Gioachino Rossini fragte sich selbstironisch, ob seine Messe „heilige“ oder nicht doch eher „vermaledeite“ Musik sei. Er forderte für seine „Petite Messe solennelle“ als Besetzung „12 Sänger von drei Geschlechtern – Männer, Frauen und Kastraten“. Das für einen Privatanlass 1864 entstandene Opus ist im Bach- und Telemann-lastigen Mitteldeutschland ein nur äußerst selten zu hörendes Juwel aus der katholischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts.

Im überkonfessionellen Tanz- und Chorspiel „Ritus“ hat die genderfluide Zukunft schon begonnen. Staunend und neugierig betasten sich die Individuen, bilden in gemessenem Tempo Ornamente aus Armen und Blicken. Durch den Raum schreitet dazu eine stille „Engelsgestalt“ mit Leidensmiene und Jenseitshoffnung (Kerstin Dathe). Das Anhaltische Theater Dessau hat auch die idealen Stimmen: die für Wagners „Rheingold“ zu den Dresdner Musikfestspielen 2023 geholte Sopranistin Ania Vegry, die Belcanto-erfahrene Mezzosopranistin Rita Kapfhammer, den betörenden Tenor Costa Latsos und den Bassbariton Modestas Sedlevičius.

Rossinis „Petite Messe solennelle“ bietet im Vergleich zu vielen Werken der sakralen Chormusik einen Vorteil. Anstelle einer großen Orchester-Besetzung benötigt man nur einen Konzertflügel und ein Harmonium. Alexander Koryakin und Arang Park musizieren auf der Vorbühne unter dem breiten Portal mit dunklen Holzkassetten, die aus dem breiten Parkett ein Gefühl von außerordentlicher Raumtiefe geben.

Zu Beginn erscheinen alle Darsteller in Weiß – mit Hemden, Blusen, T-Shirts, Jogginghose, Sakko, Rock. Ihr erster Auftritt ist gemessen, die Klänge dazu fast karg. Man erkennt nicht, wer zum Chor, zum Ballett oder zu den Musiktheater-Solisten gehört. Hinten ist das einzige Dekorationsstück: das Segment einer umgefallenen Kuppel wie die des Petersdoms in Rom, vor schwarzem Hintergrund. Schlicht und konzentriert sind Guido Petzolds Bühnen- und Lichträume und die Kostüme von Judith Fischer. Ressourcen-Schonung gelingt nicht nur als Behauptung, sondern vor allem als kreative Leistung. Sebastian Kennerknecht bringt Rossinis Musik am Pult bewegend und akzentuiert zum Klingen.

Ballettdirektor Stefano Giannetti hat ein besonderes Faible für große Kirchenmusik, er greift in seiner szenischen Gesamtleitung den langen, ruhigen Fluss auf. Erst schickt er Costa Latsos während seines betörend gesungenen Solos „Domine Deus“ in einen gar nicht so einfachen Pas de deux mit einem Tänzer und später die Sopranistin Ania Vegry in das Duo mit einer Tänzerin, in dem sich die sportive Ebene der Choreografie unter strahlenden Spitzentönen erledigt.

Insgesamt, das merkt man auch am nachhaltig intensiven Premieren-Applaus, gelingt in „Ritus“ ein Hauch von edler Nachdenklichkeit, der die angekündigte Ironie weitgehend vermissen lässt. Zum Glück, denn die undogmatische Spiritualität des Abends gerät zu einem starken Ereignis.

Roland H. Dippel

„Ritus“ (1864/2023) // Tanz- und Musiktheater von Stefano Giannetti zur Musik der „Petite Messe solennelle“ von Gioachino Rossini

Infos und Termine auf der Website des Anhaltischen Theaters Dessau