Eigentlich dirigiert Riccardo Muti nur noch selten Oper, meist konzertant. Es sei denn, es bietet sich die Gelegenheit, mit einem Regisseur zusammenzuarbeiten, der sich passend zu seinem Verständnis in den Dienst der Musik stellt. Turin erweist sich dafür als ideales Pflaster. Dort bleibt die Einstudierung von Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ von Unsinnigkeiten verschont, die andere Opernhäuser einfordern. Wer darauf besteht, die Textpassage „Ulrica, dell’immondo sangue dei negri“ („Ulrica, vom unreinen Blut der Neger“) umzuformulieren oder zu streichen, hat nicht verstanden, dass sie dazu dient, den obersten Richter des Rassismus zu überführen. In Alla Pozniak, deren Mezzosopran nicht nur eine stupende Größe, sondern auch eine dunkle schöne Färbung besitzt, hat die Wahrsagerin eine ideale Sängerdarstellerin gefunden.

Ohne Transfer in die Gegenwart zeichnet Regisseur Andrea De Rosa das Liebesdrama um den Gouverneur Riccardo und Amelia, die Frau seines Sekretärs Renato, packend nach. Minutiös hat Muti mit dem Ensemble am Ausdruck jeder noch so kleinen Phrase gearbeitet. Zu den besonders starken Szenen zählt jene auf dem Galgenberg, in der Amelia auf der Suche nach dem Kraut, das sie von der unheilvollen Liebe erlösen soll, dem Drängen des Geliebten nicht länger widerstehen kann. 

Lidia Fridman ist eine Amelia mit imposanter Stimme. Ihr Vibrato mutet bisweilen ein wenig eng an, aber wie sie jedes Wort ihrer Arie „Morrò, ma prima in grazia“ durchlebt, in der sie darum fleht, ihren Sohn noch einmal sehen zu dürfen, rührt stark an. Der Riccardo von Piero Pretti ist die Entdeckung eines höhenaffinen, mit einer modulationsreichen Farbpalette in allen Lagen gut ansprechenden Tenors. Luca Micheletti lehrt als Renato das Fürchten, wenn er Verschwörer für sein blutiges Vorhaben einbestellt. Dazu hat Verdi Paukenwirbel im dreifachen Fortissimo notiert. Mit geballter Faust gibt Muti ihnen Gewicht, selten tönten sie derart furchterregend. Und das nach Renatos Cabaletta „Eri tu che macchiavi quell’anima“, die sich in gänzlich anderen Gefilden bewegte, im denkbar zärtlichsten Zwiegesang von Harfe und Flöte.

Die herausragende, bis in kleinste Nebenrollen trefflich besetzte Einstudierung korrespondiert auf ganzer Linie mit der stimmungsvollen szenischen Umsetzung. Auf Nicolas Boveys Bühne machen geschickte räumliche Verwandlungen Staunen: Von Zeit zu Zeit teilt sich der imposante Festsaal, in dem das Geschehen seinen Anfang nimmt, und ein atmosphärisch anderer Raum schiebt sich dazwischen. Der verdient umjubelte Turiner „Maskenball“ trägt folglich dem Anspruch Rechnung, den der mit Muti befreundete, verstorbene Giorgio Strehler einmal so formulierte: Dass eine Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur dann vollkommen ist, wenn ein guter Regisseur auch etwas vom Dirigieren und ein Dirigent vom Regieführen versteht.

Kirsten Liese

„Un ballo in maschera“ („Ein Maskenball“) (1859) // Melodramma von Giuseppe Verdi