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Rezensionen 2023/01

Triebgesteuerte Karikaturen

Zürich / Opernhaus Zürich (Dezember 2022)
Calixto Bieito inszeniert Francesco Cavallis „Eliogabalo“

Zürich / Opernhaus Zürich (Dezember 2022)
Calixto Bieito inszeniert Francesco Cavallis „Eliogabalo“

Ein junger Herrscher, der anstatt zu regieren lieber seinen Sexualtrieb auslebt, der beide Geschlechter mag, gewalttätig ist und sich auch mal als Frau verkleidet: „Eliogabalo“ von Francesco Cavalli ist genau der richtige Stoff für Calixto Bieito, könnte man meinen. Der katalanische Regisseur mag es gerne drastisch auf der Bühne und kann an guten Tagen Emotionen schmerzhaft zuspitzen. An schlechten sorgt seine permanente szenische Eskalation allerdings für Langeweile. Der Premierenabend am Opernhaus Zürich gehört leider zu letzteren.

Francesco Cavalli hatte seine Oper über den römischen Kaiser Elagabal, der 218 n.Chr. als 14-Jähriger gekrönt und vier Jahre später von Soldaten ermordet wurde, für den Karneval in Venedig 1668 komponiert. Uraufgeführt wurde die kurzfristig zurückgezogene und dann lange Zeit verschollene Oper allerdings erst 1999 in Crema. Der spärlich notierte Orchesterpart ist beim Orchestra La Scintilla unter der Leitung des Barockgeigers Dmitry Sinkovsky bestens aufgehoben. Die oft langatmigen dramatischen Rezitative werden durch das Orchester immer neu gefärbt. Leider ist diese feine Differenzierung im Orchesterpart auf der Bühne nicht zu erleben.

Yuriy Mynenko sitzt als Eliogabalo mit heruntergelassener Hose auf seinem Bürostuhl und ist mit Eritea (in der Höhe leider zu forciert: Siobhan Stagg) zu Gange. Sein Liebhaber Zotico (mit lyrischem Schmelz: Joel Williams) hat noch Pause. Dienerin Lenia (im Gouvernanten-Look: Mark Milhofer) ist scharf auf den Kutscher Nerbulone (bassmächtig: Daniel Giulianini) und greift ihm in den Schritt (Kostüme: Ingo Krügler). Anstatt die durchaus krasse Geschichte um den triebgesteuerten Herrscher ein wenig auseinanderzudröseln, macht Bieito aus den Protagonisten Karikaturen. Im Gegensatz zur Musik fehlt auf der Bühne jede Leichtigkeit. Im Senat ziehen sich die Frauen bis auf die Unterwäsche aus, liegen sich schreiend in den Haaren, ehe sich das Solistensextett, warum auch immer, Spaghetti aus Pappschachteln ins Gesicht schmiert.

Der dritte Akt startet nach der Pause mit einer überraschenden und subtil gestalteten Arie des Dirigenten und Countertenors Dmitry Sinkovsky. Die von Eliogabalo begehrte Gemmira (auch darstellerisch stark: Anna El-Khashem) trägt blutige Krawatten um ihren Hals und wird vom irren Kaiser vergewaltigt. Ihr eigentlicher Verlobter Alessandro (mit kräftiger, manches Mal zu scharfer Höhe: David Hansen) versucht derweil, die ihn anhimmelnde Atilia (differenziert: Sophie Junker) abzuwimmeln. Von der Decke schwebt ein Motorrad. Auch ein Stier wird als zweites Männlichkeitssymbol vom Schnürboden heruntergelassen (Bühnenbild: Anna-Sofia Kirsch, Calixto Bieito). Am Ende sticht die wunderschön singende Beth Taylor als Giuliano Lenia und Zotico ab. Der ebenfalls musikalisch berührende Countertenor Yuriy Mynenko muss sich als Eliogabalo kastrieren, zieht sich ein Brautkleid über und landet, von den anderen angespuckt, im Käfig. Die Musik, die lebendig aus dem Orchestergraben tönt, geht dabei leider im allgemeinen Bühnengetrampel unter.

Georg Rudiger

„Eliogabalo“ (entstanden 1668; Uraufführung 1999 posthum) // Dramma per musica von Francesco Cavalli

Infos und Termine auf der Website des Opernhauses Zürich

Nicht gekentert

Berlin / Komische Oper Berlin (November 2022)
Überraschende Deutung von Wagners „Fliegendem Holländer“

Berlin / Komische Oper Berlin (November 2022)
Überraschende Deutung von Wagners „Fliegendem Holländer“

Turboregisseur Herbert Fritsch (71) geht an der Komischen Oper auf Wagners „Fliegenden Holländer“ los. Es wird erwartungsgemäß ein Ausflug auf die hohe (Komödianten-)See. Im wie immer selbst entworfenen, vor allem grün-und-rot-bunten Bühnenguckkasten wird während der Ouvertüre ein Spielzeugsegler im XL-Format von dessen finster entschlossener Mannschaft wild herum geschaukelt. Es bleibt das zentrale Ausstattungsutensil in der dann folgenden Gespenstergeschichte mit überraschend hohem Unterhaltungswert. Am Pult sorgt Dirk Kaftan für musikalischen Seegang. Den man diesmal, ohne einen imaginierten Tropfen Meereswasser, auch sieht. Perfekt choreografiert, bewegt die Musik die Chormannschaften und die Protagonisten so passgenau wie selten.

Bei den stilisierenden Kostümen (Bettina Helmi) dominieren klassische Matrosenuniformen, helles Blau für die Norweger und ihre Bräute und verwaschene Erdfarben für die verrückten Klamotten der Holländer-Zombies. Alles hübsch unterscheidbar, auch wenn Gedränge in der Bühnenkiste herrscht. Der von David Cavelius einstudierte und mit dem Vocalconsort Berlin erweiterte Chor spielt wie immer hinreißend ein Kollektiv aus Individuen.

Die Zombie-Besatzung des Holländers sieht auch so aus – viele mit Frauenklamotten in heruntergekommenem Piraten-Look. Nur ihr Boss (wie auch Senta auf der „anderen“ Seite) fällt aus dem Rahmen. Auch er ist nicht von dieser Welt in seiner lädierten Piraten-Eleganz. Bleiches Gesicht und rotgelockte Haarpracht, doch mit dem Sexappeal eines barocken Popstars. Sein Landgang ist eher ein „Man kann es ja nochmal versuchen“ als pure Verzweiflung. Damit ist der Figur alle Überfrachtung mit der Aura der Verdammnis und Erlösung genommen. Er ist hier wirklich die Hauptfigur, auch weil Fritsch im Grunde seine Perspektive einnimmt.

Günter Papendell liefert mit diesem Holländer ein echtes Meisterstück, aber auch Daniela Köhler ist eine Senta von überragender vokaler und darstellerischer Überzeugungskraft. Stimmlich überstrahlen diese beiden das Ensemble deutlich, glänzen im Auftrumpfen, riskieren auch die leisen Töne. Immerhin darstellerisch halten Caspar Singh (Steuermann), Karolina Gumos (Mary) und der vokal arg bemühte Brenden Gunnell (Erik) mit. Jens Larsen gibt wieder den Erzkomödianten, von seinem Daland bleibt der mit Klunkern behängte Verkäufer seiner Tochter übrig.

Für den Schlussapplaus behält sich der Regisseur wie immer eine persönliche Pointe vor und lässt sich auf einer Schaukel in den Schnürboden entschweben – von wo er in ein begeistert applaudierendes Auditorium blickt.

Dr. Joachim Lange

„Der fliegende Holländer“ (1843) // Romantische Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website der Komischen Oper Berlin

Leicht und doch schwer

Hannover / Staatsoper Hannover (November 2022)
Kálmáns „Zirkusprinzessin“ gelingt der Spagat zwischen Unterhaltung und Tiefgang

Hannover / Staatsoper Hannover (November 2022)
Kálmáns „Zirkusprinzessin“ gelingt der Spagat zwischen Unterhaltung und Tiefgang

War das nun eine Oper oder Operette? Mit dieser Frage verlässt man die Neuinszenierung von Emmerich Kálmáns „Zirkusprinzessin“ an der Staatsoper Hannover. Denn Regisseur Felix Seiler lotet das Zirkusspektakel, das auf den Operettenbühnen der 1920er Jahre ein Megaerfolg war, derart sozialkritisch aus, dass einem manchmal der Atem stockt. Natürlich sind da die Wunschkonzert-Hits wie „Zwei Märchenaugen“ oder „Wo ist der Himmel so blau wie in Wien“. Und man freut sich über den flotten Swing von „Wenn du mich sitzen lässt, fahr ich sofort nach Budapest“. Verdauen muss man aber schon den gendermäßig komplett unmöglichen Text „Die seidenen Röckchen, ach, die sitzen fesch, und drunter nur ein Hauch von Spitzenwäsch’“. Beim Husarenmarsch hört dann der Spaß auf, wenn die nächtlichen Überwältigungen junger Mädchen durch Husarenburschen mit dem Marsch verharmlost werden: „Mädel gib acht! – Schließ dein Fenster heute Nacht.“ Wie gut, dass die Regie diesem flotten Marsch nicht auf den Leim gegangen ist, sondern daraus eine beklemmend brutale Macho-Tanznummer macht, bei der die Mädchen wie Puppen hin und her geworfen werden.

Genau mit diesem Klarblick für die Ambivalenz zwischen einer unterhaltsam erzählten Verwechslungs- und Liebesgeschichte im höfischen Leben der gelangweilten Aristokratie und der Außenseiterrolle der Zirkuswelt gewinnt die Inszenierung Tiefgang. Seiler verzichtet auf jeden Operetten-Schnickschnack. Das abstrahierende Bühnenbild (Timo Dentler und Okarina Peter) macht aus der angeblich so bunten Zirkuswelt einen in sich geschlossenen Raum, zu dem Angehörige der Außenwelt nur als kurzzeitige Voyeure Zugang finden können. Hier hat der wegen einer unglücklichen Liebe von der Adelswelt verstoßene Mister X als Artist eine neue Heimat gefunden. Sein schockierender Trick ist der Sprung aus der Zirkuskuppel in die Manege. Als Fürstin Fedora, seine unglückliche Liebe von einst, im Publikum auftaucht, beginnt eine turbulente Liebesgeschichte aus Täuschung und Enttäuschung. Im Original ereignen sich am Ende Verstehen, Verzeihung und Versöhnung.

In Hannover aber fällt die Versöhnung aus. Stattdessen gibt es einen letzten Sprung des unglücklichen Mister X aus der Zirkuskuppel – diesmal ohne Trick und folglich mit tödlichem Ausgang. Singend sinkt Fedora über seiner Leiche zusammen. „La Bohème“ lässt grüßen. Es fragt sich, ob damit der Harmlosigkeit der Operette nicht Zwang angetan wird.

Gleichwohl erlebt man einen musikalisch hochwertigen Abend, bei dem die Hauptfiguren ihre Stimmen zu herrlichen Melodien entfalten können. Allen voran Mercedes Arcuri als Fürstin Fedora. In ihrer Gestaltung wird jede Operettenmelodie zu einem klanglichen Arien-Ereignis. Dem steht Marius Pallesen als Mister X kaum nach. Und das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter der ungewöhnlich temperamentvollen Leitung von Giulio Cilona ist bei schmelzenden Melodien mit symphonischem Sound genauso zuhause wie bei Foxtrott, Csárdás, Zirkusmusik und Walzer. Insgesamt ein sehenswerter Opern-, pardon, Operettenabend.

Claus-Ulrich Heinke

„Die Zirkusprinzessin“ (1926) // Operette von Emmerich Kálmán

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Hannover

Coming-out auf dem Corbusier-Sessel

Košice / Štátne divadlo Košice (November 2022)
„Król Roger“ als politisch brisante Studie frei nach Szymanowskis Biografie

Košice / Štátne divadlo Košice (November 2022)
„Król Roger“ als politisch brisante Studie frei nach Szymanowskis Biografie

So brandaktuell kann ein Regiekonzept im Kern gesellschaftlicher Debatten aufschlagen: Seit Langem stand fest, dass Regisseur Anton Korenči den Schwerpunkt seiner Inszenierung in Košice der Biografie Karol Szymanowskis und dessen Beziehung zu dem von ihm in vier Gedichten vergötterten Boris Kochno widmen sollte. Brisant war das schon im Planungsstadium vor 18 Monaten aufgrund des in den letzten zehn Jahren verstärkt regressiven Klimas gegen queere Lebensformen in der Slowakei. In der Rezeption seines Heimatlandes Polen wird die Homosexualität Szymanowskis wie die Chopins, also beider Nationalkomponisten, radikal negiert.

Das Musikdrama „Król Roger“ war ein langfristiges Wunschprojekt von Operndirektor Roland Khem Tóth und Dramaturg Stanislav Trnovský. Die für Szymanowskis 1926 im Warschauer Teatr Wielki uraufgeführtes op. 46 unerlässliche Riesenbesetzung sitzt auf der Hauptbühne. Demzufolge rückt das mit wenigen Art-Déco-Stücken ausgestattete Szenengeschehen unter das Portal. Zwei Corbusier-Sessel, wenige erlesene Ausstattungsstücke und eine imposante Treppe in den Orchestergraben genügen zur Darstellung einer Welt am Abgrund (Bühne: Ondrej Zachar).

Dann kam der 12. Oktober 2022 mit dem Mord an zwei jungen Schwulen durch den Sohn eines nationalkonservativen Politikers vor einer LGBTQ-Bar in Bratislava und dem kollektiven Aufschrei danach. Eine Großzahl von Veranstaltern aller Sparten rief vom 12. bis zum 27. November zu Solidarität mit den Hinterbliebenen der Opfer auf.

Bei der lebhaft umjubelten „Roger“-Premiere am 23. November verdrängt die Mehrheit des Publikums trotzdem den Ausdrucksgehalt der Produktion, indem sie das erotisch eindringliche Geschehen „nur“ als poetische Metamorphose einer kollektiven Regeneration betrachtet. Diese Deutung wird ermöglicht, weil weder im Textbuch von Jarosław Iwaszkiewicz noch in der Musik eine Kritik an der Kirche zu erkennen ist (großartige Leitung des Chors, der Extra- und Kinderchöre).

In der Oper geht es – frei nach den ins mittelalterliche Christentum versetzten „Bacchantinnen“ von Euripides – um die Sprengung eines Staatswesens durch einen zu Enthemmung und Selbsterlösung aufrufenden Fremdling. Gewiss findet man wie in vielen Werken der Entstehungszeit auch in „Król Roger“ eine Sympathie für soziale und ästhetische Reformbewegungen. Bezeichnenderweise hätte Regisseur Korenči eine Produktion von „Die Bakchantinnen“ des Heterosexuellen Egon Wellesz lieber als die Oper Szymanowskis inszeniert. Dessen dezidiert Wagner-ferner Edel-Eklektizismus und Tonmalerei huldigt einer verheißenden wie betörenden Ästhetik der Andeutungen. Man erlebt das hochfeudal-großbürgerliche Coming-out Rogers so eindringlich wie das Leid der ihr Frausein immer kummervoller ausstellenden Königin Roxane und Rogers Faszination für eine verführerische Schattenfigur (André Tatarka), zu der ihn ein Seelenklempner mit Geduld und Notizblock treibt (Maksym Kutsenko als Gelehrter Edrisi).

Dirigent und Chormeister Peter Valentovič war einer der bevorzugten Kollegen von Edita Gruberová. Ihm gelingt das Kunststück, Szymanowskis rauschhaften, epischen und pittoresken Overflow fast impressionistisch minimierend aufzufächern. So ermöglicht Valentovič der sehr lyrischen, dabei mit brennender Intensität und sehr nah am Sujet agierenden Protagonisten-Trias eine Sternstunde. Zuvorderst die erst 24-jährige und eindrucksvoll das Belcanto-Firmament ansteuernde Sopranistin Gabriela Hrženjak bei ihrem Bühnendebüt. Ihre Erfolgslinie nach oben zeichnet sich deutlich ab. Der im italienischen Fach beheimatete Tenor Juraj Hollý stattet den Hirten mit mediterranen wie männlich verspielten Farben aus. Der in Bremen engagierte Bariton Michał Partyka leistet mit kerniger Lyrik einen szenisch-erotischen Totaleinsatz, als ginge es um Himmel und Hölle. Spannend und bezwingend suggestiv gerät diese dramatische Bändigung des maßlosen Inhalts. Erotische Hochspannung und Körperlichkeit fallen nie in übersättigende Exaltation. Ein großartiger Abend, dessen essentielle Bilder vom Publikum zwar wahrgenommen, aber nicht diskutiert werden. Mit einem solchen Anspruch als Sprachrohr gegen ein antihumanes Ambiente hat Oper wirklich Relevanz.

Roland H. Dippel

„Król Roger“ („König Roger“) (1926) // Oper von Karol Szymanowski

Infos auf der Website des Theaters

Reibungsenergien zwischen Alt und Neu

Feldkirch / Montforter Zwischentöne (November 2022)
Händels „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“

Feldkirch / Montforter Zwischentöne (November 2022)
Händels „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“

Unter dem Motto „Sehnsucht und Verwandlung“ sind die Montforter Zwischentöne bei der diesjährigen Herbstausgabe erneut an zahlreichen Locations in und um Feldkirch mit ungewohnten Konzertformaten präsent. Sei es mit frühmorgendlichen musikalisch begleiteten Lesungen im Alten Hallenbad, einem etwas anderen Adventsprogramm, bei dem Jazzer Bugge Wesseltoft im Dom über Weihnachtslieder improvisiert, oder bei zahlreichen kleinen Hauskonzerten, für die man sich Künstlerinnen und Künstler in die eigenen vier Wände bestellen kann.

Eine der zentralen Spielstätten ist aber natürlich erneut das Montforthaus, das mit seiner modernistisch geschwungenen Fassade und den transparenten Glasfronten einen interessanten architektonischen Farbtupfer im historischen Stadtkern bildet. Ähnliche Reibungsenergien werden drinnen im großen Saal des Kulturzentrums freigesetzt, wo als eines der Highlights der Herbstausgabe Händels „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ zur Aufführung kommt. Ein Oratorium über den nie endenden Streit zwischen den allegorischen Verkörperungen von Schönheit, Vergnügen, Zeit und Ernüchterung, das andernorts schon öfters zu teils schrillen Bühnenumsetzungen inspirierte.

In Feldkirch treffen da nun Darmsaiten auf digitale Videotechnik, die das virtuose Spiel der Originalklangexperten des Concerto Stella Matutina in gestochen scharfen Bildern einfängt. Denn bei dieser offiziell als „halbszenisch“ deklarierten Produktion sind neben dem Solistenquartett auch die Musikerinnen und Musiker ins Geschehen integriert. Wobei durch diese Interaktion mehr Leben auf der Bühne herrscht als in manch anderer statuarisch gearteter Opernproduktion.

Passend zu den jeweils musikalisch thematisierten Affekten wogen da im Hintergrund Ozeane und Kornfelder im Wind, welkt ein Blumenstrauß im Zeitraffer vor sich hin oder brennt eine Kerze langsam herunter. Verwoben mit live gefilmten Eindrücken aus der Aufführung und gedoppelt auf eine zweite, kleinere Projektionsfläche, die später in der Handlung zum Spiegel der Wahrheit mutiert. Regisseurin Ilka Seifert und der fürs Videodesign verantwortlich zeichnende Folkert Uhde rücken da nicht nur den musikalischen Leiter Alfredo Bernardini in den Fokus, sondern ebenso Konzertmeisterin Maria Kubizek, die auf der Zielgeraden ihre gefühlvollen Soli von einem in die ersten Saalreihen hineinragenden Steg aus beisteuern darf.

Schon zuvor haben die vier Sängerinnen und Sänger immer wieder ihre Spielfläche verlassen, um sich unters Orchester zu mischen. So etwa, als die in flammendem Rot gewandete Sunhae Im zum großen Amüsement des Publikums ungeniert mit dem Mann an der Orgel flirtet. Als Schönheit ist sie kurzfristig für eine erkrankte Kollegin eingesprungen, fügt sich mit ausdrucksstarker Mimik aber dennoch bestens in das szenische Konzept. Wobei sich ihr klarer, instrumental geführter Sopran ideal mit der farbenreichen Stimme von Marine Madelin mischt, die als Vergnügen wiederum mit dem später im „Rinaldo“ recycelten „Lascia la spina“ einen der wohl berühmtesten Händel-Ohrwürmer beisteuert. Ebenso stilsicher Tenor Jan Kobow (Die Zeit) sowie Rupert Enticknap (Die Ernüchterung), der einen warm timbrierten Counter ins Feld führt und damit das homogen besetzte Ensemble abrundet.

Tobias Hell

„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ (1707) // Oratorium von Georg Friedrich Händel

Vergewaltigungstrauma

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (November 2022)
Maria Antonia Walpurgis Amazonen-Oper „Talestri“

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (November 2022)
Maria Antonia Walpurgis Amazonen-Oper „Talestri“

Eine nächtliche Gasse, eine Frau, ein Mann – Schreie, Seufzer, Stöhnen, Schluchzen. Im Auditorium verstehen alle, was gemeint ist. Das ist der Prolog zu „Talestri, Königin der Amazonen“. Das Libretto für ihre 1760 in Schloss Nymphenburg und 1763 im Dresdner Reithaus am Taschenberg aufgeführte „Opera drammatica“ schrieb die Wittelsbacher Prinzessin Maria Antonia Walpurgis selbst. Vor 20 Jahren wurde „Talestri, regina delle Amazzoni“ von der Batzdorfer Hofkapelle wiederentdeckt. Jetzt gelangt sie mit Wolfgang Katschner, der in Nürnberg an seinen großen Erfolg mit Vivaldis „Bajazet“ anknüpft, erstmals an ein großes Opernhaus.

Ilaria Lanzino setzt in ihrer deutlichen Inszenierung Bezüge zur Gegenwart. Frauen in Tüllkleidern und Herren in schwarzen Anzügen wurden von Valentí Rocamora i Torà zu harmonischen Bewegungsfolgen arrangiert. Doch Schrecken und Gewalt sitzen tief. Im Amazonen-Staat ist das Leben nur durch Verzicht auf Liebe und Lust mit Männern möglich. Talestri aber liebt Oronte. Das fliegt auf und erzeugt gewaltigen Druck. In existenzielle Konflikte gerät die Hohepriesterin Tomiri. Sie fordert Orontes Tod, obwohl sie seine Mutter ist. Diese Ambivalenz und Hassliebe sind das Resultat einer Vergewaltigung. Oronte und sein viriler Freund Learco (aufgrund einer Indisposition am Premierenabend leider nur mit weißer Stimme: Sergei Nikolaev) wären in der Väter-Generation als Softies ohne Vergewaltiger-Gen klassifiziert worden. Ray Chenez hat die Sopran-Partie des Oronte für Valer Sabadus übernommen. Er zeigt in Höhe und Extremhöhe beträchtliche artistische Kompetenzen. Immer wieder fällt indes blutrotes Wasser in den Brunnen und verweist auf den ernsten Urgrund der wenigen burlesken Spielsituationen. Flackernder Sarkasmus ist Garnitur zu dem, was im Amazonen-Staat faul ist. Emine Güners Bühne und Kostüme sind stilisiert, elegant und haben einen Anflug ins Surreale.

Vollkommen zurecht erhielt Eleonore Marguerre die Partie der in heroischer Aufrichtigkeit kämpfenden Priesterin Tomiri. Erst spät gibt Walpurgis Talestri mit einer sich in die Sinne brennenden Arie ähnliches Gewicht. Julia Grüter verdichtet die Titelpartie mit souveränem Schattierungsreichtum. Corinna Scheurle als Talestris Schwester Antiope gibt mit schönem Mezzo-Fluidum ein mehr bodenständiges Temperament.

Ilaria Lanzino und Wolfgang Katschner verwandeln Bizarrerie in psychologische Dynamik. Dazu braucht es die Theorben aus Katschners Lautten Compagney Berlin, welche neben der gerade 100 Jahre alt gewordenen Staatsphilharmonie Nürnberg wundersame Klangbänder um die Bühnenstimmen schlingen. Die Arien erklingen im italienischen Original, die Rezitative in deutscher Übersetzung. Zu den höchsten Glanzakten wird eine bewegende Deklamationsrhetorik, als hätte die bayerische Prinzessin nicht nur beim Belcanto-Experten Nicola Antonio Porpora, sondern sogar beim Opernreformer Christoph Willibald Gluck gelernt. „Talestri“ ist in Nürnberg Oper mit Seelentönen und Abgründigkeit. Begeisterter Jubel.

Roland H. Dippel

„Talestri, regina delle Amazzoni“ („Talestri, Königin der Amazonen“) (1760) // Opera drammatica von Maria Antonia Walpurgis

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Nürnberg

Verkomplexiziert

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (November 2022)
Verquaste Regie und überragende Ensemblepolitik für Wagners „Meistersinger von Nürnberg“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (November 2022)
Verquaste Regie und überragende Ensemblepolitik für Wagners „Meistersinger von Nürnberg“

Zu Wagners ohnehin vielschichtigen „Meistersingern von Nürnberg“ kommt noch die Inszenierung von Johannes Erath hinzu: Ein schwarzer Bühnenraum voller Zahlen und Formeln – eventuell Beckmessers Versuch der Bändigung aller Welt. Kreisende abstrakte Halbrunde, von schwarzgesichtigen Geistern in Frack und Zylinder herein- und herausgeschobene Wohnräumwände für Sachs und Beckmesser. Befremdlich bunte Meisteranzüge, darüber mal Frackteile und Zylinder, alle auf von den Lehrbuben herumgeschobenen Hochstühlen. Eva von Anbeginn im weißen Brautkleid, Walther im weißen Sommeranzug, die Lehrbuben im Schülerdress mit Käppi. Beckmessers Ständchen mit herabfahrenden „Blauer Engel“-Frauenbeinen, nachdem zuvor Dürers „Betende Hände“ zu sehen waren. Eine Halbvergewaltigung von Eva durch die Meisterriege am Ende der Prügelszene, nach der eine Kind-Eva als Opfer zurückbleibt, welche auch in Sachs’ Erinnerung auftaucht. Die Festwiese als bühnenfüllender Aufmarsch von allen Popgrößen des 20. Jahrhunderts in ihrem jeweils schrillsten Outfit – bis hin zu Pavarotti, während Sachs vorne auf einer Matratze liegt. Dem Regieteam um Erath ist nur eine weitgehende Verkomplizierung und ein problematischer Komplex-Anriss von Sachs mit Kind-Eva „gelungen“: verquaster Aufwand, ein Regie-Egotrip.

Aber: eine Besetzungsliste zum Staunen. Bis auf einen Meister nur Rollendebütanten, gastierend vor allem Magdalena Hinterdobler, Bariton Michael Nagy als Rückkehrer an sein ehemaliges Stammhaus – und ansonsten eine komplette Hausbesetzung mit staunenswerten Qualitäten. AJ Glueckert etwa ist über seine Frankfurter Jahre so gereift, dass er den seine künftige Rolle suchenden „Junker Walther“ als rotzigen Sonnyboy mit Händen in den Hosentaschen singt: mit einem mühelosen „Preislied“ am Ende, das keinen Vergleich zu scheuen braucht. Die als Geheimtipp gehandelte Magdalena Hinterdobler ist eine schon frauliche Eva, doch voller Sopran-Sonnenschein über allen übrigen Stimmen. Aus denen scheint der Beckmesser von Michael Nagy rollengerecht herausragen zu wollen. Einen kapitalen Sachs im Ensemble zu haben, belegt abermals die vokal und menschlich überlegt kluge Hauspolitik: Zwar darf der voll-lockig rotblonde Nicholas Brownlee (Hans Sachs) unlogisch jung von „König Marke“ und seiner eigenen Altersweisheit singen, muss ein paarmal Wagners Text „neu dichten“, hält aber bis in seine lange Schlussansprache beeindruckend durch und ist mit seiner hochgewachsenen Bühnenerscheinung ein überzeugender Mittelpunkt. Obwohl da Bass Thomas Faulkner als Kothner nicht nur mit seiner „Tabulatur“ prunkt, sondern mit Andreas Bauer Kanabas als Pogner eine der schönsten Bass-Stimmen der derzeitigen Szene beeindruckt. Dazu tönt der von Tilman Michael einstudierte Hauschor aus dem schwarzen Halbrund festspielgemäß. Das setzt sich im Graben fort: Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zeigt unter GMD Sebastian Weigle den Reichtum der Wagner-Partitur. Ein wenig Buh für das Regieteam, ansonsten Jubel für die Solisten – und hoffentlich ein Signal in den problematischen Frankfurter Kulturausschuss: contra Millionen-Kürzungen und abwegige Ideen von „Stagione“. Nur überragende Ensemblepolitik führt zu solchen Höhepunkten.

Dr. Wolf-Dieter Peter

„Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) // Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website der Oper Frankfurt

Revue-Zauber mit Herz

Köln / Musical Dome (November 2022)
„Moulin Rouge! Das Musical“ feiert seine deutsche Erstaufführung

Köln / Musical Dome (November 2022)
„Moulin Rouge! Das Musical“ feiert seine deutsche Erstaufführung

Zeit zum Durchatmen hat man bei „Moulin Rouge!“ nicht viel. Es ist eines jener Musical-Spektakel, bei denen die Show gleich mit Betreten des Theaters beginnt. Hier wurden keine Kosten und Mühen gescheut, um den bisher eher als zweckdienlich bekannten Kölner Musical Dome in das Pariser Kult-Etablissement zu verwandeln. Da glitzert und funkelt es nun an allen Ecken und Enden und Tänzerinnen in Corsagen schreiten lasziv über einen bis in die ersten Publikumsreihen ragenden Steg, ehe vier von ihnen mit markantem Fingerschnippen zu „Lady Marmalade“ ansetzen.

Der Ohrwurm, der auch in Baz Luhrmanns Filmvorlage (2001) eine wichtige Rolle spielte, tritt hier eine mitreißende Revue-Sequenz los, die den Puls gnadenlos nach oben treibt und das Tempo für den Rest des Abends vorgibt. Denn die Musical-Adaption kann es nicht nur optisch mit der Opulenz des Originals aufnehmen. Auch die schnellen Schnitte des glamourösen Leinwand-Epos übersetzt die kurzweilige Inszenierung von Alex Timbers durch rasant getaktete Medleys kongenial auf die Bühne.

Mehr als 70 Songs werden da dicht komprimiert in gut zweieinhalb Stunden abgefeiert. Von Bowie bis Lady Gaga, von den Stones bis Adele. Dazu eine Messerspitze Piaf und eine ordentliche Prise Offenbach. Kurz: ein Musical für die Generation TikTok, das gleichzeitig genügend nostalgischen Wohlfühlfaktor für die Semester darüber parat hält. Und sogar ein wenig Lokalkolorit, wenn die ursprüngliche „Sound of Music“-Parodie fürs deutsche Publikum auf Reinhard Mey und Matthias Reim umgebogen wird.

Gleich geblieben ist die ebenso simpel wie effektiv gestrickte Lovestory zwischen Komponist Christian und dem Revuegirl Satine. Den auf Wolke sieben schwebenden Bohèmien gibt Riccardo Greco als sympathischen Strahlemann, der mit schmusigem Pop-Tenor zu überzeugen weiß. Und auch Sophie Berner ist eine Klasse für sich, wenn sie mit rauchiger Stimme den großen Diven-Klassikern von Shirley Bassey oder Marilyn Monroe ihren eigenen Stempel aufdrückt, in den privaten Momenten aber auch tiefe Einblicke in Satines Seele gewährt. Ein ähnlicher Spagat gelingt Gavin Turnbull als Zeremonienmeister Zidler. Eine Rampensau vor Gott dem Herrn, bei der hinter der extrovertierten Bühnenfigur die menschlichen Züge ebenfalls nicht zu kurz kommen. Unbedingt erwähnt werden sollen aber auch Annakathrin Naderer und Vini Gomes. Sie führen zu Beginn des zweiten Aufzugs einen der großen Showstopper des Abends an, für den Choreografin Sonya Tayeh das auf den Punkt besetzte Ensemble zu einem furiosen Tanzfeuerwerk über die Bühne jagt, das alle Stilgrenzen sprengt und virtuos remixt.

Ob es bei einem Musical, das so sehr auf Wiedererkennungswerte vertraut, wirklich eine Übersetzung der Songs gebraucht hätte, darf zumindest bei den Revueszenen hinterfragt werden. Zumal die Sache teilweise so abgemischt ist, dass die Texte eh unter hämmernden Bässen untergehen. Doch ist dies Jammern auf extrem hohem Niveau. „Moulin Rouge!“ ist Bombast pur und der Besuch sollte für Musical-Fans keine Frage des Ob, sondern lediglich eine des Wann sein.

Tobias Hell

„Moulin Rouge! Das Musical“ (2018) // Jukebox-Musical nach dem gleichnamigen Film von Baz Luhrmann

Infos und Termine auf der Website des Musicals

„Liebe macht frei“

Hof / Theater Hof (Oktober 2022)
Ein Holocaust-Schicksal in Somtow Sucharitkuls „Helena Citrónová“

Hof / Theater Hof (Oktober 2022)
Ein Holocaust-Schicksal in Somtow Sucharitkuls „Helena Citrónová“

„Er hatte sich in mich verliebt. Das tat gut in dieser Hölle.“ Er: Franz Wunsch (1922-2009), SS-Aufseher. Sie: Helena Citrónová (1922-2007), slowakische Jüdin und Zwangsarbeiterin. Zwei Leben, Täter und Opfer, „schuldig der Rassenschande“ inmitten der menschengemachten Todeszone des KZ Auschwitz-Birkenau. Eine wahre Begebenheit, die den thailändischen Komponisten Somtow Sucharitkul (*1952) zur Vertonung inspirierte. 2020 wurde seine Oper „Helena Citrónová“ in Bangkok uraufgeführt, jetzt erlebt sie am Theater Hof ihre europäische Erstaufführung.

Ein Werk, das quälend-brennende Fragen aufwirft: Was genau passierte damals zwischen Wunsch und Citrónová? Wurde er, der brutale „Judenhasser“, dank Helenas Einfluss tatsächlich zu „einem anderen Menschen“, wie Zeugen im zweiten Wiener Auschwitz-Prozess 1972 aussagten? Wie konnte sie sich ihm, einem Massenmörder der gnadenlosen Vernichtungsmaschinerie, öffnen? Tat sie es emotional überhaupt? War es Liebe? Oder suchten zwei verlorene Seelen an einem der dunkelsten Orte der Menschheit einfach etwas Nähe und „Normalität“? Es ist Sucharitkuls selbstverfasstem Libretto (hier erstmals in schmerzhafter deutscher NS-Sprache) hoch anzurechnen, dass es nicht wertet, sondern zwischen den Zeilen Raum zur eigenen Suche nach Antworten lässt.

Der Thailänder ist als schillernde Medienpersönlichkeit bekannt, dessen künstlerische Vita vom preisgekrönten Horrorroman „Vampire Junction“ bis zum derzeit entstehenden zehnteiligen Opernzyklus „DasJati – The Ten Lives of the Buddha“ reicht. Für „Helena Citrónová“ bedient er sich aus der kulturellen Distanz einer Klangsprache, die auch unbequeme Schlüsse zieht – etwa dann, wenn er Schuberts Kunstlied „An die Musik“ mit der Hymne der Nationalsozialisten, dem Horst-Wessel-Lied, verwebt. Zur Ouvertüre empfinden die Hofer Symphoniker unter Musikdirektor Ivo Hentschel schrill, bohrend und gleißend den Schrecken der vollgepferchten Züge nach Auschwitz nach. Und überhaupt entwickelt die Partitur immer wieder einen dräuend filmischen Sog, der Atonalität, Klezmer und Kaffeehausmusik wie selbstverständlich ineinanderfließen lässt. Zwischen Staccato und Klangteppich wird das Bühnen-Ensemble vom Orchester fast erdrückt – nur folgerichtig, wenn keine Luft zum Atmen mehr bleibt.

Und doch ringen die Solisten in jeder Sekunde danach, beschwören die Dämonen der Vergangenheit. Inga Lisa Lehrs Sopran verströmt das unauslöschliche Licht der Helena, ihren Stolz, ihre Wahrhaftigkeit, ihr Bekenntnis zum Leben. Betörend anmutig gerät ihr Rollenporträt, voll intensiver Dramatik ebenso. Ihr Gegenüber findet sie in Markus Gruber, der Franz’ indoktriniert-vergiftetes Gedankengut hasserfüllt in die Welt schleudert, dann wieder romantisch und arienhaft seine Sehnsucht nach Helena besingt. Eine absolut dreidimensionale Darbietung, die auch Melodik auf der Täterseite nicht scheut, ohne deren Abgründe und den Respekt vor den Opfern aus den Augen zu verlieren.

Wie bringt man den Holocaust auf die Bühne? Regisseur Lothar Krause und seine Ausstatterin Annette Mahlendorf entscheiden sich für den dokumentarischen Ansatz, skizzieren Auschwitz mit einem kalten, in Nebel gehüllten Betongerüst, Stacheldraht, verwaisten Koffern und historientreuen Kostümen. Krause, auch federführender Initiator der europäischen Erstaufführung, gelingt damit eine fesselnde Charakterstudie und ein nachdenklicher Baustein der Erinnerungskultur – oder, wie Komponist Sucharitkul seine Intention im Programmheft beschreibt: „Ein Mensch steht für sechs Millionen.“ Bühnendunkel. Sekundenlanges Schweigen. Und dann gedämpft-bedrückter, aber anerkennender Applaus.

Florian Maier

„Helena Citrónová“ (2020) // Oper von Somtow Sucharitkul in der deutschen Übersetzung von Karen Schur-Narula, Lothar Krause, Ivo Hentschel und Markus Gruber

Infos und Termine auf der Website des Theaters Hof

Was bleibt, wenn wir fertig sind?

Salzburg / Salzburger Landestheater (Oktober 2022)
Uraufführung des Mehrspartenabends „Die Entstehung des Lichts“

Salzburg / Salzburger Landestheater (Oktober 2022)
Uraufführung des Mehrspartenabends „Die Entstehung des Lichts“

Vom Urknall zur Zukunftsvision – Intendant Carl Philip von Maldeghem wendet sich in einem spartenübergreifenden Werk von Schauspiel, Oper und Ballett den immer noch offenen großen Fragen der Menschheit zu: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin und was bleibt, wenn wir fertig sind, mit der Welt?

Krisen sind wir ja inzwischen gewohnt. Die gab es immer. Und seit Eva in den Apfel biss, sind wir uns derer voll bewusst und sollen Verantwortung übernehmen. Aber tun wir das wirklich? Die ineinander überfließenden Werke sind mit voller Wucht Beweis dafür, dass auch theatrale Kunst einen eminent wichtigen Platz des Menschseins, des Hinterfragens und Stellungbeziehens, des Laborierens und Kommunizierens einnehmen kann.

Der dreistündige Theaterabend in der Felsenreitschule beginnt mit dem Schauspiel „Galapagos“, welches auf dem Briefwechsel zwischen Naturbursche Charles Darwin und seiner Geliebten Emma basiert. Das Ensemble (Nils Arztmann, Leyla Bischoff, Georg Clementi und Sarah Zaharanski) nimmt das Publikum mit auf Weltumsegelung mit der HMS Beagle. Diese versinnbildlicht Ausstatterin Stefanie Seitz mit einem ovalen Wackelbrett. Genial. Um nicht über Bord zu gehen, physisch wie psychisch nicht das Gleichgewicht zu verlieren, müssen die Protagonisten aufeinander achten – wie im richtigen Leben. Seekrank und mit manischem Forscherdrang stürzt sich der immer Staunende auf die Erforschung der unberührten Biodiversität, schippert nach Feuerland und in den Pazifik zu den Galapagosinseln. Tapferkeit beweist Darwin (Nils Arztmann), als sein das bisherige Weltbild verändernde Buch „Über die Entstehung der Arten“ (1859) ihm den Schmäh der Geistlichen einbringt.

Der Widersätze zum Trotz verknüpft der Theaterabend Wissenschaft mit Religiösem: Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ (1799) beruht auf biblischer Grundlage des Buches „Genesis“, der Erschaffung der Welt und ihrer Herrlichkeit in sieben Tagen – und genauso atemberaubend klingt es auch. Da kreieren, könnte man sagen, Dirigent Gabriel Vengazo und Chordirektor Carl Philipp Fromherz zusammen mit Mozarteumorchester, Chor und Solisten (Laura Incko, Mario Lerchenberger, Philipp Schöllhorn) eine weitere Schöpfung, die dem Monumentalwerk der Musikgeschichte mit gebührender Detailversessenheit begegnet.

Und dazu, auf dass das Ursüppchen ordentlich brodelt und kocht, fühlt sich Choreograf Reginaldo Oliveira zu einem Pendant im Sinne der tanzschöpferischen Hochkultur inspiriert. Die gelingt ihm, weiß der Theatergott, mit der Wucht des Lichts, der Kraft der Elemente Wind und Wasser, mit Blitz und Donner und allem Lebendigem, was am Anfang der Zeit so kreuchte und fleuchte. Das Ergebnis haut den Zuschauer um: ein einzigartiges Bewegungsvokabular, welches in tänzerischer Vollendung des Ballettensembles die Entstehung, Reifung und Entwicklung unterschiedlichster Lebensformen nachempfindet. Da zittern Flimmerhärchen von Pantoffeltierchen, es teilen sich Zellen, es rekeln sich zarte Pflänzchen der Sonne entgegen, es wird sich gepaart, aus zwei werden viele und aus vielem wird irgendwann Mensch – so oder so. Bei aller Herrlichkeit des Entstehens und Vergehens spricht aus Oliveiras Choreografie auch der unerbittliche Kampf ums Überleben, die Grausamkeit der Natur, die im direkten Kontrast zu ihrer überwältigenden Schönheit steht.

Am Ende schließt sich der Kreis und das Bühnenwerk kommt auf den Boden der traurigen Tatsachen im Heute zurück: Darwin ist mit Artensterben konfrontiert, Kain erdolcht Abel (eine Szene von zwei Kindern dargestellt) und – mit Blick auf die Geschehnisse im Iran – Eva wird von männlichen Unterdrückern das Kopftuch aufgezwungen. Die aber wehrt sich. Mit Erfolg. Alles wird gut. Hoffentlich nicht nur im Theater.

Kirsten Benekam

„Die Entstehung des Lichts: Vom Urknall zur Zukunftsvision“ (2022) // Mehrspartenabend bestehend aus „Galapagos“ (Schauspiel basierend auf Briefen von Charles Darwin und Emma Wedgwood), „Die Schöpfung“ (Oratorium von Joseph Haydn, 1799) und „Homo Deus“ (Schauspiel)

Infos und Termine auf der Website des Salzburger Landestheaters