Während das Orchester sich noch mit der „Vorstellung des Chaos“ beschäftigt, ist die eigentlich noch bevorstehende Schöpfung auf der Bühne bereits vollendet: Eine Projektion zeigt den Erdglobus in den Weiten des Alls. Eine imaginäre Kamera zoomt sich heran, Landmassen werden sichtbar, Wiesbaden, das Staatstheater und schließlich: ein Komposthaufen vor dem Theatergebäude. Die Kamerafahrt geht weiter in den Haufen hinein, wechselt von der Makro- zur Mikroebene. Nun baut sich das Bühnenbild (Mirjam Stängl) auf als stark vergrößertes Inneres des Komposthaufens mit tiefengestaffelten Pflanzenresten. Darin wuseln stumme Schauspieler in Insektenkostümen herum. Dem Programmheft sind dazu einige dadaistische Sprachspiele eingefallen, wie „Komponieren und Kompostieren“ oder „Humunismus“ statt „Humanismus“.

Die Musik ficht das nicht an, denn ihr Aufführungsort ist von der Bühne in den Saal hinein verlagert worden. Die drei Solisten treten wechselnd in den beiden Proszeniums- und der Kaiserloge auf, der Chor hat sich in den beiden Seiten des zweiten Ranges eingefunden. Die Koordination dieser Gruppen gelingt Leo McFall im Orchestergraben problemlos. Er animiert dazu sein blendend aufgelegtes Orchester zu einem farbigen und kraftvollen Sound mit vibratoarm intonierenden Streichern und blühenden Bläsersoli. Die Tempi nimmt er zügig und setzt die Aufführung dadurch unter Strom. Die aus dem Bachchor Wiesbaden, der Kinder- und Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie sowie dem Extrachor des Staatstheaters zusammengesetzte Sängergemeinschaft folgt ihm mit frischem, homogenem Klang und vorbildlicher Artikulation. Haydns Lob- und Preis-Chöre entfalten so eine mitreißende Wucht.

Fabelhaft sind auch die Solisten: Hovhannes Karapetyan besitzt mit seinem volltönenden und gut fokussierten Bassbariton die unerschütterliche Autorität des Erzengels Raphael, Galina Benevich bejubelt als Erzengel Gabriel mit klarem Sopran die Schöpfung, der strahlende lyrische Tenor von Katleho Mokhoabane als Erzengel Uriel ist dazu eine ideale Ergänzung. Den Zusammenhang mit dem Bühnengeschehen stiften die Kostüme von Sabrina Bosshard durch bunte Stoffe, die an die farbigen Strukturen von Schmetterlingsflügeln angelehnt sind.

Zum Schlussbild mit Adam und Eva im Paradies wird die Bühne freigeräumt. Der Chor, nunmehr in Alltagskleidung, wird von unten heraufgefahren. Die Sänger halten Äpfel in der Hand, welche sie schließlich verzehren – eine Anspielung auf den von Haydn nicht vertonten Sündenfall. Nach der Aufführung geht es zum Komposthaufen vor dem Theater, wo die Apfelreste abgelegt werden. Dort erklingt dazu die Auftragskomposition „for you are soil“ von Arne Gieshoff, eine Klangskulptur unter Verwendung des „Chaos-Akkords“ aus der Einleitung zu Haydns Oratorium. So stellt das Produktionsteam um Franziska Angerer immer wieder Zusammenhänge zwischen Musik und dramaturgischem Überbau her und entgeht durch eine leicht ironische Grundierung der Gefahr eines Umkippens in öko-esoterischen Kitsch.

Dr. Michael Demel

„Die Schöpfung“ (1798/99) // Oratorium von Joseph Haydn, mit der anschließenden Neukomposition „for you are soil“ von Arne Gieshoff

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Wiesbaden