Erfurt / Theater Erfurt (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit einem faszinierenden „Drunter und Drüber“
Es ist keine Zustandsbeschreibung, sondern ein Titel: „Drunter und Drüber“ – „ein musikalischer Abend in 10 Zimmern“, mit dem in Erfurt der Spielbetrieb im Haus wieder losgeht (die Saison beginnt dort immer schon im Sommer mit einem Domstufen-Spektakel). Was sich Sopranistin und langjähriges Ensemblemitglied Daniela Gerstenmeyer für ihr Haus ausgedacht hat, ist Musiktheater im besten Sinne. Unterschiedliche Musiknummern mit Szenen oder Absurditäten des Lebensalltages zu konfrontieren, hat Christoph Marthaler berühmt gemacht.
Peter Leipold dirigiert unsichtbar im Bühnenhintergrund einen Ritt durch die Musikgeschichte, den er arrangiert hat. Die musikalischen Steilvorlagen für das Erfurter Protagonisten-Team finden sich bei Bach und Beethoven ebenso wie bei Mahler, Tschaikowski oder Johann Strauss (Sohn) und natürlich bei Rossini, Donizetti, Paganini und Verdi. Auf der Bühne (Ausstattung Mila van Daag) haben alle ihr eigenes Zimmer. In einem dreistöckigen Haus, dem die Fassade fehlt und von dem immer zwei Etagen zu sehen sind, können wir einem willkürlich ausgewählten Bevölkerungsquerschnitt beim Umgang mit der Selbstisolierung zusehen. Und zuhören.
Regisseur Markus Weckesser bietet dort lauter kleine Mikrodramolette mit Musik. Jeder der Bewohner hat einen Rollennamen, nebst Beruf und Geschichte. Sie sind traurig, verzweifelt, wütend, müssen mit Fress- oder Backattacken umgehen oder ihren 30. Geburtstag ohne Gäste feiern. Der Postbote bringt Pizza, die Sozialarbeiterin (Katja Bildt) schleppt immer wieder gehamstertes Toilettenpapier ran. Aber: Die Geigerin (Juliane Billeb) übt Paganini. Der Opernsänger (Brett Spraque) prüft, ob die Verführungskraft seines Verdi-Schmelzes noch funktioniert. Und der brave Architekturstudent (Caleb Yoo) wirbt mit Blumen und der Liebeserklärung des Fürsten Gremin an Tatjana um die Ballett-Tänzerin (Daniela Backhaus) in der Nachbarwohnung.
Die geschickt gebaute Nummernfolge hat dramatische Steigerungen, aber auch ruhige Momente. Sie endet besinnlich mit „Der Mond ist aufgegangen“ von Johann Abraham Peter Schulz. Immerhin stimmt dieses besinnliche Stück das alte Rentner-Ehepaar in der Parterrewohnung an, das sich in der Krise trotz seiner vorher auf dem Esstisch montierten Plexiglaswand wieder näher gekommen war.
Dass die Musik zum Zeichen der Hoffnung auf Gemeinsamkeit werden kann, war schon klar, als der musikalische Funke von Beethovens „Mir ist so wunderbar“ (aus dem „Fidelio“), von „So muss allein ich bleiben“ aus der „Fledermaus“ oder von „Bella figlia dell’amore“ („Rigoletto“) übersprang und sich zu Ensembleszenen erweiterte. Man hätte dieser mit Jubel quittierten Bühnenquarantäne gerne noch länger zugesehen und -gehört.
Roberto Becker
„Drunter und Drüber“ (2020) // Collage mit Musik verschiedener Komponisten; Konzeption und Idee von Daniela Gerstenmeyer, Arrangements von Peter Leipold