War das nun eine Oper oder Operette? Mit dieser Frage verlässt man die Neuinszenierung von Emmerich Kálmáns „Zirkusprinzessin“ an der Staatsoper Hannover. Denn Regisseur Felix Seiler lotet das Zirkusspektakel, das auf den Operettenbühnen der 1920er Jahre ein Megaerfolg war, derart sozialkritisch aus, dass einem manchmal der Atem stockt. Natürlich sind da die Wunschkonzert-Hits wie „Zwei Märchenaugen“ oder „Wo ist der Himmel so blau wie in Wien“. Und man freut sich über den flotten Swing von „Wenn du mich sitzen lässt, fahr ich sofort nach Budapest“. Verdauen muss man aber schon den gendermäßig komplett unmöglichen Text „Die seidenen Röckchen, ach, die sitzen fesch, und drunter nur ein Hauch von Spitzenwäsch’“. Beim Husarenmarsch hört dann der Spaß auf, wenn die nächtlichen Überwältigungen junger Mädchen durch Husarenburschen mit dem Marsch verharmlost werden: „Mädel gib acht! – Schließ dein Fenster heute Nacht.“ Wie gut, dass die Regie diesem flotten Marsch nicht auf den Leim gegangen ist, sondern daraus eine beklemmend brutale Macho-Tanznummer macht, bei der die Mädchen wie Puppen hin und her geworfen werden.

Genau mit diesem Klarblick für die Ambivalenz zwischen einer unterhaltsam erzählten Verwechslungs- und Liebesgeschichte im höfischen Leben der gelangweilten Aristokratie und der Außenseiterrolle der Zirkuswelt gewinnt die Inszenierung Tiefgang. Seiler verzichtet auf jeden Operetten-Schnickschnack. Das abstrahierende Bühnenbild (Timo Dentler und Okarina Peter) macht aus der angeblich so bunten Zirkuswelt einen in sich geschlossenen Raum, zu dem Angehörige der Außenwelt nur als kurzzeitige Voyeure Zugang finden können. Hier hat der wegen einer unglücklichen Liebe von der Adelswelt verstoßene Mister X als Artist eine neue Heimat gefunden. Sein schockierender Trick ist der Sprung aus der Zirkuskuppel in die Manege. Als Fürstin Fedora, seine unglückliche Liebe von einst, im Publikum auftaucht, beginnt eine turbulente Liebesgeschichte aus Täuschung und Enttäuschung. Im Original ereignen sich am Ende Verstehen, Verzeihung und Versöhnung.

In Hannover aber fällt die Versöhnung aus. Stattdessen gibt es einen letzten Sprung des unglücklichen Mister X aus der Zirkuskuppel – diesmal ohne Trick und folglich mit tödlichem Ausgang. Singend sinkt Fedora über seiner Leiche zusammen. „La Bohème“ lässt grüßen. Es fragt sich, ob damit der Harmlosigkeit der Operette nicht Zwang angetan wird.

Gleichwohl erlebt man einen musikalisch hochwertigen Abend, bei dem die Hauptfiguren ihre Stimmen zu herrlichen Melodien entfalten können. Allen voran Mercedes Arcuri als Fürstin Fedora. In ihrer Gestaltung wird jede Operettenmelodie zu einem klanglichen Arien-Ereignis. Dem steht Marius Pallesen als Mister X kaum nach. Und das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter der ungewöhnlich temperamentvollen Leitung von Giulio Cilona ist bei schmelzenden Melodien mit symphonischem Sound genauso zuhause wie bei Foxtrott, Csárdás, Zirkusmusik und Walzer. Insgesamt ein sehenswerter Opern-, pardon, Operettenabend.

Claus-Ulrich Heinke

„Die Zirkusprinzessin“ (1926) // Operette von Emmerich Kálmán

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Hannover