Hannover / Staatsoper Hannover (November 2021) Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ mit der Wucht der griechischen Tragödie
Schon allein dadurch, dass die Premiere von Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ am Tag nach dem Tod des Komponisten stattfindet, wird sie zur Denkwürdigkeit, durch ihre Hochklassigkeit aber zu einer echten Hommage. Regisseur Theu Boermans destilliert aus der Moritat um den Serienmörder aus der Londoner Fleet Street ein Drama von existentieller Wucht. Todd ist ein Entrechteter und Ausgegrenzter wie Büchners Woyzeck, doch, wenngleich seelisch waidwund, im Gegensatz zu diesem keine bleiche und ausgemergelte Gestalt. Kräftig und von kompakter Statur, schlachtet er seine Unterdrücker ab. Schmerzlicher Nihilismus erfasst den Barbier, die Welt ist wert, dass sie zugrunde geht. Todds Leiden und Rachemorde sind Eruptionen. Die Geschäfts- und Lebenspartnerschaft mit der Pastetenbäckerin Mrs. Lovett nimmt er eher in Kauf, als sich daran zu erfreuen. Die dem Sujet innewohnende Bizarrerie und Skurrilität verlagert Boermans beinahe vollständig in die Figur der aufstiegsorientierten Kleinstbürgerin und ihren Kontrast von wohlanständiger Fassade und kannibalischer Lebensmittelproduktion. Dabei zeigt sich jeder Bühnenbildrealismus weitgehend auf die Schlachthaus-Aspekte des Werks reduziert.
Bernhard Hammer visualisiert die durchrationalisierte Pastetenherstellung von Barbier-Tötungsstuhl und Leichenschacht bis hin zum Keller, in dem die Kadaver ihrer Verarbeitung entgegen schimmeln, Fleischwolf und Backofen. Solche Details sind einer abstrakten Skulptur eingefügt. Das Bildwerk kann zu einem Gewirr von Gängen auseinanderfahren, in dem die Figuren auf Ab- und Irrwege geraten, mitunter schließt es sich zur schiefen Ebene. Als einzige Anspielung auf das viktorianische England präsentiert sich die Spielfläche mit bühnenportalhohen Wolkenstores umgeben. Auch Mattijs van Bergens Kostüme abstrahieren, nähern sich aber, soweit bei solcher Konzeption möglich, dem Heute an.
Wie die szenische, so überzeugt auch die musikalische Seite. Lorenzo Da Rio steuert den Staatsopernchor auf dem durchschlagskräftigen Kurs einer antiken Tragödie. Allzu massiv und lautstark lässt James Hendry zunächst das Niedersächsische Staatsorchester tönen. Im Lauf des Abends gewinnt der Klangkörper an Subtilität und Transparenz. Scott Hendricks verleiht der Titelfigur darstellerische und vokale Monumentalität. Ragend in Zorn und Leiden, zielt Hendricks ebenso großvolumiger wie kernhafter Bariton dennoch auf Nuancierung. Patent und willens, dem prekären Dasein zu entkommen, siedelt die immer einmal wieder auf Hamburger Platt parlierende Anne Weber ihre Mrs. Lovett jenseits von Gut und Böse an. James Newby gibt einen leidenschaftlichen Anthony. Für Johanna bietet Nikki Treurniet ihre satte runde Tongebung auf. Daniel Eggert ist der lüstern-selbstgerechte Richter Turpin. Hell timbriert und höhensicher maskiert Philipp Kapeller seinen Büttel Bamford mit bürgerlicher Ehrbarkeit. Voll tenoraler Emphase schwant dem Tobias von Marco Lee Fürchterliches über die Machenschaften in der Pastetenbäckerei.
Michael Kaminski
„Sweeney Todd, the Demon Barber of Fleet Street“ (1979) // Musical Thriller von Stephen Sondheim