedenfalls spukt als weißer Clown durch die Szene, die in den Jugend-Akten elegant attraktive Gertrude sitzt am Anfang und am Ende ergraut im Rollstuhl vorm Fernseher und sieht einen Schwarz-Weiß-Klassiker, Ophélie ertränkt sich in einer freistehenden Badewanne und die Theatertruppe entfaltet absurden Witz. Zum psychologisierenden Hintersinn gibt es also auch die opulente Show. Alles in allem ein Gesamtkunstwerk vom Feinsten.

Roberto Becker

„Hamlet“ (1868/69) // Oper von Ambroise Thomas

Hehre Augenblicke ohne Regietheater

Helsinki / Suomen kansallisooppera (März 2023)
Wagners „Siegfried“ fabelhaft und stringent erzählt

Helsinki / Suomen kansallisooppera (März 2023)
Wagners „Siegfried“ fabelhaft und stringent erzählt

Es ist eine der großen, metaphysisch und philosophisch aufgeladenen Welt-Sekunden im „Ring des Nibelungen“: Brünnhilde erwacht nach langem Schlaf, geweckt von Siegfried, dem Helden, dem Einzigen, der den Feuerring um ihren Felsen durchbrechen konnte, der sie alsbald von der keuschen Unsterblichkeit in die sterbliche Liebe stürmend drängen wird, um sie und sich selbst zu erwecken. Richard Wagner hat dafür das kriechende Vierton-Motiv, das zuerst den Tarnhelm der Verwandlung beschreibt und dann dessen Ergebnis, nämlich den zum Drachen verwandelten Riesen Fafner, seinerseits verwandelt: Hier erklingt es riesenhaft vergrößert, auf Minuten ausgedehnt, statt in der Tiefe der Tuba in höchsten Höhen von Streichern und Holzbläsern mit Harfen-Umspielung: „Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!“ So ist die schwarze Magie Alberichs zur weißen Magie dieses den Lauf der „Ring“-Welt für immer verändernden Erwachens geworden.

Aufgabe an die Regie: Wie wirkt dieser „hehre Augenblick“ (wie auch viele andere) nicht lächerlich, pathetisch oder einfach nichtssagend? Anna Kelo denkt diese Fragen im neuen „Siegfried“ an der Finnischen Nationaloper (Suomen kansallisooppera) allein von ihren Figuren aus: Was geht in denen vor? Ganz menschlich, ganz nachvollziehbar: Brünnhilde bestaunt ihr Haar, das in den Jahren des Schlafes lang geworden ist. Oder Siegfried, etwas später: Er ist überfordert damit, dass die ersten weiblichen Brüste, die er sieht, zwischen seinen Beinen etwas auslösen, was er nicht versteht und nicht kontrollieren kann. Und wann haben wir anfangs des ersten Aufzuges schon einmal so klar gesehen, dass Siegfried und sein Ziehvater wider Willen Mime symbiotisch voneinander abhängig sind? Statt ambitioniertem Konzept (das bei den letzten „Ring“-Neudeutungen so oft gescheitert ist) bringt Kelo feinstes Personenregie-Handwerk mit – „endlich“, möchte man fast ausrufen. Sie erzählt einfach schlüssig und vertraut darauf, dass das Werk die Überwältigung schon von alleine hinbekommt.

Ihr kongenialer Partner in dieser Herangehensweise: Dirigent Hannu Lintu. Er gestaltet ohne jeden Schwulst und fast sachlich einen kernigen, farbigen, bisweilen gar eleganten Orchesterklang. Seine Musikerinnen und Musiker spielen virtuos, leidenschaftlich und agil, brauchen über weite Strecken der fünf Stunden keinen internationalen Vergleich scheuen.

Exquisit ist auch das fast ausschließlich finnische Sänger-Ensemble. Bemerkenswert gut verständlich, in der Figur herrlich verdruckst, dabei stimmlich und spielerisch auf der Höhe: Dan Karlström als Mime und auch Jukka Rasilainen als Alberich. Tommi Hakala verleiht seinem Wanderer Stimmbalsam und schiere Kraft, am eindrucksvollsten gelingt ihm die Szene mit Erda (gut und mit weiter Tessitura: Sari Nordqvist). Daniel Brenna überzeugt nicht immer mit Klangschönheit, aber mit Tenor-Metall (und das ist nunmal die Währung für eine Siegfried-Karriere) und großer spielerischer Überzeugungskraft. Johanna Rusanen schließlich beweist, dass sie dieser kurzen, mörderischsten der drei Brünnhilde-Partien so gewachsen ist wie derzeit wenige andere Sängerinnen.

Nicht wenig zum Gelingen dieses Abends trägt Mikki Kunttu bei mit seinem etwas konventionellen und mit Video-Schnickschnack versehenen, doch prächtigen Bühnenbild und vielmehr noch mit einer fabelhaften Lichtregie. Dass dieser „Siegfried“ nichts weniger ist als ein nordisches Opern-Ereignis, hat das jubelnde Publikum aber zuallererst Anna Kelo und Hannu Lintu zu verdanken.

Stephan Knies

„Siegfried“ (1876) // Zweiter Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website der Finnischen Nationaloper

Auch Frauen mögen’s heiß

Berlin / Komische Oper Berlin (März 2023)
Kirill Serebrennikov inszeniert mit „Così fan tutte“ den ersten Teil seiner geplanten Da-Ponte-Trilogie

Berlin / Komische Oper Berlin (März 2023)
Kirill Serebrennikov inszeniert mit „Così fan tutte“ den ersten Teil seiner geplanten Da-Ponte-Trilogie

Für Puristen ist diese „Così“ eine Herausforderung. Eine echte Überraschung ist sie indes nicht. Denn Kirill Serebrennikov hat sie schon vor fünf Jahren aus seinem damaligen Moskauer Hausarrest mit Hilfe seines Anwaltes und eines Assistenten vor Ort in Zürich auf die Bühne gebracht. Damals ein Akt demonstrativer Solidarität mit dem vom Putin-Regime drangsalierten Theatermann.

Jetzt, da er seine Inszenierung in Berlin selbst neu einstudiert hat, ist der Bezugsrahmen erneut hochpolitisch. Diesmal wirkt es wie ein Reflex auf den Krieg im Osten Europas, wenn Ferrando (markant eloquent: Caspar Singh) und Guglielmo (mit virilem Bariton: Hubert Zapiór) nicht nur zum Schein, sondern tatsächlich in den Krieg ziehen. Hier ist es keine Finte Don Alfonsos (selbst glaubwürdig frustriert: Günter Papendell), um den Treuetest, dem er Dorabella (temperamentvoll zupackend: Susan Zarrabi) und Fiordiligi (selbstbewusst: Nadja Mchantaf) aussetzen will, glaubwürdig einzuleiten. Hier ist es todernst. Die beiden Männer werden geradewegs vom Fitness-Studio weg an die Front beordert. Sie fallen tatsächlich und kehren in Urnen zu den Frauen zurück.

Zumindest ist das der wahrscheinlichste Hintergrund für alles, was dann passiert. Dadurch umgeht die Regie die Klippe, den Frauen mit angeklebten Bärten und albernen Verkleidungen etwas vorzugaukeln. Diesmal sind wirklich andere Männer mit Modell-Optik die Verführer. Goran Jurenec als Guglielmo und Amer El-Erwadi als Ferrando-Wiedergänger sind nicht verkleidet, sondern sie entkleiden sich. Die Sänger steuern die Stimmen quasi als Untote bei, wenn die in den beiden Luxus-Schlafzimmern „ihren“ Frauen näherkommen. So wird aus der Versuchsanordnung eines Neu-Verliebens bei Abwesenheit der Partner ein Neu-Verlieben nach deren Verlust. Inhaltlich ist das zwar konventioneller als im Stück gemeint, aber in dieser Umsetzung des nur Angedeuteten in eine szenische Aktion, bei der es erotisch knistert und zur Sache geht, kommt man dem, was im 18. Jahrhundert nur verborgen intendiert war, näher als sonst. So wird auch Despina zur kämpferischen Feministin und nüchternen Psychologin. Dazu muss Alma Sadé nicht einmal (wie sonst) ihre Stimme verstellen.

Wenn sich die Frauen auf die beiden anderen Männer einlassen, könnte es sich aber auch um deren Wunschprojektionen handeln. Eine ernstere Ausgangsthese als sonst wird so zur Steilvorlage für eine turbulente Neuerzählung, mit viel ironischem Witz und mehr Sexappeal als üblich. 

Katharina Müllner gelingt es, die Herausforderungen des Wechsels der Gefühle im Graben mit denen der durchweg überzeugenden Protagonisten auf der Bühne zu verbinden. Bis hin zum eingeschmuggelten Zitat aus der „Don Giovanni“-Ouvertüre. Damit wird das Todernste von Serebrennikovs origineller Sichtweise resümiert. Es ist zugleich ein Verweis auf die mit ihm geplanten anderen beiden Da-Ponte-Opern an der Komischen Oper.

Roberto Becker

„Così fan tutte ossia La scuola degli amanti“ (1790) // Dramma giocoso von Wolfgang Amadeus Mozart

Der Feind in uns

München / Bayerische Staatsoper (März 2023)
Sezierender Blick auf Prokofjews „Krieg und Frieden“

München / Bayerische Staatsoper (März 2023)
Sezierender Blick auf Prokofjews „Krieg und Frieden“

Es ist eine der heikelsten Programmierungen der laufenden Spielzeit: Sergej Prokofjews Vertonung von Lew Tolstois Romanepos „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper. Eine Kriegsoper über Napoleons Russland-Feldzug 1812, entstanden unter dem Eindruck von Hitlers Einmarsch 1941, stalinistisch unterfüttert, patriotisches Überwältigungstheater. Diesmal sind die Vorzeichen andere als in den „Vaterländischen Kriegen“: Der Aggressor kommt nicht von außen, der Aggressor des zynisch zur „Spezialoperation“ deklarierten Überfalls auf die Ukraine ist Russland selbst. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Sollte ein Werk wie dieses nach dem 24. Februar 2022 noch aufgeführt werden?

Die Antwort lautet Ja. Was GMD Vladimir Jurowski und Regisseur Dmitri Tcherniakov im Münchner Nationaltheater mit Blick auf ihr Heimatland in schlaglichtartigen Episoden zur Diskussion stellen, ist politisch relevantes Musiktheater auf der Höhe der Zeit: unbequem und lange nachhallend, ohne sich in vordergründig „einfachen“ Antworten zu verheddern. Prokofjews Oper war sein lebenslanges Schmerzenskind, monumentaler Torso im ständigen Ringen um die Gunst von Stalins Doktrin und bis zu seinem Tod der politischen Führung doch niemals „gut genug“. Dabei wird oft übersehen, dass „Krieg und Frieden“ in Opernform nicht nur trotzig-vaterländische Selbstbehauptung in hochproblematischem Sprachduktus ist, sondern in Tolstois Geiste auch immer noch ein Stück Weltliteratur. Es geht nicht nur um eine anonyme „Volksmasse“ im Ausnahmezustand, es geht auch um Menschen mit Träumen und Hoffnungen, die im Strudel der Kriegswirren ihren Halt im Leben verlieren.

Gerade damit tut sich Tcherniakov im ersten, dem „Friedensteil“ etwas schwer, indem er die individuelle Profilschärfe der Charaktere dem Gesellschaftspanorama unterordnet. Sein Bühnenbild ist der prachtvollen Säulenhalle im Moskauer „Haus der Gewerkschaften“ nachempfunden. Ein geschichts- und symbolträchtiger Ort, an dem Zaren Bälle veranstalteten, Stalin Schauprozesse abhielt und die Leichname von ihm, Lenin oder zuletzt Gorbatschow aufgebahrt wurden. Ist „Friedensteil“ in dieser Produktion überhaupt die richtige Bezeichnung? Wir erleben die höhnische Karikatur einer Gesellschaft, für die Krieg lange nur ein Smalltalk-Thema ist und die doch längst wie im Bunker schutzsuchend und zusammengepfercht dem Lauf der Dinge harrt. Herrscht draußen bereits Krieg? Wer ist der Feind? Gibt es ihn überhaupt oder zerstört sich dieser übersättigte Haufen an aufgespielt Mächtigen und dekadent Wahnsinnigen von innen heraus selbst? Die Parallelen zu Putins Russland sind zwischen den Zeilen zu finden und die Regie immer dann am stärksten, wenn die „Masse Mensch“ im deutlich hervorstechenden „Kriegsteil“ die Fratze des Tötens entlarvt – von Bootcamps über autoaggressiven Blutrausch bis hin zur Inszenierung der Napoleon-Szene als pervertierte Commedia dell’arte.

Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters leuchtet das Stilspektrum in Prokofjews Partitur extrem geschickt und kontrastreich aus, gibt sehnsuchtsvollen Lyrismen ebenso Raum wie den martialischen Volumenschlachten des Bayerischen Staatsopernchors, der als eigentlicher Hauptprotagonist des Abends die vernarbte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit herausschreit (Einstudierung: David Cavelius). Aus dem mehr als 40-köpfigen und durchweg überzeugend agierenden Ensemble ragen die expressive und seelenvolle Olga Kulchynska (Natascha), der warme und ergreifend innige Bariton von Andrei Zhilikhovsky (Andrej) und der empfindsame, später von Verbitterung durchzogene Schmelz von Arsen Soghomonyan (Pierre) hervor. Ein unter die Haut gehender, um einige glorifizierende Passagen gekürzter Kraftakt. Und die traurige Erkenntnis: 1812, 1941 und 2022 ähneln sich viel zu sehr.

Florian Maier

„Война и мир“ („Krieg und Frieden“) (1946) // Oper von Sergej S. Prokofjew

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

kostenfreier Stream bis 5. September 2023 auf ARTE Concert