So brandaktuell kann ein Regiekonzept im Kern gesellschaftlicher Debatten aufschlagen: Seit Langem stand fest, dass Regisseur Anton Korenči den Schwerpunkt seiner Inszenierung in Košice der Biografie Karol Szymanowskis und dessen Beziehung zu dem von ihm in vier Gedichten vergötterten Boris Kochno widmen sollte. Brisant war das schon im Planungsstadium vor 18 Monaten aufgrund des in den letzten zehn Jahren verstärkt regressiven Klimas gegen queere Lebensformen in der Slowakei. In der Rezeption seines Heimatlandes Polen wird die Homosexualität Szymanowskis wie die Chopins, also beider Nationalkomponisten, radikal negiert.

Das Musikdrama „Król Roger“ war ein langfristiges Wunschprojekt von Operndirektor Roland Khem Tóth und Dramaturg Stanislav Trnovský. Die für Szymanowskis 1926 im Warschauer Teatr Wielki uraufgeführtes op. 46 unerlässliche Riesenbesetzung sitzt auf der Hauptbühne. Demzufolge rückt das mit wenigen Art-Déco-Stücken ausgestattete Szenengeschehen unter das Portal. Zwei Corbusier-Sessel, wenige erlesene Ausstattungsstücke und eine imposante Treppe in den Orchestergraben genügen zur Darstellung einer Welt am Abgrund (Bühne: Ondrej Zachar).

Dann kam der 12. Oktober 2022 mit dem Mord an zwei jungen Schwulen durch den Sohn eines nationalkonservativen Politikers vor einer LGBTQ-Bar in Bratislava und dem kollektiven Aufschrei danach. Eine Großzahl von Veranstaltern aller Sparten rief vom 12. bis zum 27. November zu Solidarität mit den Hinterbliebenen der Opfer auf.

Bei der lebhaft umjubelten „Roger“-Premiere am 23. November verdrängt die Mehrheit des Publikums trotzdem den Ausdrucksgehalt der Produktion, indem sie das erotisch eindringliche Geschehen „nur“ als poetische Metamorphose einer kollektiven Regeneration betrachtet. Diese Deutung wird ermöglicht, weil weder im Textbuch von Jarosław Iwaszkiewicz noch in der Musik eine Kritik an der Kirche zu erkennen ist (großartige Leitung des Chors, der Extra- und Kinderchöre).

In der Oper geht es – frei nach den ins mittelalterliche Christentum versetzten „Bacchantinnen“ von Euripides – um die Sprengung eines Staatswesens durch einen zu Enthemmung und Selbsterlösung aufrufenden Fremdling. Gewiss findet man wie in vielen Werken der Entstehungszeit auch in „Król Roger“ eine Sympathie für soziale und ästhetische Reformbewegungen. Bezeichnenderweise hätte Regisseur Korenči eine Produktion von „Die Bakchantinnen“ des Heterosexuellen Egon Wellesz lieber als die Oper Szymanowskis inszeniert. Dessen dezidiert Wagner-ferner Edel-Eklektizismus und Tonmalerei huldigt einer verheißenden wie betörenden Ästhetik der Andeutungen. Man erlebt das hochfeudal-großbürgerliche Coming-out Rogers so eindringlich wie das Leid der ihr Frausein immer kummervoller ausstellenden Königin Roxane und Rogers Faszination für eine verführerische Schattenfigur (André Tatarka), zu der ihn ein Seelenklempner mit Geduld und Notizblock treibt (Maksym Kutsenko als Gelehrter Edrisi).

Dirigent und Chormeister Peter Valentovič war einer der bevorzugten Kollegen von Edita Gruberová. Ihm gelingt das Kunststück, Szymanowskis rauschhaften, epischen und pittoresken Overflow fast impressionistisch minimierend aufzufächern. So ermöglicht Valentovič der sehr lyrischen, dabei mit brennender Intensität und sehr nah am Sujet agierenden Protagonisten-Trias eine Sternstunde. Zuvorderst die erst 24-jährige und eindrucksvoll das Belcanto-Firmament ansteuernde Sopranistin Gabriela Hrženjak bei ihrem Bühnendebüt. Ihre Erfolgslinie nach oben zeichnet sich deutlich ab. Der im italienischen Fach beheimatete Tenor Juraj Hollý stattet den Hirten mit mediterranen wie männlich verspielten Farben aus. Der in Bremen engagierte Bariton Michał Partyka leistet mit kerniger Lyrik einen szenisch-erotischen Totaleinsatz, als ginge es um Himmel und Hölle. Spannend und bezwingend suggestiv gerät diese dramatische Bändigung des maßlosen Inhalts. Erotische Hochspannung und Körperlichkeit fallen nie in übersättigende Exaltation. Ein großartiger Abend, dessen essentielle Bilder vom Publikum zwar wahrgenommen, aber nicht diskutiert werden. Mit einem solchen Anspruch als Sprachrohr gegen ein antihumanes Ambiente hat Oper wirklich Relevanz.

Roland H. Dippel

„Król Roger“ („König Roger“) (1926) // Oper von Karol Szymanowski

Infos auf der Website des Theaters