Es ist ein Auftakt mit doppeltem Boden: im Dämmerlicht mit dem populären „Willkommen, Bienvenue, Welcome!“ des Conférenciers. Die Geschichte aus dem Berliner Nachtleben der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist ein exemplarischer Fall von Tanz auf dem Vulkan. Mittendrin verursacht das Nazi-(Volks-)Lied „Der morgige Tag ist mein“, das die braue Herrschaft herbeisehnt, Rückenschauer. Mit jedem, der auf der Bühne dabei Haltung annimmt und einstimmt, etwas mehr. Immer noch, oder eben wieder.

Wer „Cabaret“ inszeniert, kann sich auf die mitreißende Musik von John Kander verlassen, muss aber auch gegen die berühmte Verfilmung mit Liza Minnelli anspielen. Dazu kommen die Anti-Corona-Regeln, die ihr Recht einfordern. Ringelpiez ohne Anfassen sozusagen. Oliver Helf hat eine Tribüne auf die Drehbühne gebaut, mit Revuetreppe in der Mitte und einem Glamour-Vorhang dahinter. Hier ist die achtköpfige Combo wie eine Big Band platziert. Dirigent Dominik Beykirch und Karl Epp haben die Nummern neu arrangiert. Damit heizen sie den von Modjgan Hashemian fantastisch choreographierten 14 Kit-Kat-Girls und -Boys ein. Dass es dabei nicht nur in der Geschlechterzuordnung durch die Kostüme von Aleksandra Kica bewusst drunter und drüber geht, versteht sich von selbst. Im Kit-Kat-Club toben die Roaring Twenties in Reinkultur! Das Tempo stimmt von Anfang an, selbst der Slapstick ist durchchoreographiert.

Ein Schmankerl ist die komödiantische Lust, mit der Uwe Schenker-Primus aus dem Conférencier eine umwerfende Travestie-Nummer macht. Auch beim Club-Personal ist kein Männerbein vor Strapsen und High Heels sicher. Klar, dass der Nazi im Stück (Krunoslav Šebrek ist ein überzeugend gescheitelter Ernst Ludwig) sich hier nicht wohlfühlt. Als Sally Bowles glänzt Dascha Trautwein, Thomas Kramer ist Clifford Bradshaw, der vergeblich versucht, sie zur Flucht von dem „morgigen Tag“ zu bewegen. Als sie sich entschließt, wieder aufzutreten, leuchtet hinter ihr schon das Revue-Logo der neuen Zeit und auch der Conférencier kommt jetzt nicht mehr im Fummel, sondern in Uniform und mit Führerbärtchen. Stefanie Dietrich als Fräulein Schneider und Alexander Günther als ihr jüdischer Verehrer liefern die exemplarischen Beispiele für die damals vorherrschende bürgerliche „Es wird schon nicht so schlimm werden“-Illusion.

Für Regisseur Nurkan Erpulats Abstecher ins Musiktheater ist „Cabaret“ genau die richtige Wahl. Bei den Insignien der neuen Zeit bleibt das Maß gewahrt, das ambitionierte Kunst von allzu plakativen Effekten unterscheidet. Irgendwann malt sich der geheimnisvolle Lausbub mit der blonden Perücke, der durch die Geschichte geistert, blau an. Was wohl heißen soll, dass Blau das neue Braun ist. Insgesamt bekommt die Inszenierung den Cabaret-Balance-Akt aber instinktsicher hin.

Joachim Lange

„Cabaret“ (1966) // John Kander