Der Komponist hat seine Fluchtgeschichten. Sei es als politisch Verfolgter 1848er, sei es vor den Gläubigern aus Riga. Auf der Flucht befindet sich auch Siegmund. Zunächst allein, später mit Sieglinde. Brünnhilde betätigt sich als des Liebespaars Fluchthelferin vor Wotan. Der seinerseits der eigenen Verantwortung zu entkommen sucht. Stefan Herheim möchte aus alldem den Funken für die Geschichte migrierender Massen schlagen, die sich – auf der Bühne als Solisten und Statisterie gegenwärtig – durch den „Ring“-Mythos ihrer Identität versichern. Einige der Heimatlosen schlüpfen daher in die Rollen von Göttern, Wotanstöchtern und irdischem Personal, derer sie sich wiederholt aus dem auf dem allgegenwärtigen Konzertflügel bereitliegenden Klavierauszug vergewissern. Die Flüchtlingstragödie gebiert sich aus dem Geist der Musik, um final dorthin zurück zu sinken. So, wie Brünnhilde dem Instrument entstiegen war, in das sie von Wotan am Ende als ihrem Sarg gebettet wird. Freilich lenkt Herheim von der bedenkenswerten Grundkonzeption durch Aufstockung des „Walküre“-Personals ebenso wie durch Überbetonung zahlreicher Nebenaspekte ab. Zuallererst gilt das für die Hinzuerfindung eines „Hundinglings“, dem Sohn Hundings und der Sieglinde, der – von der Mutter gemeuchelt – in Walhall als Kumpan der auf dem Schlachtfeld hingerafften Helden den Wotanstöchtern in der Absicht der Vergewaltigung an die Wäsche geht. Freilich befremdet heftiger noch als derlei Zuviel an Redundanz, wenn Herheim das Gestische der Wagner’schen Musik in die Bewegung der Figuren zu übertragen sucht und dabei über antiquierte Zeigegebärden nicht hinausgelangt. Im Bild bleibt das Flüchtlingsgeschehen omnipräsent. Um den zentral positionierten Konzertflügel schichten Herheim und Silke Bauer eine Bühne aus zahllosen Koffern, Baustoff für die finster dräuende Behausung Hundings, ansonsten wie eine pittoreske Geröllhalde anzusehen. Mit ironischem Augenzwinkern erübrigen Uta Heisekes Kostüme für Siegmund Holzfällerhemd, für Brünnhilde Flügelhelm und Brustharnisch.

Musikalisch lässt sich der Abend cum grano salis ansprechend vernehmen. Donald Runnicles und das in der vollen von Wagner verlangten Stärke den Graben bevölkernde, ebenso wie die Solisten täglich Covid-19-getestete Orchester der Deutschen Oper Berlin spüren – des Monumentalformats seit Monaten entwöhnt – den großen Zusammenhängen der Partitur noch nach. Vokal beherrschen die Damen das Feld. Nina Stemme singt ihre Brünnhilde immer frisch auf schlanker, in leuchtende Höhen und schimmernde Tiefen mündender Bahn. Lise Davidsen stattet Sieglinde mit enormer Durchschlagskraft, reichen Farben und emphatischem Strahlen aus. Annika Schlicht verleiht Fricka ungewohnt glühende Leidenschaft. Die Herren erreichen nicht ganz diesen Standard. Baritonal grundiert, vermittelt Brandon Jovanovichs Siegmund nur wenig zwischen liedhafter Innigkeit und emotionalen Ausbrüchen. Der für Wotan allzu helle Bariton von John Lundgren gebietet kaum über die Ressourcen für einen intensiven Schlussakt. Andrew Harris setzt für Hunding besitzergreifende
Akzente.

Michael Kaminski

„Die Walküre“ (1870) // Richard Wagner