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Rezensionen 2020/06

Willkommen, Bienvenue, Welcome!

Weimar / Deutsches Nationaltheater Weimar (Oktober 2020)
Tanz auf dem Vulkan im „Cabaret“

Weimar / Deutsches Nationaltheater Weimar (Oktober 2020)
Tanz auf dem Vulkan im „Cabaret“

Es ist ein Auftakt mit doppeltem Boden: im Dämmerlicht mit dem populären „Willkommen, Bienvenue, Welcome!“ des Conférenciers. Die Geschichte aus dem Berliner Nachtleben der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist ein exemplarischer Fall von Tanz auf dem Vulkan. Mittendrin verursacht das Nazi-(Volks-)Lied „Der morgige Tag ist mein“, das die braue Herrschaft herbeisehnt, Rückenschauer. Mit jedem, der auf der Bühne dabei Haltung annimmt und einstimmt, etwas mehr. Immer noch, oder eben wieder.

Wer „Cabaret“ inszeniert, kann sich auf die mitreißende Musik von John Kander verlassen, muss aber auch gegen die berühmte Verfilmung mit Liza Minnelli anspielen. Dazu kommen die Anti-Corona-Regeln, die ihr Recht einfordern. Ringelpiez ohne Anfassen sozusagen. Oliver Helf hat eine Tribüne auf die Drehbühne gebaut, mit Revuetreppe in der Mitte und einem Glamour-Vorhang dahinter. Hier ist die achtköpfige Combo wie eine Big Band platziert. Dirigent Dominik Beykirch und Karl Epp haben die Nummern neu arrangiert. Damit heizen sie den von Modjgan Hashemian fantastisch choreographierten 14 Kit-Kat-Girls und -Boys ein. Dass es dabei nicht nur in der Geschlechterzuordnung durch die Kostüme von Aleksandra Kica bewusst drunter und drüber geht, versteht sich von selbst. Im Kit-Kat-Club toben die Roaring Twenties in Reinkultur! Das Tempo stimmt von Anfang an, selbst der Slapstick ist durchchoreographiert.

Ein Schmankerl ist die komödiantische Lust, mit der Uwe Schenker-Primus aus dem Conférencier eine umwerfende Travestie-Nummer macht. Auch beim Club-Personal ist kein Männerbein vor Strapsen und High Heels sicher. Klar, dass der Nazi im Stück (Krunoslav Šebrek ist ein überzeugend gescheitelter Ernst Ludwig) sich hier nicht wohlfühlt. Als Sally Bowles glänzt Dascha Trautwein, Thomas Kramer ist Clifford Bradshaw, der vergeblich versucht, sie zur Flucht von dem „morgigen Tag“ zu bewegen. Als sie sich entschließt, wieder aufzutreten, leuchtet hinter ihr schon das Revue-Logo der neuen Zeit und auch der Conférencier kommt jetzt nicht mehr im Fummel, sondern in Uniform und mit Führerbärtchen. Stefanie Dietrich als Fräulein Schneider und Alexander Günther als ihr jüdischer Verehrer liefern die exemplarischen Beispiele für die damals vorherrschende bürgerliche „Es wird schon nicht so schlimm werden“-Illusion.

Für Regisseur Nurkan Erpulats Abstecher ins Musiktheater ist „Cabaret“ genau die richtige Wahl. Bei den Insignien der neuen Zeit bleibt das Maß gewahrt, das ambitionierte Kunst von allzu plakativen Effekten unterscheidet. Irgendwann malt sich der geheimnisvolle Lausbub mit der blonden Perücke, der durch die Geschichte geistert, blau an. Was wohl heißen soll, dass Blau das neue Braun ist. Insgesamt bekommt die Inszenierung den Cabaret-Balance-Akt aber instinktsicher hin.

Joachim Lange

„Cabaret“ (1966) // John Kander

„L’Orfeo“ reloaded

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (Oktober 2020)
Versuch eines Brückenschlags mit Monteverdis Meisterwerk

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (Oktober 2020)
Versuch eines Brückenschlags mit Monteverdis Meisterwerk

Von Monteverdis Vertonung des Mythos um Orpheus und Eurydike wird angenommen, dass sie die erste Oper der Musikgeschichte ist – zumindest ist sie die erste erhaltene Frühform der Oper, die mit der Uraufführung 1607 in Mantua erstmals Instrumentalmusik, Gesang und Tanz auf eine Bühne brachte. 400 Jahre und zahlreiche Seuchen später passt „L’Orfeo“ gut in die aktuelle Pandemie-Zeit, befand man am Staatstheater Nürnberg und wagte nach der viralen Zwangspause mit der „Oper Nr. 1“ den Neustart. Die Digitalisierung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens spiegelt sich – durchaus nachvollziehbar – in Jens-Daniel Herzogs Inszenierung, die zu Beginn etwas zu viel von einer hektischen Videoinstallation mit Barockmusik hat. Da wird ausgelassen Hochzeit gefeiert, simultan via Smartphone dokumentiert, gepostet und gesocialnetworked. Erst nach Euridices Unfall – etwas überflüssigerweise mit Krankenwagentransport und nachfolgender OP auf mobiler LED-Wand bebildert – wird’s weniger plakativ. Von einem Moment auf den anderen ist es mit dem sozialen Leben vorbei. „Social Distancing“ ist das Gebot unserer Zeit – Abstand halten aber, das kann Orfeo nicht, ganz im Gegenteil. Er sucht nach der Erfüllung im Zusammensein mit Euridice und macht sich auf in den Hades. Dazu müsste er nicht zwingend nach unten, die Hölle findet man in dieser Inszenierung auf Erden, eindringlich illustriert mit brennenden Landschaften, Industriebrachen und Corona-Gräberfeldern auf der allgegenwärtigen Videoleinwand. Wohltuend die Augenblicke, wenn sich Aug’ und Ohr’ auf die wunderbare Musik konzentrieren können, etwa wenn Orfeo (Martin Platz) Caronte mit seiner Sangeskunst überzeugen will oder Proserpina (Almerija Delic) ihren Göttergatten um Gnade für die Liebenden bittet.

Überhaupt ist die musikalische Gestaltung dieses „L’Orfeo“ ein Gewinn – den bekannten Umständen geschuldet, wollte Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz nach der Zwangspause ihre bestens aufspielende Staatsphilharmonie zum Einsatz bringen. Sie erarbeitete mit Frank Löhr zusammen eine eigene, mit moderner Musik und Soundelementen durchdrungene Fassung, die fast wie ein Film-Soundtrack die Handlung begleitet. Ausschließlich akustisch erzeugt erklingen Herzschläge und tiefes Wummern. Und wenn Orfeo mit Euridice im Schlepptau glücklich die Unterwelt verlässt, wird Monteverdis „gehender Bass“ kurzzeitig durch eine Jazzeinlage fortgeführt. Faszinierend, wie Mallwitz ihre Musiker – im Orchestergraben, beidseitig auf den Rängen, hinter der Bühne platziert – koordiniert, aus den derzeitigen Abstandsregeln eine Tugend macht und gleichzeitig des Komponisten Experimentierfreude mit Echos künstlerisch fortführt. Monteverdi in Dolby Surround – großartig! Das Sängerensemble des Staatstheaters legt stimmlich und schauspielerisch einen überzeugenden Auftritt hin und das Ganze ist ohne Übertreibung ein wahres „Klangfest“.

Dany Mayland

„L’Orfeo“ (1607) // Claudio Monteverdi; Orchesterfassung von Frank Löhr und Joana Mallwitz

Schwächelnde Träume vom Glück

München / Gärtnerplatztheater (Oktober 2020)
München wagt einen kammermusikalischen „Eugen Onegin“

München / Gärtnerplatztheater (Oktober 2020)
München wagt einen kammermusikalischen „Eugen Onegin“

München hat eine Tradition mit speziellen Theaterformen: ein herrlich weites, edles Oval, in der zentralen Loge im Balkon ein paar Menschen, etliche weitere im weiten Rund – das waren die berühmten Separatvorstellungen für König Ludwig II. ab 1872. Ganz ähnlich wirkten jetzt die rund 300 Besucher der Premiere im Gärtnerplatztheater – eine kulturpolitische Absurdität im bis 2019 totalrenovierten Komplex mit der modernsten Lüftungsanlage aller Münchner Theater, während vollbesetzte Flieger vom Airport starten dürfen … Der dankbar herzliche Applaus schloss am Ende alle mit ein, auch wenn das Bühnenteam hörbar schwächeren Beifall registriert haben sollte. Das lag nicht an den Corona-Vorgaben, speziell den Distanz-Vorschriften für alle Bühnenfiguren. Regisseur Ben Baur hatte in Uta Meenens Kostümen das Werk in der zaristischen Gesellschaft angesiedelt, wo „Distanz“ zur gesellschaftlichen Konvention gehörte. So sangen die Bauernchöre schön brav und breit aufgestellt und ein Walzer wie eine Polonaise in St. Petersburg können ja durchaus mal mit sehnsuchtsvoll ausgestreckten Armen, aber ohne Handberührung getanzt werden (Choreinstudierung: Felix Meybier; Choreographie: Lillian Stillwell). Auch in der „Liebe“ galten ja Zucht und Ordnung, was Olga und Lenski temperamentvoll, Tatjana und Onegin weniger überzeugend steif vorführten. Wenn Baur das Ganze als Tatjanas „Traum zurück“ – von der ersten Pose im Vorspiel bis zur Schlussszene einschließlich irrealer Auftritte eines Tatjana-Kindes – zeigen wollte, dann blieb seine Lichtregie mit Michael Heidinger zusammen banal bis „nicht existent“, sein eigenes Bühnenbild spielte keine Rolle.

Ganz anders die musikalische Seite der Premiere. Der beim Umbau raffiniert bis zum Äußersten vergrößerte und akustisch verbesserte Graben bleibt für ein großes Tschaikowski-Orchester zu klein, Distanz für die Musiker: unmöglich. Die Lösung: Das Staatstheater leistete sich eine reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow, einem selbst komponierenden Tschaikowski-Kenner. Die 24 Instrumentalisten brachten unter Chefdirigent Anthony Bramall nicht nur die großen Highlights der Partitur zum Klingen, sie gaben dem Ganzen einen Hauch von Salon-nahem Kammerkonzert, was „Tschaikowski-nahe“ klang. Eine gelungene Adaption über Corona-Beschränkungen hinaus. Deshalb hätten alle Sänger weniger „Premierenpower“ geben, noch mehr zum Partner statt ins leer tönende Theaterrund singen können. Dafür gelang Juan Carlos Falcón mit Triquets Couplet ein fein ziseliertes Kunststückchen vor allen anderen guten Nebenfiguren. Sava Vemić war ein volltönender Fürst Gremin mit alles überragender Bühnenerscheinung. Anna-Katherina Tonauers Olga klang mädchenhaft gegenüber der hörbar gereiften Camilla Schnoor. Deren Tatjana besaß Gefühlstiefe und gebändigte Leidenschaft, zurecht gab es viel Beifall für ihre Briefszene. Mathias Hausmanns runder, kerniger Bariton passte genau für den überheblichen Gesellschaftslöwen und -verächter Onegin. Tenor Lucian Krasznec musste in München gegen das seit 1962 (!) unübertroffene, todesverschattete Ideal von Fritz Wunderlichs „Wohin, wohin…“ als Lenski ansingen. Das gelang vom gehauchten Pianissimo bruchlos in den schmerzlichen Ausbruch – bravo! So bewies der Abend: Herrlich, wieder musikalisches Theater zu erleben. Und: Ein realitätsnahes Kunstministerium könnte locker 600 Besucher im Theaterrund erlauben!

Wolf-Dieter Peter

„Eugen Onegin“ (1879) // Pjotr I. Tschaikowski; reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow

Medea.Reflexionen

Halle (Saale) / Oper Halle (Oktober 2020)
Martin G. Berger inszeniert eigene Version von Händels „Teseo“

Halle (Saale) / Oper Halle (Oktober 2020)
Martin G. Berger inszeniert eigene Version von Händels „Teseo“

Händels „Teseo“ könnte auch „Medea“ heißen. Die Version aber, die Martin G. Berger jetzt von der geplanten Inszenierung für die gecancelten Händel-Festspiele auf Corona-Bedingungen heruntergedimmt hat, auf jeden Fall. Samt der hinein inszenierten Abstände und einem auf ein Dutzend Musiker reduzierten, kammermusikalisch präzisen Händelfestspielorchester. Berger und Dramaturg Philipp Amelungsen griffen beherzt in die Stückstruktur ein. Sie machten aus allen weiblichen Nebenrollen Medea-Alter-Egos. Für diesen 90-minütigen Abend würde der Arbeitstitel „Medea.Reflexionen“ passen. Neben der zentralen Medea2020 wird aus Agilea Medea1958 (Vanessa Waldhart) und aus Clizia Medea1880 (Yulia Sokolik). Dazu kommt noch eine stumme Medea1619. Damit ist die Zeitreise zum Thema der exemplarisch gegen die Männerherrschaft im Patriarchat aufbegehrenden Frau vorgegeben. Das männliche Gegenüber dieser aufgestockten Frauenpower sind Jason (bei Händel Teseo) und Medeas Vater (Ki-Hyun Park), stumme Zugaben die Kinder Medeas und eine attraktive Affäre Jasons. Kostümbildnerin Esther Bialas hat daraus eine aufgedonnerte Sekretärin gemacht, die lieber Marilyn Monroe wäre und es mit der Muster-Hausfrau Medea1958 aufnimmt.

Musikalisch wird das Ganze bei Berger und Dirigent Attilio Cremonesi zu einem Pasticcio mit neu zusammengestellten Arien ohne eine von A nach B verlaufende Handlung. Die Inszenierung lotet vielmehr das Aufbegehren einer exemplarischen Medea verschiedener Epochen gegen die Männer aus, die aus dem patriarchalischen Bauplan der Gesellschaft die Legitimation für ihren triebgesteuerten Egoismus ableiten. Gegen Ende schicken diese Frauen, sozusagen kollektiv, lediglich Jason zum Teufel. Ist zwar auch keine (Ab-)Lösung des Patriarchats, aber schon etwas anderes als Kindermord aus Rache fürs Fremdgehen … Wenn zu Beginn die überlebensgroßen Medea-Alter-Egos auf den Zwischenvorhang vor dem abstrakten Hexagon-Wohnkonstrukt projiziert werden, das Sarah-Katharina Karl auf die Drehbühne gesetzt hat, spürt man die Absicht, alles fügt sich zu einem Ganzen.

Die zentrale Medea2020 ist mit Romelia Lichtenstein eine Sängerin, die sich die Geschmeidigkeit für virtuosen Händel-Gesang bewahrt hat und das voll ausspielt. Als smart gegelter Anzugträger von heute ist Sporanist Samuel Mariño (27) ein glasklarer Jason mit natürlichem Bühnencharisma. Unter normalen Bedingungen wäre ein solcher „Teseo“ in einer Hochburg der Händel-Pflege wohl nicht riskiert worden. Doch heutzutage leuchtet diese Version durchaus von innen – durch eine anregende Idee, klugen Umgang mit den Voraussetzungen, die Emotion der Musik und ein fabelhaftes Ensemble. Ungeteilter Beifall!

Joachim Lange

„Teseo“ (1713) // Georg Friedrich Händel; Spielfassung von Martin G. Berger

Heiterer Goldregen

Halberstadt / Nordharzer Städtebundtheater (Oktober 2020)
„Die lustigen Weiber von Windsor“ erobern die Herzen

Halberstadt / Nordharzer Städtebundtheater (Oktober 2020)
„Die lustigen Weiber von Windsor“ erobern die Herzen

Der Aufforderung „Nun eilt herbei, Witz, heitre Laune“ der charmanten Frau Reich kann man sich einfach nicht entziehen. Sie und Nachbarin Frau Fluth setzen in Otto Nicolais komisch-phantastischer Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ nicht nur dem abenteuerlustigen, liebestollen und trinkfesten Sir John Falstaff, sondern auch ihren eifersüchtigen Ehemännern „Hörner“ auf. Diese Windsor-Weiber sind wirklich lustig, klug, attraktiv, selbstbewusst, gerissen und resolut. Bettina Pierags (Frau Fluth) und Gerlind Schröder (Frau Reich) sind in Oliver Klöters Inszenierung von Beginn an treibende Kraft und modisch-attraktive Herzdamen. Sie spinnen eine Intrige um und mit dem liebestollen, trinkfesten und beleibten Hagestolz Sir John (eine Paraderolle für Klaus-Uwe Rein), um ihren einfältigen Ehemännern die Eifersucht auszutreiben. Nebenbei geht es um eine junge Liebe, die erst nach Irrungen und Wirrungen und allerlei Spuk ihre Erfüllung findet. Das Ganze ist verortet in einem fiktiven Windsor der Gegenwart. Häuserfluchten links und rechts begrenzen die (Spiel)-Fläche. Eine Bank und eine rote Telefonzelle sowie eine Flagge stehen für Old-England. Und auch die Queen grüßt für einen Moment hoheitsvoll. Aus dieser trostlosen Bühnenlandschaft entstehen in Windeseile Schauplätze im Hause Reich und Fluth, wird ein ominöser Wäschekorb hin und her transportiert und entsteht ein Pub für das Saufgelage von Sir John und dessen Kumpanen unter den wachsamen Augen zweier Constabler. Ausstatterin Andrea Kaempf hat alle Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Spiel unter Corona-Bedingungen optimal ablaufen kann. So setzt der Regisseur auf Abstand. Es gibt kaum Berührungen, keinen Austausch von Zärtlichkeiten. Über weite Strecken erlebt man die Handlung (ohne Chor und Statisten) als Kammerspiel, in dem schon mal an der Rampe gesungen wird.

Dass „Witz, heitre Laune“ trotz der schmalen Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz nicht auf der Strecke bleiben, ist ausnahmslos den Solisten und den Harzer Sinfonikern unter der Leitung von Fabrice Parmentier zu verdanken. Sie haben sich zum Finale den Goldregen aus dem Bühnenhimmel und den langanhaltenden Beifall des Publikums verdient. Allen voran Klaus-Uwe Rein als stimmgewaltiger und trinkfester Falstaff, der mit seiner Ballade „Als Büblein klein …“ brilliert. Sein Duett mit Herrn Fluth (Juha Koskela) wird nicht nur musikalisch zu einem Erfolg. Bettina Pierags brilliert mit blitzsauberen Koloraturen und Spielwitz. Gerlind Schröder agiert mit viel Power und hat bei Herrn Reich (Gijs Nijkamp) in jeder Beziehung das Sagen. Lyrische Momente mit ihren musikalischen Liebesschwüren („Horch, die Lerche singt im Hain“) setzen Bénédicte Hilbert und Max An als Jungfer Anna und Fenton. Das Finale mit der Auflösung der vielen Irrungen und Wirrungen um den gehörnten Ritter Sir John, den lustigen Weibern und ihren geläuterten Ehemännern sowie das Liebesglück der jungen Leute findet abstandsgemäß ohne die üblichen „Sommernachtstraum“-Turbulenzen mit Elfenspuk, aber mit einem wunderschön gesungenem Mondchor statt. Fazit dieser Premiere: „Um ernst zu sein genügt Dummheit, während zur Heiterkeit ein großer Verstand unerlässlich ist“ (William Shakespeare).

Herbert Henning

„Die lustigen Weiber von Windsor“ (1849) // Otto Nicolai

Wenn das Leben kein Ende nimmt

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (Oktober 2020)
„Der Kaiser von Atlantis“ aktueller denn je

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (Oktober 2020)
„Der Kaiser von Atlantis“ aktueller denn je

Polizeigewalt bei Protesten in Belarus. Ein brennendes Flüchtlingslager, das tausende Menschen zu Obdachlosen macht. Rassismus in den USA und das Deutschlandlied auf Anti-Corona-Demos. Relevanter denn je präsentiert sich Viktor Ullmanns Opernparabel, die er im Konzentrationslager Theresienstadt komponierte. Sie hinterfragt den Wert des Lebens und Sterbens und fordert zum Widerstand gegen Unterdrückung auf.

Das Setting der Oper deckt sich mit ihren Entstehungsumständen. In Kaiser Overalls Reich herrschen Völkermord und eine Reduktion des Lebens auf bloße Überlebensfunktionen. Als er den Krieg aller gegen alle befiehlt, verweigert der Tod seinen Dienst. Das dadurch verursachte Ringen mit dem Leben zwingt den Kaiser zur Kapitulation, wodurch der Tod den Status quo wieder herstellt. Die schlichte, aber ausdrucksstarke Kulisse von Emine Güner holt Theresienstädter Ausstattungsmöglichkeiten auf die Düsseldorfer Bühne: Das Geflecht aus gespannten Seilen hält die Akteure gefangen, Zurren und Zerren ist zwecklos. Davor Tod und Harlekin, allegorisch für Sterben und Leben. Harlekin entzündet ein Stöckchen, ehe es – vom Tod ausgehaucht – auf einem Scheiterhaufen aus Streichhölzern landet. Wie ihre verschlissenen Lumpen reicht ihre Energie nicht mehr, um für ein würdevolles Leben oder Sterben zu kämpfen. Ein starkes Bild gleich zu Beginn! Als der Tod in die Rebellion geht, amüsiert er sich und das Publikum, wenn er vom linken Bühnenrand aus das Geschehen verfolgt – im flauschigen Bademantel, mit Wein und Popcorn. Menschen schießen aufeinander, doch sie sterben nicht. Die Folge: Irritation beim Kaiser, der im eigenen Seilgefängnis gefangen ist. Auch seine Lakaien Trommlerin und Lautsprecher sind hilflos. In ihrer türkisfarbenen Garderobe (Emine Güner) scheinen sie aus Atlantis aufgetaucht und kolorieren stilvoll die schwarze Umgebung. Mit Overalls Machtverlust sinkt die Hebebühne und die sich lockernden Seile eröffnen neue Freiheiten. Ein Soldat und ein Mädchen können sich wieder verlieben. Nach dem Untergang des Kaisers darf der Tod wieder ein willkommener Freund sein.

Generalmusikdirektor Axel Kober konturiert das Ringen um Leben und Tod, wenn er Ensemble und Kammerorchester feinsinnig durch Zwölftonmusik, spätromantische und jazzige Klänge lenkt. Die sängerischen Leistungen sind solide. Thorsten Grümbel als Lautsprecher beeindruckt mit einer alarmierenden Klangfarbe, während sich Emmett O’Hanlon trotz mäßiger Verständlichkeit mit seinem charakteristischen Timbre unter den Männerpartien hervorhebt. Für wunderbare Momente sorgt auch Anke Krabbe. Ihre klare Stimme verleiht dem Mädchen eine verletzliche Aura, womit sie ihren Einsatz für diese Partie rechtfertigt. Die insgesamt hervorragenden schauspielerischen Leistungen gleichen die wenigen musikalischen Schwächen aus. Vorsichtig und wachsam verbreitet ein verfremdeter Bach-Choral am Ende neue Hoffnung. Als könnte man dem Frieden nicht trauen, denn nur dieser eine Krieg ist vorbei. Mit dieser Botschaft schickt die Inszenierung von Ilaria Lanzino das Publikum in den ersten Post-Opernabend seit Langem.

Jonathan Reischel

„Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“ (entstanden 1943/44 in Theresienstadt; Uraufführung 1975 in Amsterdam) // Viktor Ullmann

Hygienisch einwandfrei

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Oktober 2020)
„Fidelio“ in blasser Regie und dubioser Instrumentation

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Oktober 2020)
„Fidelio“ in blasser Regie und dubioser Instrumentation

Inzwischen überzeugt so manches mittlere Haus durch souveräne Bewältigung der Covid-19-Bedingungen. Der „Fidelio“ am Staatstheater Braunschweig kann da nicht mithalten. Viel zu sehr zeigt sich Beethovens Befreiungsoper dort durch übervorsichtige Konzessionen an die Seuchenlage bestimmt. Was die Spieldauer auf pausenlose einhundert Minuten, das Orchester auf ein Bläserensemble und den Chor auf elektronische Einspielung reduziert. Die Bühnenfiguren fixieren sich auf die Befolgung der Abstandsregeln. Stückdienliche Interaktion kommt daher nur selten zustande. Hausherrin und Regisseurin Dagmar Schlingmann verliert über der peinlich genauen Einhaltung aller Hygienevorschriften das Werk selbst aus den Augen. Da hilft es auch nicht, wenn statt gestrichener Singspielpassagen eine Schauspielerin Banalitäten über die Gattung Oper und die politischen Gefangenen aller Zeiten und Regimes vorträgt. Indem sich der gesprochene Opferkatalog Litanei-artig dem Gesang unterlegt, werden die nun lediglich als Geräusch wahrnehmbaren Namen der Dissidenten einer höchst fragwürdigen Dramaturgie unterworfen. Alles dies hinterfängt Sabine Mader mit einer grauen Mauer, in deren Nischen – gleich Zellen – die Gefängniswärter (sic!) hausen. Ein aus dem Bühnenhimmel herabhängender Riesenkasten erweist sich als Kerker für Florestans Einzelhaft.

Auch musikalisch leuchtet der Produktion kein Stern. Aus dem Graben tönt nicht das Original, sondern eine nach Beethovens böhmischem Zeitgenossen Wenzel Sedlák und anderen zusammengestellte „Harmoniemusik“ für eben jene Bläserensembles, die an den Fürstenhöfen Potpourris angesagter Opern vortrugen. In Braunschweig wird damit geworben, Beethoven selbst habe Sedláks Arrangement autorisiert. Das trifft zu. Doch hatten weder Beethoven noch Sedlák eine auf der „Harmoniemusik“ basierende Opernaufführung im Sinn. Dass sie sich dazu nicht eignet, lassen die etwas über ein Dutzend Bläser samt Schlagwerk des Braunschweiger Staatsorchesters vernehmen. Unter Stabführung ihres Chefs Srba Dinić ringen sie ebenso kompetent wie vergeblich darum, Sedláks Noten Beethoven’sche Emphase, geschweige Sängerfreundlichkeit abzugewinnen. Schon deshalb bleibt bei den vokalen Leistungen viel Luft nach oben. Einzig der in der Titelpartie erfahrenen Susanne Serfling gelingt ein musikalisch ansprechendes Rollenportrait. Marc Horus gibt einen charaktertenoral eng geführten Florestan. Dem Rocco von Rainer Mesecke fehlen profunde Bassqualitäten. Valentin Anikin verfügt über ansprechendes Material, ohne die Gefährlichkeit Pizarros zu beglaubigen. Ekaterina Kudryavtseva ist eine Marzelline nicht ohne sangliche Schärfen. Nur wenig profiliert Joska Lehtinen seinen Jaquino.

Michael Kaminski

„Fidelio“ (1805/1814) // Ludwig van Beethoven; Bearbeitung basierend auf der von Wenzel Sedlák eingerichteten Fassung für ein „Harmoniemusik“ genanntes Kammerensemble

Wenn es Aristokraten langweilig wird

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Oktober 2020)
Gefährliche Liebschaften in Luca Francesconis „Quartett“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Oktober 2020)
Gefährliche Liebschaften in Luca Francesconis „Quartett“

„Gefährliche Liebschaften“, der Briefroman Laclos’ von 1782, veranlasste Heiner Müller 200 Jahre später zu seinem Schauspiel „Quartett“. Francesconi machte daraus die gleichnamige Oper und verfasste das Libretto ursprünglich in Englisch. Nun wurde das Werk erstmals in deutscher Sprache aufgeführt.

Marquise de Merteuil und Vicomte de Valmont, früher ein Liebespaar, sind in Verachtung einander zugetan. Verletzungen, offene Rechnungen, ein Wettkampf der Boshaftigkeiten, Ironie zum Altwerden (Vermont: „Auf Sie ist zu lange kein Regen gefallen“). Dekadenz, Langeweile, verurteilt zum Nichtstun. Heiner Müller hat das Schauspiel zeitlich vor der Französischen Revolution oder nach dem Dritten Weltkrieg verortet, also hilft kein Telefon, TV oder Klatsch auf der Terrasse des Golfclubs beim Zeit totschlagen, stattdessen verbaler Krieg. Valmont beschläft die von Merteuil gehasste Madame de Tourvel, Gattin des Präsidenten, der seinerzeit die Marquise verschmähte. Der Vicomte solle besser ihre Nichte Volanges verführen. Im Spiel tauschen sie die Geschlechter. Er: „Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen, eine Frau zu sein.“ Sie: „Ich wollte, ich könnte es!“

Die jugendliche Mojca Erdmann entspricht rein optisch keineswegs einer faltig alternden Marquise, meistert allerdings die schwierige Partie mit Sprechgesang und Ausbrüchen in irrsinnige Höhen beeindruckend. An ihrer Seite überzeugt Thomas Oliemans mit warm-markantem Bariton. Im Rollenspiel mit umgeschnallten Brüsten – naja – aber im Sterben sehr schön. Bewundernswert, was die beiden auf der Bühne leisten, es gilt unendliche Dialoge zu beherrschen und dabei jenseits gewohnter Linien zu singen.

Barbara Wysocka (Regie) und Barabara Hanicka (Bühnenbild) stellen eine löchrige Halbkugel (Dritter Weltkrieg?) auf die Bühne, die gedreht zu einem Iglu-artigen Spielraum mit wenigen Requisiten wird, Stühle, Koffer, Bücher, die in Kartons verstaut werden. Eine Tänzerin (Tourvel) und Statistin (Volanges) beleben sporadisch die Szene, sie lassen das Duett zum Quartett werden. Spiegelboden, Videoprojektionen, schwarze Vögel den Tod Valmonts begleitend (der Wein war vergiftet!), produzieren in schickem Grau gehalten schöne Bilder zum hässlichen Geschehen.

Dazu passt die Interpretation Daniel Barenboims, die man sich expressiver und mit weniger Wohlklang vorstellen könnte. Das Instrumentalensemble im Graben spielt makellos, es wird ergänzt von zugespielten elektronischen Geräuschen und Chor. Die kammermusikalische Komposition selbst beginnt spannend, zieht sich dann aber hin, ohne große Spannungsbögen zu entwickeln. Markante Tonfolgen und Instrumenten-Soli lassen den Zuschauer zum Zuhörer werden, der konzentriert der Textprojektion folgt – folgen muss, um im Stück zu bleiben. Eine durchaus sehenswerte Aufführung, auch wenn sie musikalisch nicht gerade einen Sog entfaltet.

Reinhard Eschenbach

„Quartett“ (2011) // Luca Francesconi

Plácido der Große

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Ein wohltuend Corona-befreiter „Simon Boccanegra“

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Ein wohltuend Corona-befreiter „Simon Boccanegra“

Es ist wohl eine der letzten Bühnenpartien des fast 80-jährigen Plácido Domingo und der 20-minütige Schlussapplaus kann sicher als Hommage an eine große Lebensleistung gedeutet werden. Höchstverdient aber auch für diesen Abend: Man staunt nicht schlecht, wie präsent, agil und ausdrucksstark er die große Titelpartie meistert. Die Inszenierung von Peter Stein aus dem Jahre 2002 lässt im Gegensatz dazu einige Fragen offen, sie schwankt zwischen abstrakter Gestaltung mit Lichtdesign-Elementen und realistisch anmutenden Settings ohne erkennbare Linie. Zu viele Szenen vor halbgeschlossenem Vorhang wirken uninspiriert. Etwas, das sich leider bei der Personenführung fortsetzt und für die Solistenriege größtenteils „stehend an der Rampe singen“ bedeutet. Was für ein Glück, dass begabte Sängerdarsteller wie Günther Groissböck (in der Rolle des Fiesco) es trotzdem schaffen, ihren Figuren Leben einzuhauchen. Die Kampfszenen des Chores wirken dagegen gestellt und – obwohl komplett Corona-abstandsfrei inszeniert – darstellerisch wenig überzeugend. Vielleicht hatte die Produktion im Vorfeld aber einfach nur zu wenig Proben, denn auch musikalisch hat Evelino Pidò seine liebe Mühe damit, Orchester, Chor und Solisten zusammenzuhalten und dauerhaft die richtige Klangbalance zwischen Bühne und Graben zu finden. Dass dieser Opernabend doch noch ein denkwürdiger wird, liegt eindeutig an überzeugenden Gesangsleistungen, neben Domingo vor allem die von Günther Groissböck, dessen gewaltige Bass-Präsenz von warmem Timbre und Ausdruck der Geschichte jene Intensität verleiht, die man in der Regie vermisst. Herausragend und intensiv das Versöhnungsduett im dritten Akt. Von Domingos bewundernswerter Darstellung eines in die Jahre gekommenen Boccanegra war schon oben die Rede – lediglich zum Ende beim direkten Aufeinandertreffen der beiden wird es etwas grotesk. Immerhin verkörpert hier der im richtigen Leben halb so alte Groissböck den Großvater von Boccanegras Tochter Amelia! Trotzdem, auch das funktioniert, vor allem, weil beide fabelhafte Darsteller sind, Domingo „seinem“ Simon schlüssige Präsenz verleiht und mit großer Erfahrung vorhandene Textschwächen durch überragende Rollenpräsenz sowie dem unverwechselbaren Timbre seiner Weltstimme gekonnt ausmerzt. Hut ab vor dieser erstaunlichen Leistung! Hibla Gerzmava als Amelia kämpft anfänglich mit leichten Intonationsproblemen und schrillem Timbre, bekommt ihre voluminöse Stimme im Laufe des Abends aber noch in den Griff. Der usbekische Tenor Najmiddin Mavlyanov besitzt einen kraftvollen Tenor, wirkt mit der Partie des Gabriele Adorno zuweilen aber überfordert und quetscht ein wenig in den Höhen. Darstellerische Akzente vermisst man bei ihm leider völlig. Erwähnenswert: Attila Mokus als Paolo. Alles in allem ein denkwürdiger, berührender Abend, sicher eine Reminiszenz an eine musikalische Legende.

Iris Steiner

„Simon Boccanegra“ (1857/1881) // Giuseppe Verdi

Neue Ära mit Mut zum Risiko

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Mut und fehlende Risikobereitschaft kann man dem neuen Direktor Bogdan Roščić nicht absprechen, wenn er gleich mit der ersten von zehn Saison-Premieren das Haus vor Corona-bedingt 1200 Besuchern und damit einer etwa 50-prozentigen Auslastungsquote (wieder-)eröffnet und Puccinis „Tragedia giapponese“ ansetzt. Alles steht und fällt mit einer Sopranistin, die stimmlich und darstellerisch die Entwicklung von der 15-jährigen japanischen Geisha zur liebenden und wartenden Ehefrau durchmacht und zuletzt nicht nur stirbt, sondern sich auch noch entehrt fühlend durch Jigai, dem weiblichen, japanischen Selbstmord-Ritual, selbst richtet.

Asmik Grigorian gibt ihr Hausdebüt und begeistert nach einer fantastischen Salome bei den Salzburger Festspielen 2019 auch diesmal auf allen Ebenen. Ihre Cio-Cio-San gibt sich anfangs noch reserviert, stimmlich zurückhaltend und zeitweise recht herb klingend. Während dem Liebesduett lassen die Spitzentöne aber jugendlichen Klang und den Wunsch, geliebt zu werden, aufblühen. Im zweiten Akt gelingt der phänomenalen Singschauspielerin dann ein emotionales Gesamtkunstwerk, wo alle Gefühlsausbrüche mit zarten Pianissimi-Bögen ebenso zutiefst berühren können wie die dramatischen Passagen. Sie erzeugt Gänsehaut-Gefühl, als sie dem berührten Konsul über ihr Kind mitteilt, dass sie, die verlassene Mutter, wieder tanzend ihr Geld verdienen soll.

Als unsensiblen B.F. Pinkerton erleben wir den britisch-italienischen Tenor Freddie De Tommaso, ebenfalls ein Hausdebütant. Höhensicher, durchsetzungskräftig und mit müheloser Phrasierungskunst erregt ihn das puppenhafte Spiel der Braut vor der Hochzeit und er freut sich, diese schöne Blume gepflückt zu haben. Darstellerisch kann das neue Ensemblemitglied aber kaum Akzente setzen. Einen mitfühlenden, mahnenden Sharpless stellt Boris Pinkhasovich mit warmem Klang und voluminösem Bariton dar. Die junge Virginie Verrez besticht mit klangvoller Tiefe und bringt beim Blumenduett stimmlich den Frühling auf die Bühne. Patricia Nolz ist eine hübsche Kate Pinkerton, als Heiratsvermittler Goro könnte Andrea Giovannini noch etwas stimmkräftiger singen, Stefan Astakhov wirbt als Fürst Yamadori umsonst mit schönem Tenor und Evgeny Solodovnikov donnert als Onkel Bonze.  

Der neue Generalmusikdirektor Philippe Jordan atmet mit den Solisten förmlich vom Pult aus mit und leitet sowohl kraftvoll und spannungsgeladen als auch zart und mit Wohlklang in den intimen Momenten. Der feinfühlige Summchor ist perfekt mit dem flexiblen Orchester abgestimmt und wenn man erstmals seit der Zwangspause im März die Wiener Philharmoniker hören darf, kommen manchem ohnehin die Tränen.  

Die Inszenierung aus dem Jahr 2008 stammt vom verstorbenen Filmregisseur Anthony Minghella („The English Patient“). Seine Witwe Carolyn Choa (Regie) setzt auf eine kahle Bühne mit Spiegelflächen an Decke und Boden, wo sich die farbenfrohen Kostüme opulent in Szene setzen können. Besonders berührend ist der dreijährige Bub, der als Puppe dargestellt und zuletzt der Mutter entrissen wird. Wer den einhelligen Erfolg versäumt hat, darf sich im Januar auf eine weitere Vorstellungsserie mit fast gleichem Ensemble freuen. 

Susanne Lukas

„Madama Butterfly“ (1904) // Giacomo Puccini