Interview Florian Maier

2010 kam Nora Schmid als Chefdramaturgin das erste Mal nach Dresden, nach dem überraschenden Tod ihrer Chefin Ulrike Hessler 2012 trug sie als Teil der Interims-Intendanz schon einmal die Verantwortung. Heute – zehn Jahre später – setzt die 46-Jährige mit mittlerweile achtjähriger Grazer Intendanz-­Erfahrung ganz allein „die Segel“ für die Semperoper auf dem Weg in eine erfolgreiche ­Zukunft. Unter zugegebenermaßen nicht einfachen Bedingungen.

Hatten Sie schon in der Ära Hessler und der darauffolgenden Interims-Intendanz Visionen, die sich erst jetzt als „offizielle“ Nachfolgerin verwirklichen ­lassen?
Ich bin damals gemeinsam mit Ulrike Hessler nach ­Dresden gekommen – durch ihren viel zu frühen, tragischen Tod ist quasi über Nacht eine große Lücke entstanden. Da ging es dann mit unglaublichem Zusammenhalt zuallererst ums Reagieren: Wie machen wir jetzt weiter? Ich habe gemerkt, dass ich vor diesem Hintergrund mittelfristig erst einmal einen anderen Weg für mich selbst einschlagen wollte. Es war in der Vorbereitung meiner eigenen Intendanz von Vorteil, die Semperoper schon so gut zu kennen. Aber in den zehn Jahren seit meinem damaligen Abschied hat sich hier auch viel weiterentwickelt – und mir war es wichtig, jetzt „frisch“ in ein neues Kapitel zu starten.

Sie kehren an ein sehr traditionsreiches Haus zurück. Schlagen Sie programmatische Brücken zur Historie – oder gerade bewusst nicht?
Ich glaube, es braucht beides. ­Jedes Theater hat seine Wurzeln, seine ­Seele. Die gilt es zu pflegen, aber auch weiterzuführen. Die Semperoper hätte keine Tradition, wenn man sie nicht immer wieder ins Hier und Jetzt geholt hätte. Wenn Sie sich unseren ersten Spielplan ansehen, entdecken Sie Richard Strauss’ „Intermezzo“, dessen Uraufführung im vergangenen November vor exakt 100 Jahren in ­Dresden stattfand. Aber mit ­Kaija ­Saariahos „­Innocence“ von 2021 auch eine der packendsten zeitgenössischen Opern der letzten Jahre. Diese Spann­weite macht ein ausgewogenes Programm aus.

Von einer ­Zukunftsperspektive „Semper 2030“ war die Rede, als Sachsens Kulturministerin ­Barbara Klepsch 2021 Ihre Berufung bekanntgab: „Wir sehen dabei das, was heute gut ist, und denken trotzdem an das Übermorgen der Oper.“ Wie sieht denn dieses „Über­morgen“ konkret aus, das Sie ansteuern möchten?
Ich halte es für falsch zu kategorisieren: „Das ist das Gestern/das Heute/das Morgen.“ Gerade bei einem großen Repertoirebetrieb wie dem unseren läuft alles ineinander. Wir haben eine ­breite Palette an Aufführungen, die in ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden sind – manche sind 40 Jahre alt, andere noch ganz neu. Mich erinnert das manchmal an ein Museum: Wenn man eine neue Hängung plant und eine bestimmte Produktion in Kontrast zu einer anderen setzt, erlebt man womöglich auch das Altbekannte plötzlich wieder ganz „neu“. „Übermorgen der Oper“ bedeutet für mich, mit unserem Gesamtprogramm zu spielen und dabei das Publikum mitzunehmen – das ist immer ein laufender Entwicklungsprozess.

Sie haben das Ensemble der Semperoper vergrößert. Ein Bekenntnis zum genannten Repertoiretheater?
Auf jeden Fall. Instrument des Jahres 2025 ist die menschliche Stimme und wenn wir uns fragen, wovon das Musiktheater lebt, ist für mich die eindeutige Antwort der singende Mensch. Er berührt uns und steht Abend für Abend auf dieser Bühne. Natürlich ist es zentral, welche Geschichten wir erzählen – aber eben auch, mit welchen Menschen. Das Publikum baut eine Beziehung mit „seinen“ Künstlerinnen und Künstlern auf. Mir ist es dabei immer wichtig, dass verschiedene Generationen und Erfahrungslevel aufeinandertreffen. Nur so können die Mitglieder eines Ensembles voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren.

Oper „ganz nah an unserer Zeit“: Szene aus Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“, 2024 (Foto Semperoper Dresden/David Baltzer)

„Mich interessiert nur gesellschaftlich relevantes Theater“, bekannte Ihr Vorgänger Peter Theiler. Was bedeutet das für Sie?
Es gibt viele Dinge, die gesellschaftlich relevant sind. Oft werde ich aber auch gefragt, was ich unter „­modern“ verstehe. Ob beides letztlich ein und dasselbe ist? Ich weiß es nicht. Mich beschäftigt auf jeden Fall das, was uns berührt und bewegt, unabhängig von einer zwanghaft „modernen“ Ästhetik. Wenn wir noch einmal auf „­Innocence“ schauen, geht es dort um Themen wie Waffengewalt, Mobbing und Zivilcourage. Auch ­Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ ist bei aller überbordenden Fantasie ganz nah an unserer Zeit: Ein Prinz hat das Lachen verlernt, findet keine Freude am Leben, ist depressiv – in der Welt nach Corona ein riesiges Thema. Letztlich verstecken sich die Motive, die uns in unserem Menschsein umtreiben, in allen Werken der Theatergeschichte – sonst wären diese ja nie entstanden. Gutes Theater erhebt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern ist immer eine Einladung zum Öffnen von Gedankenräumen.

Das führt uns zum Motto Ihrer ersten Spielzeit: „Stell dir vor“.
„Stell dir vor“ ist weniger Spielzeitmotto als vielmehr ein Appell an die eigene Vorstellungskraft: Lass Dich auf die Oper ein – und entdecke, was sie womöglich mit Dir selbst zu tun hat.

Ist die persönliche Ansprache per „Du“ auch ein Versuch, die Oper unverkrampfter an neue Besucherschichten heranzutragen? Und ist das eine Genera­tionenfrage?
Lustigerweise haben wir tatsächlich intern darüber diskutiert, ob wir „einfach so“ alle duzen können. (lacht) Aber es handelt sich ja eher um eine indirekte Kontaktaufnahme, auf die erfreulicherweise alle Generationen anspringen. Wir bekommen Feedback, dass unsere Besucherinnen und Besucher mittlerweile schon neugierig sind, welcher Spruch als nächstes kommt. Ravels „Das Kind und der Zauberspuk“ etwa bewerben wir mit „Stell dir vor, deine Fantasie wird Wirklichkeit“, ­Gounods „Roméo et Juliette“ mit „Stell dir vor, du darfst nicht lieben, wen du liebst“. Das sind Gedanken, die uns alle etwas angehen.

In den fast zehn Jahren Ihrer Abwesenheit hat sich das gesellschaftspolitische Klima extrem erhitzt – gerade auch in Dresden. Macht sich das für Ihr Ensemble und Sie bemerkbar – im Alltag und auf der Bühne?
Wir sind ein enorm internationales Haus mit Menschen aus fünf Kontinenten – ein richtig gutes Beispiel für ein harmonisches Miteinander, finde ich. Aber natürlich werden auch wir mit der zunehmenden Entwicklung zu einer Empörungs- und Befindlichkeitsgesellschaft konfrontiert … Das würde ich aber nicht speziell auf Sachsen beziehen, das lässt sich ja mittlerweile leider ­europa- und weltweit beobachten.

Wie reagiert man darauf – mit politischem Theater und klarer Haltung?
Wir sind Kulturschaffende und keine Parteipolitiker, aber selbstverständlich vertreten wir die Grundpfeiler der Demokratie und des Humanismus. Das sind unsere Wurzeln und für die stehen wir auch mit ganz klaren Haltungen ein.

40 Jahre „dritte“ Semperoper: Oben die Videoinstallation „SILENTIUM“ des Kollektivs OchoReSotto als „Ausrufezeichen des Erinnerns und Wachhaltens“. Unten Schlüsselübergabe auf dem Theaterplatz, 13. Februar 1985 (Fotos Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe & Matthias Rank)

40 Jahre sind seit dem Wiederaufbau der Semperoper vergangen – das Ereignis galt damals als Symbol gegen Krieg und Zerstörung. Ist dieser Symbolcharakter in der Stadtgesellschaft heute noch präsent?
Der Wiederaufbau der Semperoper zu DDR-Zeiten ist ein unglaublich faszinierendes Thema. Genauso wie übrigens die Weihe der Frauenkirche 20 Jahre später: Das war ein Zeichen der Völkerverständigung, ein Brückenschlag zwischen Ost und West, vielleicht sogar so etwas wie ein europäischer Versöhnungsgedanke. Beides sind Jahrhundertprojekte, die als Wahrzeichen weit über Dresden hinausstrahlen. Jetzt sind die politischen Tendenzen überall gerade völlig andere … Aber ich denke, man wird sich irgendwann wieder darauf besinnen. Denn die Kraft, die von diesen Institutionen ausgeht, ist eine sehr besondere. Manchmal frage ich mich, wenn ich allein im Zuschauerraum sitze: Was würde mir dieser Raum alles erzählen, wenn er sprechen könnte?

In Zeiten mauer Kassen gerät die Kultur wieder einmal mit als erstes in den Sparfokus. Große Dresdner Kulturinstitutionen wie die Staatsoperette stehen auf der „roten Liste“ – die Semperoper auch?
Zunächst sprechen wir da von zwei verschiedenen Töpfen: Die Staatsoperette ist städtisch, wir werden vom Freistaat Sachsen finanziert. Allerdings beschränken sich die mauen Kassen nicht nur auf die Stadt. Umso wichtiger ist es, immer wieder zu zeigen, warum es uns braucht. Wir sind ein sächsischer Leuchtturm für die Welt: Die Semperoper kennt man. Als Kulturbotschafterin appelliere ich an alle Verantwortlichen, sich bewusst zu machen, dass so etwas nicht aufs Spiel ­gesetzt werden darf! Vom kulturgeschichtlichen und künstlerischen Stellenwert einmal abgesehen lässt sich das auch wirtschaftlich bekräftigen: Wir generieren enorm viele Besucherinnen und Besucher, die wegen der Semper­oper überhaupt erst nach ­Dresden kommen – und dann hier einkaufen, Cafés, Bars und Restaurants besuchen. Wir sind auch ein unglaublicher Wirtschaftsfaktor für die Stadt und die Region.

Die Semperoper hat dabei einen Spagat zu meistern: hier die Befriedigung des Touristenanspruchs, da der Wunsch, künstlerisch zukunftsfähig zu bleiben.
Naja, was heißt „Touristenanspruch“? 50 Prozent unseres Publikums ist ein überregionales, das von außerhalb Sachsens zu uns kommt. Mehrheitlich sind das wirk­liche Kulturfans. Oft klingt es aber trotzdem nach: „Die Semperoper ist wegen der Touristen eh voll.“ Es kauft sich aber jemand nur dann eine Karte, wenn das, was wir bieten, attraktiv und von hoher Qualität ist.

In den letzten Jahren steht das Berufsbild Intendanz wegen Machtmissbrauch, toxischem Arbeitsklima etc. vielerorts in der Kritik. Sie dagegen gelten als Teamplayerin. Wie schafft man es, eine solche „Worthülse“ im Alltag wirklich mit gutem Beispiel zu beglaubigen?
Indem man es jeden Tag immer wieder aufs Neue versucht. Bei der Anzahl der Prozesse, die es in so einem großen Haus zu moderieren gilt, ist das eine Herausforderung. Ich halte nichts von einer Fehlerkultur, in der man auf den Schuldigen zeigt. Es ist doch viel zielführender, darüber nachzudenken, was man beim nächsten Mal besser machen kann. Ganz abgesehen davon, dass ich viele Berufsjahre ja selbst nicht „die Chefin“ war. Wo viel gearbeitet wird, passiert immer mal wieder irgendetwas, aber die Grundfrage für uns alle ist doch: Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2025

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