Eine fünfstündige Barockoper in Corona-Zeiten: Der Countertenor und Regisseur Max Emanuel Cencic hat auf seinem ersten neuen „Baroque“-Festival in Bayreuth ein Wunder vollbracht. Seine Entschlossenheit, Nicola Antonio Porporas unbekannte Oper „Carlo il Calvo“ ohne Kürzungen, Abstandsregeln und szenische Einschränkungen als Herzstück im prächtigen Markgräflichen Opernhaus zu präsentieren, damit das Publikum einmal fünf Stunden lang die Pandemie vergessen kann, zahlte sich aus. Und das noch dazu im restriktiven Söder-Bayern.

So einen langen Opernabend mit üppiger Ausstattung hat man seit dem Lockdown nicht mehr erlebt. Porpora – um zumindest ein paar Worte über den Komponisten zu verlieren – muss mindestens ebenso produktiv gewesen sein wie Händel, mit dem er 1733 um das Londoner Opernpublikum rivalisierte. Jedenfalls soll er an die 60 Opern geschrieben haben! „Carlo il Calvo“ handelt von einem verfeindeten Familienclan. Das Stück spielt zur Zeit der Karolinger und setzt nach dem Tod des Kaisers Ludwig dem Frommen ein. Aber der Konflikt, ein Erbstreit, der allerhand Grausamkeiten nach sich zieht, mutet so zeitlos aktuell an, dass das kaum wichtig ist. Der Transfer ins Kuba der 1920er Jahre gelingt jedenfalls allemal überzeugend. Im Zentrum steht Lottario, das korrupte Familienoberhaupt, fulminant von Cencic mit Weißhaarperücke als fieser Alter gemeistert. Er entführt seinen Halbbruder, den Titelhelden, und ist sogar bereit, den sechsjährigen Jungen – dem im Stück nur eine stumme Rolle zukommt – brutal ermorden zu lassen, damit sein Sohn Adalgiso (Virtuose mit ungewöhnlich langem Atem: Franco Fagioli) an die Macht kommt. Am Ende geht aber alles gut aus, weil Adalgiso, der Carlos Schwester Gildippe (mit lyrischer Schönheit in einer ihrer besten Rollen: Julia Lezhneva) liebt, sich gegen den Vater stellt und den in dieser Produktion nicht kahlen, dafür aber behinderten, kindergelähmten Carlo rettet.  

Die von Porpora an die Sängerinnen und Sänger gestellten Ansprüche sind immens: Seine Melodien und Arien schrauben sich nahezu ins Endlose fort, erfordern mithin große Ausdauer und langen Atem. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass Cencic seinem rundum vorzüglichen Ensemble, zu dem neben den Genannten auch Suzanne Jerosme als Carlos Mutter Giuditta zählt, im Szenischen nicht zu viel abverlangt. Dass die Produktion gleichwohl mitnichten statisch wirkt, verdankt sich einem raffinierten Kunstgriff: 18 Statisten als zusätzliche, weitverzweigte Mitglieder des Familienclans illustrieren das Geschehen auf der opulent, mit mehreren Räumen und herrlichen Blickfängen von Pflanzen und Ölgemälden ausgestatteten Hacienda (Bühne: Giorgina Germanou) mit Aktionen im Hintergrund. Darunter eine Oma im Rollstuhl, die sich über das Verscheiden der Bosse schieflacht. Und so wie bisweilen nicht nur in solchen Momenten schwarzer Humor mitschwingt, wird der Abend nie lang. Das griechische Barockorchester Armonia Atenea erwies sich bei alledem einmal mehr als eines der besten für solche Produktionen. Vom Cembalo aus musizierte George Petrou mit ihm schwungvoll, klanglich differenziert und elegant. 

Kirsten Liese

„Carlo il Calvo“ (1738) // Nicola Antonio Porpora