Hof / Theater Hof (Oktober 2022) Ein Holocaust-Schicksal in Somtow Sucharitkuls „Helena Citrónová“
„Er hatte sich in mich verliebt. Das tat gut in dieser Hölle.“ Er: Franz Wunsch (1922-2009), SS-Aufseher. Sie: Helena Citrónová (1922-2007), slowakische Jüdin und Zwangsarbeiterin. Zwei Leben, Täter und Opfer, „schuldig der Rassenschande“ inmitten der menschengemachten Todeszone des KZ Auschwitz-Birkenau. Eine wahre Begebenheit, die den thailändischen Komponisten Somtow Sucharitkul (*1952) zur Vertonung inspirierte. 2020 wurde seine Oper „Helena Citrónová“ in Bangkok uraufgeführt, jetzt erlebt sie am Theater Hof ihre europäische Erstaufführung.
Ein Werk, das quälend-brennende Fragen aufwirft: Was genau passierte damals zwischen Wunsch und Citrónová? Wurde er, der brutale „Judenhasser“, dank Helenas Einfluss tatsächlich zu „einem anderen Menschen“, wie Zeugen im zweiten Wiener Auschwitz-Prozess 1972 aussagten? Wie konnte sie sich ihm, einem Massenmörder der gnadenlosen Vernichtungsmaschinerie, öffnen? Tat sie es emotional überhaupt? War es Liebe? Oder suchten zwei verlorene Seelen an einem der dunkelsten Orte der Menschheit einfach etwas Nähe und „Normalität“? Es ist Sucharitkuls selbstverfasstem Libretto (hier erstmals in schmerzhafter deutscher NS-Sprache) hoch anzurechnen, dass es nicht wertet, sondern zwischen den Zeilen Raum zur eigenen Suche nach Antworten lässt.
Der Thailänder ist als schillernde Medienpersönlichkeit bekannt, dessen künstlerische Vita vom preisgekrönten Horrorroman „Vampire Junction“ bis zum derzeit entstehenden zehnteiligen Opernzyklus „DasJati – The Ten Lives of the Buddha“ reicht. Für „Helena Citrónová“ bedient er sich aus der kulturellen Distanz einer Klangsprache, die auch unbequeme Schlüsse zieht – etwa dann, wenn er Schuberts Kunstlied „An die Musik“ mit der Hymne der Nationalsozialisten, dem Horst-Wessel-Lied, verwebt. Zur Ouvertüre empfinden die Hofer Symphoniker unter Musikdirektor Ivo Hentschel schrill, bohrend und gleißend den Schrecken der vollgepferchten Züge nach Auschwitz nach. Und überhaupt entwickelt die Partitur immer wieder einen dräuend filmischen Sog, der Atonalität, Klezmer und Kaffeehausmusik wie selbstverständlich ineinanderfließen lässt. Zwischen Staccato und Klangteppich wird das Bühnen-Ensemble vom Orchester fast erdrückt – nur folgerichtig, wenn keine Luft zum Atmen mehr bleibt.
Und doch ringen die Solisten in jeder Sekunde danach, beschwören die Dämonen der Vergangenheit. Inga Lisa Lehrs Sopran verströmt das unauslöschliche Licht der Helena, ihren Stolz, ihre Wahrhaftigkeit, ihr Bekenntnis zum Leben. Betörend anmutig gerät ihr Rollenporträt, voll intensiver Dramatik ebenso. Ihr Gegenüber findet sie in Markus Gruber, der Franz’ indoktriniert-vergiftetes Gedankengut hasserfüllt in die Welt schleudert, dann wieder romantisch und arienhaft seine Sehnsucht nach Helena besingt. Eine absolut dreidimensionale Darbietung, die auch Melodik auf der Täterseite nicht scheut, ohne deren Abgründe und den Respekt vor den Opfern aus den Augen zu verlieren.
Wie bringt man den Holocaust auf die Bühne? Regisseur Lothar Krause und seine Ausstatterin Annette Mahlendorf entscheiden sich für den dokumentarischen Ansatz, skizzieren Auschwitz mit einem kalten, in Nebel gehüllten Betongerüst, Stacheldraht, verwaisten Koffern und historientreuen Kostümen. Krause, auch federführender Initiator der europäischen Erstaufführung, gelingt damit eine fesselnde Charakterstudie und ein nachdenklicher Baustein der Erinnerungskultur – oder, wie Komponist Sucharitkul seine Intention im Programmheft beschreibt: „Ein Mensch steht für sechs Millionen.“ Bühnendunkel. Sekundenlanges Schweigen. Und dann gedämpft-bedrückter, aber anerkennender Applaus.
Florian Maier
„Helena Citrónová“ (2020) // Oper von Somtow Sucharitkul in der deutschen Übersetzung von Karen Schur-Narula, Lothar Krause, Ivo Hentschel und Markus Gruber