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Gestern. Heute. Morgen?

Nora Schmids Dresdner Programmatik

Nora Schmids Dresdner Programmatik

Interview Florian Maier

2010 kam Nora Schmid als Chefdramaturgin das erste Mal nach Dresden, nach dem überraschenden Tod ihrer Chefin Ulrike Hessler 2012 trug sie als Teil der Interims-Intendanz schon einmal die Verantwortung. Heute – zehn Jahre später – setzt die 46-Jährige mit mittlerweile achtjähriger Grazer Intendanz-­Erfahrung ganz allein „die Segel“ für die Semperoper auf dem Weg in eine erfolgreiche ­Zukunft. Unter zugegebenermaßen nicht einfachen Bedingungen.

Hatten Sie schon in der Ära Hessler und der darauffolgenden Interims-Intendanz Visionen, die sich erst jetzt als „offizielle“ Nachfolgerin verwirklichen ­lassen?
Ich bin damals gemeinsam mit Ulrike Hessler nach ­Dresden gekommen – durch ihren viel zu frühen, tragischen Tod ist quasi über Nacht eine große Lücke entstanden. Da ging es dann mit unglaublichem Zusammenhalt zuallererst ums Reagieren: Wie machen wir jetzt weiter? Ich habe gemerkt, dass ich vor diesem Hintergrund mittelfristig erst einmal einen anderen Weg für mich selbst einschlagen wollte. Es war in der Vorbereitung meiner eigenen Intendanz von Vorteil, die Semperoper schon so gut zu kennen. Aber in den zehn Jahren seit meinem damaligen Abschied hat sich hier auch viel weiterentwickelt – und mir war es wichtig, jetzt „frisch“ in ein neues Kapitel zu starten.

Sie kehren an ein sehr traditionsreiches Haus zurück. Schlagen Sie programmatische Brücken zur Historie – oder gerade bewusst nicht?
Ich glaube, es braucht beides. ­Jedes Theater hat seine Wurzeln, seine ­Seele. Die gilt es zu pflegen, aber auch weiterzuführen. Die Semperoper hätte keine Tradition, wenn man sie nicht immer wieder ins Hier und Jetzt geholt hätte. Wenn Sie sich unseren ersten Spielplan ansehen, entdecken Sie Richard Strauss’ „Intermezzo“, dessen Uraufführung im vergangenen November vor exakt 100 Jahren in ­Dresden stattfand. Aber mit ­Kaija ­Saariahos „­Innocence“ von 2021 auch eine der packendsten zeitgenössischen Opern der letzten Jahre. Diese Spann­weite macht ein ausgewogenes Programm aus.

Von einer ­Zukunftsperspektive „Semper 2030“ war die Rede, als Sachsens Kulturministerin ­Barbara Klepsch 2021 Ihre Berufung bekanntgab: „Wir sehen dabei das, was heute gut ist, und denken trotzdem an das Übermorgen der Oper.“ Wie sieht denn dieses „Über­morgen“ konkret aus, das Sie ansteuern möchten?
Ich halte es für falsch zu kategorisieren: „Das ist das Gestern/das Heute/das Morgen.“ Gerade bei einem großen Repertoirebetrieb wie dem unseren läuft alles ineinander. Wir haben eine ­breite Palette an Aufführungen, die in ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden sind – manche sind 40 Jahre alt, andere noch ganz neu. Mich erinnert das manchmal an ein Museum: Wenn man eine neue Hängung plant und eine bestimmte Produktion in Kontrast zu einer anderen setzt, erlebt man womöglich auch das Altbekannte plötzlich wieder ganz „neu“. „Übermorgen der Oper“ bedeutet für mich, mit unserem Gesamtprogramm zu spielen und dabei das Publikum mitzunehmen – das ist immer ein laufender Entwicklungsprozess.

Sie haben das Ensemble der Semperoper vergrößert. Ein Bekenntnis zum genannten Repertoiretheater?
Auf jeden Fall. Instrument des Jahres 2025 ist die menschliche Stimme und wenn wir uns fragen, wovon das Musiktheater lebt, ist für mich die eindeutige Antwort der singende Mensch. Er berührt uns und steht Abend für Abend auf dieser Bühne. Natürlich ist es zentral, welche Geschichten wir erzählen – aber eben auch, mit welchen Menschen. Das Publikum baut eine Beziehung mit „seinen“ Künstlerinnen und Künstlern auf. Mir ist es dabei immer wichtig, dass verschiedene Generationen und Erfahrungslevel aufeinandertreffen. Nur so können die Mitglieder eines Ensembles voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren.

Oper „ganz nah an unserer Zeit“: Szene aus Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“, 2024 (Foto Semperoper Dresden/David Baltzer)

„Mich interessiert nur gesellschaftlich relevantes Theater“, bekannte Ihr Vorgänger Peter Theiler. Was bedeutet das für Sie?
Es gibt viele Dinge, die gesellschaftlich relevant sind. Oft werde ich aber auch gefragt, was ich unter „­modern“ verstehe. Ob beides letztlich ein und dasselbe ist? Ich weiß es nicht. Mich beschäftigt auf jeden Fall das, was uns berührt und bewegt, unabhängig von einer zwanghaft „modernen“ Ästhetik. Wenn wir noch einmal auf „­Innocence“ schauen, geht es dort um Themen wie Waffengewalt, Mobbing und Zivilcourage. Auch ­Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ ist bei aller überbordenden Fantasie ganz nah an unserer Zeit: Ein Prinz hat das Lachen verlernt, findet keine Freude am Leben, ist depressiv – in der Welt nach Corona ein riesiges Thema. Letztlich verstecken sich die Motive, die uns in unserem Menschsein umtreiben, in allen Werken der Theatergeschichte – sonst wären diese ja nie entstanden. Gutes Theater erhebt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern ist immer eine Einladung zum Öffnen von Gedankenräumen.

Das führt uns zum Motto Ihrer ersten Spielzeit: „Stell dir vor“.
„Stell dir vor“ ist weniger Spielzeitmotto als vielmehr ein Appell an die eigene Vorstellungskraft: Lass Dich auf die Oper ein – und entdecke, was sie womöglich mit Dir selbst zu tun hat.

Ist die persönliche Ansprache per „Du“ auch ein Versuch, die Oper unverkrampfter an neue Besucherschichten heranzutragen? Und ist das eine Genera­tionenfrage?
Lustigerweise haben wir tatsächlich intern darüber diskutiert, ob wir „einfach so“ alle duzen können. (lacht) Aber es handelt sich ja eher um eine indirekte Kontaktaufnahme, auf die erfreulicherweise alle Generationen anspringen. Wir bekommen Feedback, dass unsere Besucherinnen und Besucher mittlerweile schon neugierig sind, welcher Spruch als nächstes kommt. Ravels „Das Kind und der Zauberspuk“ etwa bewerben wir mit „Stell dir vor, deine Fantasie wird Wirklichkeit“, ­Gounods „Roméo et Juliette“ mit „Stell dir vor, du darfst nicht lieben, wen du liebst“. Das sind Gedanken, die uns alle etwas angehen.

In den fast zehn Jahren Ihrer Abwesenheit hat sich das gesellschaftspolitische Klima extrem erhitzt – gerade auch in Dresden. Macht sich das für Ihr Ensemble und Sie bemerkbar – im Alltag und auf der Bühne?
Wir sind ein enorm internationales Haus mit Menschen aus fünf Kontinenten – ein richtig gutes Beispiel für ein harmonisches Miteinander, finde ich. Aber natürlich werden auch wir mit der zunehmenden Entwicklung zu einer Empörungs- und Befindlichkeitsgesellschaft konfrontiert … Das würde ich aber nicht speziell auf Sachsen beziehen, das lässt sich ja mittlerweile leider ­europa- und weltweit beobachten.

Wie reagiert man darauf – mit politischem Theater und klarer Haltung?
Wir sind Kulturschaffende und keine Parteipolitiker, aber selbstverständlich vertreten wir die Grundpfeiler der Demokratie und des Humanismus. Das sind unsere Wurzeln und für die stehen wir auch mit ganz klaren Haltungen ein.

40 Jahre „dritte“ Semperoper: Oben die Videoinstallation „SILENTIUM“ des Kollektivs OchoReSotto als „Ausrufezeichen des Erinnerns und Wachhaltens“. Unten Schlüsselübergabe auf dem Theaterplatz, 13. Februar 1985 (Fotos Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe & Matthias Rank)

40 Jahre sind seit dem Wiederaufbau der Semperoper vergangen – das Ereignis galt damals als Symbol gegen Krieg und Zerstörung. Ist dieser Symbolcharakter in der Stadtgesellschaft heute noch präsent?
Der Wiederaufbau der Semperoper zu DDR-Zeiten ist ein unglaublich faszinierendes Thema. Genauso wie übrigens die Weihe der Frauenkirche 20 Jahre später: Das war ein Zeichen der Völkerverständigung, ein Brückenschlag zwischen Ost und West, vielleicht sogar so etwas wie ein europäischer Versöhnungsgedanke. Beides sind Jahrhundertprojekte, die als Wahrzeichen weit über Dresden hinausstrahlen. Jetzt sind die politischen Tendenzen überall gerade völlig andere … Aber ich denke, man wird sich irgendwann wieder darauf besinnen. Denn die Kraft, die von diesen Institutionen ausgeht, ist eine sehr besondere. Manchmal frage ich mich, wenn ich allein im Zuschauerraum sitze: Was würde mir dieser Raum alles erzählen, wenn er sprechen könnte?

In Zeiten mauer Kassen gerät die Kultur wieder einmal mit als erstes in den Sparfokus. Große Dresdner Kulturinstitutionen wie die Staatsoperette stehen auf der „roten Liste“ – die Semperoper auch?
Zunächst sprechen wir da von zwei verschiedenen Töpfen: Die Staatsoperette ist städtisch, wir werden vom Freistaat Sachsen finanziert. Allerdings beschränken sich die mauen Kassen nicht nur auf die Stadt. Umso wichtiger ist es, immer wieder zu zeigen, warum es uns braucht. Wir sind ein sächsischer Leuchtturm für die Welt: Die Semperoper kennt man. Als Kulturbotschafterin appelliere ich an alle Verantwortlichen, sich bewusst zu machen, dass so etwas nicht aufs Spiel ­gesetzt werden darf! Vom kulturgeschichtlichen und künstlerischen Stellenwert einmal abgesehen lässt sich das auch wirtschaftlich bekräftigen: Wir generieren enorm viele Besucherinnen und Besucher, die wegen der Semper­oper überhaupt erst nach ­Dresden kommen – und dann hier einkaufen, Cafés, Bars und Restaurants besuchen. Wir sind auch ein unglaublicher Wirtschaftsfaktor für die Stadt und die Region.

Die Semperoper hat dabei einen Spagat zu meistern: hier die Befriedigung des Touristenanspruchs, da der Wunsch, künstlerisch zukunftsfähig zu bleiben.
Naja, was heißt „Touristenanspruch“? 50 Prozent unseres Publikums ist ein überregionales, das von außerhalb Sachsens zu uns kommt. Mehrheitlich sind das wirk­liche Kulturfans. Oft klingt es aber trotzdem nach: „Die Semperoper ist wegen der Touristen eh voll.“ Es kauft sich aber jemand nur dann eine Karte, wenn das, was wir bieten, attraktiv und von hoher Qualität ist.

In den letzten Jahren steht das Berufsbild Intendanz wegen Machtmissbrauch, toxischem Arbeitsklima etc. vielerorts in der Kritik. Sie dagegen gelten als Teamplayerin. Wie schafft man es, eine solche „Worthülse“ im Alltag wirklich mit gutem Beispiel zu beglaubigen?
Indem man es jeden Tag immer wieder aufs Neue versucht. Bei der Anzahl der Prozesse, die es in so einem großen Haus zu moderieren gilt, ist das eine Herausforderung. Ich halte nichts von einer Fehlerkultur, in der man auf den Schuldigen zeigt. Es ist doch viel zielführender, darüber nachzudenken, was man beim nächsten Mal besser machen kann. Ganz abgesehen davon, dass ich viele Berufsjahre ja selbst nicht „die Chefin“ war. Wo viel gearbeitet wird, passiert immer mal wieder irgendetwas, aber die Grundfrage für uns alle ist doch: Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2025

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Ich brauche Freiheit!

Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber lebt seinen Künstlertraum – zwischen Wien und Hamburg, zwischen Familie, Berufung, Herkunft und Identität

Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber lebt seinen Künstlertraum – zwischen Wien und Hamburg, zwischen Familie, Berufung, Herkunft und Identität

Interview Georg Rudiger

Bis 2023 war Omer Meir Wellber Musikdirektor an der Volksoper Wien, bis 2024 auch Chefdirigent am Teatro Massimo in Palermo – in Kürze beginnt sein Engagement als Generalmusikdirektor an der Staatsoper Hamburg. Wir haben nach der Wiener Uraufführung von „Alma“ mit dem 43-Jährigen ­gesprochen: über sein Aufwachsen am Rande der Wüste, sein eigenes Komponieren, über Antisemitismus und die Ignoranz der Linken. Und darüber, was er gemeinsam mit dem neuen Intendanten Tobias Kratzer in Hamburg vorhat.

An der Wiener Volksoper haben Sie Ende ­Oktober die Uraufführung von „Alma“, einer fünfaktigen Oper der israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff, dirigiert. Sie komponieren selbst. Hilft das in der Zusammenarbeit mit einer Komponistin?
Auf jeden Fall. Wir haben für diese Oper drei Jahre zusammengearbeitet und uns alle sechs Monate getroffen, um Veränderungen vorzunehmen, zu kürzen, zu ergänzen und die Instrumentation zu überarbeiten. Die Entscheidungen hat natürlich Ella getroffen – aber für sie war es wichtig, mit mir im Dialog zu sein. Große Komponisten wie ­Giacomo Puccini, ­Richard Strauss oder Johannes Brahms waren immer im Dialog. Seien wir ehrlich: Bei zeitgenössischen Opern könnte man häufig einige Passagen streichen. „Alma“ dagegen hat eine Kompaktheit, die sicherlich auch ein Ergebnis unseres Austauschs ist.

Was hat Ihnen musikalisch besonders gefallen an der Oper?
Vieles! Ich kenne die musikalische Sprache von Ella sehr gut, ich habe schon viele ihrer Werke dirigiert. Ihre Musik hat eine sehr starke Verbindung mit dem Text, es gibt theatralische Ideen in ihrer Partitur. Außerdem finde ich es sehr interessant, wie virtuos sie mit verschiedenen Stilen spielt, ohne dabei eklektisch zu werden.

Das Leben von Alma Mahler-Gropius-Werfel wird in der Oper von hinten nach vorne erzählt – es beginnt mit der 56-jährigen Alma Gropius im Jahr 1935 und endet mit der 22-jährigen Alma Schindler 1901. Die Oper ­läuft im letzten Akt auf die zentrale Szene zu, wenn Alma ihre Noten verbrennt. Kurz zuvor hatte ihr Gustav Mahler das Komponieren verboten. Sie haben schon als Kind eigene Musik zu Papier gebracht. Was hätten Sie gemacht, wenn Ihnen Ihre Eltern das Komponieren verboten hätten?
(lacht) Das ist eine gute Frage. Man kann sich das schwer vorstellen, weil heutzutage die meisten Kinder grundsätzlich alles machen dürfen. Aber es gibt schon viele Länder wie ­Afghanistan oder der Iran, in denen Frauen wenige oder gar keine Rechte haben. Diese Entscheidung gegen die Musik war für Alma eine Entscheidung gegen sich selbst, gegen ihre Persönlichkeit. Das ist sehr tragisch. Bei uns zuhause war das völlig anders. Meine Eltern haben nichts forciert, aber auch nichts behindert. Ich war da ganz frei in meiner Entwicklung, wofür ich dankbar bin. Aber natürlich habe ich durch die Entscheidung für die Musik auf vieles verzichten müssen. Ich spielte sehr wenig mit anderen Kindern auf der Straße, habe nie an Schulausflügen teilgenommen. Als Künstler muss man immer einen Preis zahlen, dieser Verzicht gehört einfach dazu. Wir sind jetzt in Wien – und meine Tochter in Mailand.

Bei der Probe von „Alma“ mit Komponistin Ella Milch-Sheriff (Foto Barbara Pálffy)

Wie sind Sie denn überhaupt zum Komponieren gekommen? Das ist ja eher ungewöhnlich für ein Kind. Wie alt waren Sie denn?
Elf Jahre.

Kam das zeitgleich mit dem Erlernen von Klavier und Akkordeon?
Ja. Das hatte auch mit meinen Lehrern zu tun, die echte Künstler waren und meine ­Kreativität gefördert haben. Einer war Emigrant aus Russland, der andere Holocaust-Überlebender. Sie haben viel erlebt. Auch meine Heimatstadt spielte eine Rolle.

Be’er Sheva am Rand der Negev-Wüste: eine Großstadt mit über 200.000 Einwohnern.
In meiner Kindheit war die Stadt allerdings mit rund 80.000 Einwohnern noch viel kleiner. Der Aufschwung kam erst in den 90er Jahren mit der Gründung von zwei Universitäten. Be’er Sheva war in meiner Kindheit eine arme, multikulturelle Stadt, in der wenig geboten war. In meiner Schulklasse hörte ich acht verschiedene Sprachen. Ich habe aus rumänischen Büchern gelernt, weil meine Lehrerin aus Rumänien kam. Wir mussten uns alles hart erarbeiten – das hat mich geprägt.

Für wen haben Sie komponiert?
Für meine Freunde. Einer spielte Mandoline, der andere Violine, ich Klavier und Akkordeon. Ich habe viele Stücke für diese Besetzung geschrieben. Wir waren wie eine kleine musikalische Gesellschaft und haben unsere eigene Musik gespielt. So ein bisschen wie bei Joseph Haydn und Antonio Vivaldi.

Welchen Stellenwert hat das Komponieren heute für Sie?
Seit zehn Jahren komponiere ich gar nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen hatte ich das Bedürfnis, Bücher zu schreiben und keine Musik mehr. Ich wollte konkreter werden – meine künstlerischen Ideen konnte ich ab diesem Zeitpunkt besser durch Sprache ausdrücken. Dann habe ich meinen ersten Roman „Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner“ geschrieben. Inzwischen ist mein zweiter fertig, aber noch nicht veröffentlicht. Das ist im Augenblick meine kreative Welt. Durch meine Tätigkeit als Dirigent habe ich so viel Musik von anderen im Kopf, dass es mir schwerer fällt als früher, meine eigene Musik zu hören. Richard Strauss und Gustav Mahler ging es ähnlich – sie haben sich dann in die Stille der Natur zurückgezogen, um wieder komponieren zu können.

Beeinflussen Ihre Erfahrungen mit dem Komponieren auch Ihre Interpretationen als Dirigent? Möchten Sie lieber etwas Neues schaffen, als das Alte zum Leben zu erwecken?
Absolut ja. Als Komponist sehe ich andere Dinge in der Partitur: Was steht hinter den Noten? Ich sehe meine Arbeit als Dirigent viel weitgefasster. Und habe auch kein Problem damit, eine Partitur zu kürzen oder Dinge herauszuarbeiten, die nicht notiert sind. Es interessiert mich überhaupt nicht, wie Mozarts Musik in der Zeit ihrer Entstehung geklungen hat. Der Notentext braucht immer eine Interpretation.

„Wenn ich ein Werk ­dirigiere, mache ich das niemals gleich“ (Foto Oliver Killig)

In der Oper „Alma“ gibt es im ersten Akt wüste antisemitische Äußerungen von Alma Mahler. Gustav Mahler wurde 1907 Opfer einer antisemitischen Kampagne in Wien, vor der er mit Alma nach New York an die Met flüchtete. Sie arbeiten als israelischer Dirigent schon lange in Europa. Haben Sie selbst Antisemitismus erlebt?
Nein, persönlich nicht. Aber meine Definition von Antisemitismus ist auch etwas anders. Alma Mahler ist hierfür ein gutes Beispiel. Diese Frau war zwar Antisemitin, aber trotzdem verheiratet mit Gustav Mahler und Franz Werfel, zwei sehr bekannten Juden. Das Leben ist kompliziert und voller Widersprüche. Heute muss man in einer Diskussion für oder gegen Israel sein. In der polarisierten öffentlichen Debatte wird eine Stellungnahme gegen ­Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt. Das ist falsch. Die politische Korrektheit spiegelt die Ambivalenz der Wirklichkeit nicht wider. Man kann gegen Netanjahu sein, aber für Israel. Für Palästina, aber gegen die Hamas. Diese Möglichkeiten, diese Grautöne werden aber im Schwarz-Weiß-­Denken und der damit verbundenen Empörungskultur nicht abgebildet. Die Erstarkung der Rechten in Europa hängt damit zusammen. Das ist der Protest gegen Denkverbote. Alma Mahler könnte ein gutes Beispiel dafür sein, wie komplex das Leben ist. Einfache Lösungen sind immer falsch.

Wie schauen Sie selbst aktuell auf den Krieg in Israel und dem Libanon?
Ich bin ein großer Kritiker von Benjamin ­Netanjahu und seiner faschistischen Clique. Das Vorgehen ­Israels im Gazastreifen ist für mich nicht akzeptabel. Da wurden viele Fehler gemacht. Im Libanon ist die Sache etwas anders. Vom Libanon aus wurde Israel die letzten zehn Jahre von der Hisbollah mit Raketen angegriffen. Mehr als 150.000 Bewohner aus dem Norden Israels mussten ihre Häuser verlassen und leben seit einem Jahr im Hotel. Diese Situation muss gelöst werden. Von hundert falschen Sachen macht Netanjahu eine Sache richtig. Und im palästinensischen Widerstand gibt es auch berechtigte Anliegen. Ich war ein überzeugter Linker, aber die Linke hat im palästinensisch-israelischen Konflikt große Fehler gemacht.

Wie meinen Sie das?
Wir waren zu zufrieden in unserer Denkblase und haben die Realität nicht angeschaut. Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, nach den brutalen Vergewaltigungen, Geiselnahmen, Folterungen und Tötungen hat keine feministische Organisation etwas gegen die Hamas gesagt. Die Linke hat die Realität nicht gesehen. Freunde meiner Mutter sind in diesem von der Hamas überfallenen Kibbuz geköpft worden. Ihre Köpfe hat man nicht mehr gefunden. Diese Realitätsverkennung der Linken ist gefährlich. Eine Transgender-Person aus Berlin würde im Iran oder in Palästina sofort getötet. Diese Ignoranz der Linken und der Rechten ist das Problem, das uns auch in Zukunft noch beschäftigen wird. Alma Mahler, um auf sie zurückzukommen, vereint Widersprüche in sich und wird damit der Realität viel mehr gerecht. Wir brauchen mehr Alma ­Mahlers.

Sie hatten an der Wiener Volksoper einen Vertrag bis 2027 als Musikdirektor, sind dann aber Ende 2023 von diesem Amt zurückgetreten, weil sie im September 2025 als Generalmusikdirektor in Hamburg beginnen.
Wichtig war Intendantin Lotte de Beer und mir, dass unsere musikalische Zusammenarbeit wie jetzt in „Alma“ weitergeht. Ende Januar werde ich an der Volksoper mit dem „KaiserRequiem“, einer Verbindung von Viktor Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ mit Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem, die nächste Produktion dirigieren. Mein früherer Assistent Ben Glassberg hat die Stelle des Musikdirektors übernommen – so ist das für alle eine gute Lösung.

Und was haben Sie in Hamburg vor?
Ich kann noch nicht viel sagen, weil erst im März unsere Pressekonferenz stattfindet. Aber so viel: An der Staatsoper Hamburg beginnt eine neue Ära. Das wird zu spüren sein. Wir haben neue Ideen für die Konzerte, aber auch für das Musiktheater. Ich leite dort in der kommenden Spielzeit zwei Produktionen – und beide sind keine klassischen Opern. Das Haus soll innerhalb Deutschlands ein besonderes Profil erhalten, wie es auch in der Vergangenheit mit Peter Konwitschny, Rolf Liebermann oder auch schon Gustav Mahler der Fall war.

Also mehr Experiment?
Ja. Es gibt hier ein sehr neugieriges, offenes Publikum. Wir haben den Hafen als Tor zur Welt, wir haben viele Touristen. Wir möchten noch mehr in Dialog treten mit der Stadt, mit den unterschiedlichen Kulturen, aber auch mit der Wirtschaft und Politik.

Sie haben sich Ihr Studium als Zauberer finanziert. Welche Probleme im Musikbetrieb würden Sie gerne verschwinden lassen?
(lacht) Als Zauberer gibt es zwei entscheidende Dinge. Erstens: Timing. Zweitens: Man kann denselben Trick nicht zweimal machen. Das ist für einen Zauberer wichtig, aber auch für einen Generalmusikdirektor. Wenn ich ein Werk dirigiere, mache ich das niemals gleich. Auch in den Proben lasse ich viele Entscheidungen offen, was für die Orchester­musikerinnen und -musiker vielleicht auch anstrengend sein kann. Ich brauche diese Freiheit. Die eigentliche Interpretation entsteht dann im Augenblick der Aufführung – das ist der Zauber.

Lesetipp

Omer Meir Wellber:
„Die vier Ohnmachten
des Chaim Birkner“
208 Seiten, Berlin Verlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2025

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