In Chemnitz wird der DDR-Kultroman „Rummelplatz“ zur Oper
Im Gespräch mit der international gefeierten Schriftststellerin und Opernlibrettistin Jenny Erpenbeck versucht Antje Rößler eine Annäherung an ein ungewöhnliches Regionalprojekt – drei Monate vor der Premiere
Ihr Image als graue Industriestadt im Osten bekommt Chemnitz nicht los, dabei hat der sächsische Ort jede Menge zu bieten. Vor allem in diesem Jahr, wo man als eine der Kulturhauptstädte Europas 2025 angetreten ist, kulturelle Vielfalt und Kreativität zu feiern.
Eines der vielbeachteten Hauptprojekte mit Uraufführung am 20. September: die Vertonung des legendären DDR-Romans „Rummelplatz“, einem drastisch-realistischen Erlebnisbericht des 1934 in Chemnitz geborenen Schriftstellers Werner Bräunig. Ein Roman, der in der DDR nicht erscheinen durfte und erst aus dem Nachlass des Autors 2007 herausgegeben wurde. Schauplatz: die Wismut AG im Erzgebirge, in der von der Sowjetunion Uran für die Atomindustrie abgebaut wurde. Bräunig positioniert sie als Metapher für die Lage in der jungen Republik, wo Alt-Kommunisten und KZ-Überlebende auf Ex-Faschisten treffen und die jüngere Generation vor allem materielle Interessen verfolgt, während die Macht der Parteibonzen zunimmt. Schließlich entladen sich die Widersprüche im Aufstand des 17. Juni 1953. Den musikalischen Part übernimmt der Hamburger Komponist Ludger Vollmer, der sich mit Opernadaptionen zeitgenössischer Bücher und Filme einen Namen gemacht hat. Um auch ein jüngeres Publikum anzusprechen, setzt er bei dieser Arbeit auf „melodischen Drive und pulsierende Rhythmen“.
Die Mammut-Aufgabe, aus Bräunigs sprachgewaltigem Nachkriegs-Panorama ein Libretto zu destillieren, übernahm die 1967 in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Als eine der bedeutendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur wurde sie 2024 als erste Deutsche mit dem renommierten International Booker Prize ausgezeichnet. Vor ihrer Karriere als Schriftstellerin arbeitete sie als Musiktheater-Regisseurin. Für Erpenbeck, die immer mal Wagners „Parsifal“ inszenieren wollte und „Peter Grimes“ als absolute Lieblingsoper bezeichnet, eine Erfahrung, die ihr bei der Arbeit am „Rummelplatz“ zugutekommt.
Frau Erpenbeck, ist dies Ihre erste Opernlibretto-Arbeit?
Nicht ganz. Als mein Mann Generalmusikdirektor in Hannover war, habe ich das Libretto für eine Uraufführung geschrieben, die Giorgio Battistelli komponierte. Meine eigene Erfahrung als Regisseurin hat mir dabei beim Schreiben sehr geholfen. Regie führte damals Frank Hilbrich, der jetzt auch den „Rummelplatz“ machen wird.
Wie kam es überhaupt zu dieser thematisch ungewöhnlichen Opernproduktion?
Der Dramaturg Johannes Frohnsdorf hatte die sehr einleuchtende Idee, im Kulturhauptstadt-Jahr eine Produktion zu machen, die in der Gegend verwurzelt ist. Etwas, das die Menschen dort wirklich erreicht und zugleich Strahlkraft nach außen hat. Er brachte Bräunigs „Rummelplatz“ ins Gespräch.
Welchen Eindruck haben Sie generell vom Theater Chemnitz?
Das Theater hat es, wie mir scheint, nicht leicht. Die Chemnitzer Oper ist kein Staatstheater und muss deshalb mit relativ wenig Subventionen auskommen. Und die Leute sind dort wohl vergleichsweise wenig ausgehfreudig. Ich habe auch bei meinen Lesungen oft erlebt, dass sich im Westen das kulturaffine Bürgertum auch dadurch definiert, dass man sich bei Veranstaltungen öffentlich zeigt und trifft. Im Osten hatte ich dagegen manchmal den Eindruck, dass es so etwas wie einen Rückzug nach innen gibt. Die Zuhörer dort stellen wenig Fragen, sind nichtsdestotrotz aufmerksam und nachdenklich. Zu Ostzeiten wurden sogar Arbeiter und Bauern mit Sonder-Bussen in die Kultureinrichtungen gebracht. Inzwischen hat die Oper ihren Ruf als elitäre Institution leider wiedergewonnen, heutzutage pfeifen Arbeiter und Bauern wohl auf sowas wie Oper. Das ist schade!
Wann und wie sind Sie Bräunigs Roman begegnet?
Als die Anfrage aus Chemnitz kam, kannte ich bereits einige Werke von ihm, aber nicht den „Rummelplatz“. Ich wollte zuerst ablehnen, denn es ist ein Mammut-Unternehmen, aus einem 800-Seiten-Roman ein Libretto zu machen. Dann habe ich den Roman gelesen und war einfach hin und weg. Das ist ein unglaublich lebendiges und gutes Buch – nicht nur inhaltlich, auch sprachlich.

Was genau hat Sie an dem Roman fasziniert?
In der Einsamkeit Unter Tage stellen sich bestimmte Fragen viel existenzieller als im normalen Leben. Zugleich beschreibt Bräunig den wildwest-artigen Aufbruch in der Wismut nach Kriegsende, mit den vom Krieg kaputten Menschen, mit der komplexen politischen Lage – die Wismut gehörte ja der Sowjetunion – und dem politischen Wettlauf um die erste Atombombe. Und Werner Bräunig ist auch als Person der Zeitgeschichte interessant. Er hat viel durchgemacht, war aber durchaus für den Neuanfang unter sozialistischem Vorzeichen. Dennoch durfte sein Buch damals nicht erscheinen, was er wohl nicht verkraftet hat. Er ist viel zu früh – mit 42 Jahren – am Alkohol zugrunde gegangen.
Was sind das für Männer, die in der Wismut AG die sog. Pechblende [Anm. d. Red.: bedeutendes Erz zur Uran-Gewinnung] abbauten?
In Bräunigs Roman sieht man deutlich, dass es keine „Stunde Null“ gab. Die Regierung im Osten musste mit den vorhandenen Leuten das neue System begründen: mit Faschisten und Mitläufern, mit Opportunisten und Karrieristen. Und mit der Handvoll Kommunisten, die aus den Lagern oder der Illegalität zurückkamen. Die Wismut bildete eine Art Miniatur-Staat. Und Bräunig schaut sich diesen Mikrokosmos an: Wie soll das gehen, dass all diese Leuten zusammen etwas aufbauen?
Der Roman läuft auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 zu. Endet hier auch die Oper?
1953 kam es zum ersten Bruch in der DDR-Geschichte, ausgelöst durch die Empörung der Arbeiter über die neuen Normen, die in den Betrieben eingeführt werden sollten. Im Epilog schlage ich einen Bogen bis ins Jahr 1992, als die Wismut aufgelöst wurde. Da muss eine der Hauptfiguren „abwickeln“, was sie als junge Frau mit viel Überzeugung aufgebaut hat. Eine tragische Figur. Chemnitz ist bis heute geprägt von diesen Verwerfungen, weil der Bergbau die Gegend zusammenhielt. Durch die Schließung vieler Zechen in den Neunzigern gibt es eine gemeinsame Verlusterfahrung in Bezug auf Arbeit, Familie und Zukunft. Dieser Schnitt in den Biografien vieler Menschen dort schlägt durch bis heute.
Ist das ein Stoff, der ausgerechnet nach einer Oper ruft? Man hätte ja auch ein Theaterstück daraus machen können …
Oper ist immer schön. (lacht) Aber nicht nur deshalb. Ein wichtiger Aspekt des Romans ist es, sich durch Vergnügen und vor allem mit Schnaps zu betäuben, damit man die schwere Arbeit überhaupt machen kann. Das ruft förmlich nach Musik. Und dann die vielen verschiedenen Stimmen, die kann man nur durch Musik zusammenbringen – und auch wieder auseinanderfliegen lassen. Bei Bräunig steht der Rummelplatz übrigens auf einem ehemaligen Friedhof. Die Nähe des Todes hat immer viel mit Oper zu tun.
Der Roman wirkt auch sehr akustisch und beschreibt eine unglaubliche Lärmkulisse.
Die Maschinen in den Stollen sind natürlich per se sehr laut. Aber das Ausgesetztsein unter diesen ungeheuren Mengen von Stein bringt auch jede einzelne Stimme mit ihrer Angst und Einsamkeit zum Vorschein. Oper bietet ja auch immer eine Innenansicht der Seelen. Und Ludger Vollmer hat ein Gefühl für den „Appeal“ des Genres, für den Pop-Aspekt. Das finde ich gut. Auch, weil ihm sehr wichtig ist, wieder junges Publikum für die Oper zu interessieren.

Es wird also eher nicht avantgardistisch klingen?
Neue Musik sollte nicht nur für Experten da sein. Musik hat ursprünglich mit Körper, mit Rhythmus und Tanz zu tun. Man muss sie auch auf einer sinnlichen und lebendigen Ebene verstehen können. Ich selbst war schon das eine oder andere Mal bei Aufführungen sogenannter Neuer Musik, wo die Besucher sich hinterher benahmen wie bei „Des Kaisers neue Kleider“: Keiner traute sich zu sagen, dass er nichts verstanden hat. Und Avantgarde in der Musik nützt nichts, wenn man nicht auch emotional versteht, was das Neue ist.
Sie haben zwei Jahre Theaterwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und dann Musiktheater-Regie an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ studiert.
Ja, und ich erinnere mich gern an Gerd Rienäcker, meinen legendären Professor für Musikgeschichte, von dem ich viel gelernt habe. Er kommt übrigens auch in meinem Buch „Kairos“ vor. Ich zitiere da einen sehr berührenden Brief, den er mir nach dem Mauerfall geschrieben hat: Er ist froh, dass wir die Sklavensprache nun endlich abwerfen dürfen. Gleichzeitig verzweifelt er, weil er sieht, wie das Volk in den Abgrund läuft und er es nicht zurückhalten kann.
Sie haben als Kind ein Jahr in Italien gelebt, weil Ihre Mutter kurzzeitig mit einem Diplomaten dort verheiratet war. Hat das etwas mit Ihrer Liebe zur Oper zu tun?
Nein, die kam später, als ich schon fast erwachsen war. Allerdings habe ich immer gern selbst gesungen, als junges Mädchen einige Jahre in einem Kirchenchor. Die Eignungsprüfung für Musiktheater-Regie habe ich recht spontan gemacht und dann überraschend bestanden.
Andere Musiktheater-Regisseurinnen berichten von einer gewissen Frauenfeindlichkeit in diesem Metier. War das auch Ihre Erfahrung?
Wenn überhaupt, hatte ich Probleme mit den Sängerinnen, mit den Männern eigentlich nie. Frauen mögen es manchmal nicht, sich von einer anderen Frau etwas sagen lassen zu müssen. Es ist einfach ein sehr anstrengender Beruf mit viel Stress und unchristlichen Arbeitszeiten. Wenn man Kinder haben möchte, sollte man sich einen anderen Job suchen. Deshalb habe ich übrigens mit dem Beruf aufgehört. Als mein Sohn drei Jahre alt war, musste ich elf Kindergärten kontaktieren, bis ich ihn schließlich als Gastkind anmelden konnte. Von der Betreuung während der Abendproben ganz zu schweigen.
Ihren Mann, den Dirigenten Wolfgang Bozic, treffen Sie wohl auch nicht jeden Tag am Abendbrottisch?
Inzwischen häufiger als früher. Er begleitet mich oft auf meinen Lesereisen. Im März waren wir vier Wochen auf Literaturfestivals in Indien und Sri Lanka und jetzt gerade zwei Wochen in Ägypten.
Mischen Sie sich eigentlich in politische und gesellschaftliche Debatten ein?
Hin und wieder, aber die Auseinandersetzung in den Medien wird oft sehr hart geführt. Wenn man eine Meinung äußern will, die vom gängigen Kanon abweicht, kostet das viel Energie. Manchmal will ich diesen Gegenwind nicht aushalten, weil solche Auseinandersetzungen einen mit Haut und Haaren auffressen und meistens fruchtlos sind. Da verwende ich meine Energie lieber für ein neues Buch. Das Schwarz-Weiß öffentlicher Diskussionen reicht oft nicht, um etwas wirklich in der Tiefe zu verstehen.
Chemnitz ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt. Deshalb greifen wir trotzdem eine Debatte auf: Warum hat die AfD in Ostdeutschland solche Erfolge?
Hätte man den Ostdeutschen schon viel früher Verantwortung zumindest für ihre eigenen Lebensbereiche zugestanden, wäre es wohl nicht so weit gekommen. Auch in den Medien waren und sind Ostdeutsche leider noch immer nicht angemessen repräsentiert. Ost und West haben 40 Jahre lang unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Aber Erfahrungen sind per se nicht richtig oder falsch, und keine ist mehr wert als die andere. Diesen Spagat auszuhalten, scheint eine schwere Übung.
„RUMMELPLATZ“
Ein Projekt für Chemnitz 2025
Nach einem Roman von Werner Bräunig
Musik von Ludger Vollmer, Libretto von Jenny Erpenbeck
Uraufführung: 20. September 2025 – weitere Termine bis November 2025
www.theater-chemnitz.de
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2025