Georg Büchner und auch Alban Berg sind Menschen- und Weltsezierer, deren Dringlichkeit sich längst von selbst versteht: der Mensch als der Abgrund. Wozzeck ist einer davon, der „wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt“ läuft. Für das früh verglühte Dichtergenie Büchner war das Schicksal des 1824 hingerichteten Mörders so schreiend existenziell, dass er 1836, ein Jahr vor seinem Tod, sein Dramenfragment der Nachwelt zum Fraß vorwarf. Berg machte es 1925 zum operngeschichtlichen Ereignis!

Mit „Wozzeck“ ist ein Theater per se auf der richtigen Seite, weil es immer noch Abgründe und verhetzte Leut gibt. Und, weil man mit Büchner immer noch befürchten muss, dass Pfützen eigentlich Löcher in der Welt sind, in denen man auf Nimmerwiedersehen verschwinden kann. Vielleicht lassen sich Christiane Iven (Regie) und  Guido Petzold (Bühne) bei ihrer jüngsten Inszenierung (die zugleich der Beitrag des Anhaltischen Theaters zum 33. Kurt Weill Fest ist) von dieser Metapher leiten, wenn sie auf der Bühne einen Teich platzieren. In ihm verschwindet zwar niemand, aber Marie endet darin, nachdem Wozzeck sie mit brutaler Wucht erstochen hat.

Zwei Wände deuten die Innenräume an. Dahinter rumoren eine Waldprojektion und Gestrüpp. Wenn die beiden Wände nach oben entschweben, ist man im Freien, aber nicht in der Freiheit. Neben der Waldromantik gibt es auch eine beklemmende Backsteinfassade. Innen überzeichnet Arnold Bezuyen treffsicher einen Hauptmann in Unterhose zur Uniformjacke, der Wozzeck beim Rasieren für dumm verkauft. Hier versucht auch Michael Tews jenem Doktor einen Anschein von Seriosität zu verleihen, der Wozzeck als medizinisches Versuchskaninchen benutzt.

Kay Stiefermanns Wozzeck ist zwar nicht nackt, aber der Overall ist durchsichtig (Kostüme: Kristina Böcher). Bei seinem Sohn gleicht nicht nur diese Äußerlichkeit der des Vaters – wohl ein Zeichen für das ihm vorbestimmte Schicksal. Am Ende hat er das Messer in der Hand, mit dem Wozzeck Marie erstochen hat. Den Tiefpunkt der Erniedrigung erreicht er, wenn ihn der Tambourmajor, für den sich Torsten Kerl vokal und körperlich gewaltig aufplustert, als Urinal benutzt. So wie Stiefermann für die intensive Interpretation der tragischen Titelfigur bewusst eine gewisse Brüchigkeit einsetzt, lässt Ania Vegry die betörende Leuchtkraft ihrer Stimme als Marie aufscheinen und setzt dem Ensemble, das mit dieser düsteren Geschichte fasziniert, ein vokales Glanzlicht auf. Markus L. Frank entfaltet am Pult der Anhaltischen Philharmonie zu alldem die betörende Expressivität der Musik von Berg mit spätromantischer Geschmeidigkeit.

Roberto Becker

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website des Anhaltischen Theaters