Der Wahnsinn entsteht im Kopf – und manchmal bleibt er auch da, wie in der Neuproduktion von Tschaikowskis vorletzter Oper „Pique Dame“. Mit seiner zweiten Regiearbeit in München fokussiert sich Regisseur Benedict Andrews auf den inneren Wahnsinn hinter dem Libretto. Er zeichnet einen durchwegs „irren“ Hermann und lässt auch sonst die äußerlich-typisierenden Merkmale seiner Protagonisten weitgehend verschwinden. Realistische Bühnenszenarien, historische Kontexte und etwa den Konflikt zwischen der russischen Gesellschaft und „dem Deutschen“ sucht man in seiner Inszenierung ebenfalls vergebens.

Was bleibt? Zunächst einmal nicht viel Erwartetes, mit dieser Bühne, die fast immer ein dunkles, leeres Loch ist und meist nur durch eindrucksvolle Lichtstimmungen (Jon Clark) belebt wird, agieren Lisa und Hermann in Glamour-Outfits und teilweise zwangsläufig halbszenisch. Es braucht etwas Zeit, sich auf Andrews Blickwinkel einzulassen, sich mit dieser düsteren, surrealen Traumfantasie anzufreunden, die auch manche Logik vermissen lässt.

Zum Erlebnis wird der Abend trotzdem, denn was da aus dem Orchestergraben heraufwabert an Beklemmendem und Beängstigendem, lässt auf- und zuhören. Der junge usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov am Pult des Bayerischen Staatsorchesters nutzt jede Gelegenheit, um an einem spannungsgeladenen Klangbild mit treibenden Tempi, stark gezeichneten Sequenzen und Rhythmen zu feilen. Dass vor allem am Anfang das Zusammenspiel mit dem Bayerischen Staatsopernchor nicht zu 100 Prozent funktioniert, schmälert den Gesamteindruck nicht.

Auch Brandon Jovanovichs Tenor klingt am Premierenabend manchmal angestrengt und technisch am Limit, was seinem Hermann-Rollenbild aber kurioserweise entgegenkommt. Dass die fabelhafte Asmik Grigorian „ihrer“ Lisa zwischen Liebe und Schmerz stimmlich den Stempel einer attraktiven, fanatischen Frau mit großen emotionalen Schwankungen aufdrückt, macht sie zur Idealbesetzung – bühnengroße Film-Nahaufnahmen vor Beginn jedes der sieben Bilder zum Star des Abends. Warum die gutaussehende junge Frau mit glänzender Zukunft den ihr ursprünglich zugedachten, smarten (und auch gesanglich hervorragend disponierten) Fürsten Jelezki alias Boris Pinkhasovich für einen unsympathischen Bad Guy verlässt, der selbst beim Liebesduett die Pistole nicht aus der Hand legt, bleibt aber ein Rätsel. Den stärksten Sänger-Schauspieler-Part des Abends hat Violeta Urmana als greise Gräfin, wenn sie mit warmem melancholischem Mezzo einer untergegangenen Welt nachtrauert, ihre Perücke abnimmt und glatzköpfig im kahlen Licht steht, ehe Hermann sie in einer halluzinatorischen Vision im düsteren Bühnen-Wasserloch ertränkt.

Das übrige Solisten-Ensemble, voran Victoria Karkacheva als Pailletten-Polina, Roman Burdenko als Tomski und Kevin Conners als Tschekanlinski, sind Teil einer eindrucksvollen musikalischen Gesamtleistung – und das, obwohl weder Regie noch Kostüm viel für sie übrig hat. Und wenn am Ende Lisa recht unspektakulär von der Brücke in ein – was sonst – dunkles Nichts im Bühnenhintergrund fällt und sich Hermann endlich selbst erschießt, ist man beinahe erleichtert. Alles nur ein Traum! 

Iris Steiner

„Пиковая дама“ („Pique Dame“) (1890) // Oper von Pjotr I. Tschaikowski

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper