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Rezensionen 2023/03

Der Feind in uns

München / Bayerische Staatsoper (März 2023)
Sezierender Blick auf Prokofjews „Krieg und Frieden“

München / Bayerische Staatsoper (März 2023)
Sezierender Blick auf Prokofjews „Krieg und Frieden“

Es ist eine der heikelsten Programmierungen der laufenden Spielzeit: Sergej Prokofjews Vertonung von Lew Tolstois Romanepos „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper. Eine Kriegsoper über Napoleons Russland-Feldzug 1812, entstanden unter dem Eindruck von Hitlers Einmarsch 1941, stalinistisch unterfüttert, patriotisches Überwältigungstheater. Diesmal sind die Vorzeichen andere als in den „Vaterländischen Kriegen“: Der Aggressor kommt nicht von außen, der Aggressor des zynisch zur „Spezialoperation“ deklarierten Überfalls auf die Ukraine ist Russland selbst. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Sollte ein Werk wie dieses nach dem 24. Februar 2022 noch aufgeführt werden?

Die Antwort lautet Ja. Was GMD Vladimir Jurowski und Regisseur Dmitri Tcherniakov im Münchner Nationaltheater mit Blick auf ihr Heimatland in schlaglichtartigen Episoden zur Diskussion stellen, ist politisch relevantes Musiktheater auf der Höhe der Zeit: unbequem und lange nachhallend, ohne sich in vordergründig „einfachen“ Antworten zu verheddern. Prokofjews Oper war sein lebenslanges Schmerzenskind, monumentaler Torso im ständigen Ringen um die Gunst von Stalins Doktrin und bis zu seinem Tod der politischen Führung doch niemals „gut genug“. Dabei wird oft übersehen, dass „Krieg und Frieden“ in Opernform nicht nur trotzig-vaterländische Selbstbehauptung in hochproblematischem Sprachduktus ist, sondern in Tolstois Geiste auch immer noch ein Stück Weltliteratur. Es geht nicht nur um eine anonyme „Volksmasse“ im Ausnahmezustand, es geht auch um Menschen mit Träumen und Hoffnungen, die im Strudel der Kriegswirren ihren Halt im Leben verlieren.

Gerade damit tut sich Tcherniakov im ersten, dem „Friedensteil“ etwas schwer, indem er die individuelle Profilschärfe der Charaktere dem Gesellschaftspanorama unterordnet. Sein Bühnenbild ist der prachtvollen Säulenhalle im Moskauer „Haus der Gewerkschaften“ nachempfunden. Ein geschichts- und symbolträchtiger Ort, an dem Zaren Bälle veranstalteten, Stalin Schauprozesse abhielt und die Leichname von ihm, Lenin oder zuletzt Gorbatschow aufgebahrt wurden. Ist „Friedensteil“ in dieser Produktion überhaupt die richtige Bezeichnung? Wir erleben die höhnische Karikatur einer Gesellschaft, für die Krieg lange nur ein Smalltalk-Thema ist und die doch längst wie im Bunker schutzsuchend und zusammengepfercht dem Lauf der Dinge harrt. Herrscht draußen bereits Krieg? Wer ist der Feind? Gibt es ihn überhaupt oder zerstört sich dieser übersättigte Haufen an aufgespielt Mächtigen und dekadent Wahnsinnigen von innen heraus selbst? Die Parallelen zu Putins Russland sind zwischen den Zeilen zu finden und die Regie immer dann am stärksten, wenn die „Masse Mensch“ im deutlich hervorstechenden „Kriegsteil“ die Fratze des Tötens entlarvt – von Bootcamps über autoaggressiven Blutrausch bis hin zur Inszenierung der Napoleon-Szene als pervertierte Commedia dell’arte.

Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters leuchtet das Stilspektrum in Prokofjews Partitur extrem geschickt und kontrastreich aus, gibt sehnsuchtsvollen Lyrismen ebenso Raum wie den martialischen Volumenschlachten des Bayerischen Staatsopernchors, der als eigentlicher Hauptprotagonist des Abends die vernarbte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit herausschreit. Aus dem mehr als 40-köpfigen und durchweg überzeugend agierenden Ensemble ragen die expressive und seelenvolle Olga Kulchynska (Natascha), der warme und ergreifend innige Bariton von Andrei Zhilikhovsky (Andrej) und der empfindsame, später von Verbitterung durchzogene Schmelz von Arsen Soghomonyan (Pierre) hervor. Ein unter die Haut gehender, um einige glorifizierende Passagen gekürzter Kraftakt. Und die traurige Erkenntnis: 1812, 1941 und 2022 ähneln sich viel zu sehr.

Florian Maier

„Война и мир“ („Krieg und Frieden“) (1946) // Oper von Sergej S. Prokofjew

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

kostenfreier Stream bis 5. September 2023 auf ARTE Concert

Im ewigen Winter

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2023)
Romeo Castellucci betont den ökologischen Sinn in Richard Strauss’ „Daphne“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2023)
Romeo Castellucci betont den ökologischen Sinn in Richard Strauss’ „Daphne“

Im Tempe-Tal rieselt der Schnee, erst leichter, dann immer stärker, bis er auch den Orchestergraben erreicht. Zuerst erinnert das noch an alte Bilder göttlicher Inspiration: Erleuchtete Flocken fliegen den Menschen zu. Später eher an einen Schneesturm. Es ist eine noch recht poetische Welt, in die man so entführt wird, in welcher der Gott immerhin ein Gott sein könnte. Die Rollengestaltung von Pavel Černoch als Apollo – ernst, getragen, mit tiefem Ansatz und großen Gesangsflügeln – gibt dazu einigen Anlass, ebenso seine ritualisierte Gestik wie aus dem Ägypten-Comic. Bei Anna Kissjudits Gaea wirkt das Tief-Getragene anfangs etwas aufgesetzt, kommt nicht recht vom Fleck.

Das geht wohl auch auf das Pult der Staatskapelle Berlin, an dem Thomas Guggeis nicht immer die Mitte zwischen schönem Strauss-Skizzen-Ton und der direkten Präsenz der Musik im Raum findet. Das naturhafte Sich-Verströmen des Orchesters klingt durchaus. Aber glaubt man am Ende an das Drama? Dafür zögert Guggeis zu oft in der Tiefe. Abgetönt, wie abgewandt beginnt das schon mit einem orgelartigen Holzbläser-Ensemble, um sich dann noch über weite Strecken in der Privatheit des Streicherklangs fortzusetzen. Die Interaktion zwischen Daphne und ihrem menschlichen Verehrer Leukippos gerät darüber zum Duodrama, wozu auch die liedhafte Interpretation von Magnus Dietrich beiträgt. Vera-Lotte Boecker folgt den Jugendstil-Fiorituren ihrer Partie mit Nachdruck, verwirklicht gelegentlich das Freischwingende in der Mittellage. Daneben ist ihr noch mehr Weite für die großen Anstrengungen zu wünschen.

Später müht sich René Pape als immer noch gewaltiger Flussgott im Ruhestand redlich, die erhabene Tiefe, die Guggeis fehlen lässt, zu erzeugen. Schön die Szene der beiden Mägde (Evelin Novak und Natalia Skrycka), die mit Komödiantengeist und gesanglichem Wagemut beeindrucken. Auch die Ambivalenz der Verführungsszene zwischen Apollo und Daphne in lau bleibenden Holzbläsertönen gelingt und ist zudem raffiniert inszeniert wie eine Szene im Hollywood-Code der vierziger Jahre.

Insgesamt eine Leistung, die sich sehen lassen kann, auch wenn manches noch mehr fließen könnte und man etwas alleingelassen wird mit der Bühnensymbolik. Was soll die Herme, auf der erst „ER“, dann „SIE“ steht? Warum steht im Futter von Apollos Wendemantel „VERA“? Und ja, warum ist der Mythos von der Lorbeerdame in einen locker-verschneiten Winter entrückt? So blüht die Rebe sicher nicht. Man kommt also auf Umwegen dazu, dass diese Handlung für Regisseur Romeo Castellucci allenfalls eine virtuelle Realität besitzt, auch wenn es durchaus nach Antike riecht und einzelne Bäume und Strauchwerk an Daphnes Freunde erinnern.

Mitten im Finale, das die Transformation Daphnes zum Thema hat, schultert die Titelrolle, uns abgewandt, das Titelblatt von T. S. Eliots „The Waste Land“. Das Programmheft zitiert aus dem Gedicht: „Nichts zeugt von Sommernächten. Die Nymphen sind fort.“ Am Ende dominiert der ökologische Sinn der Fabel. Kein friedlicher Eingang in die Natur ist da möglich. Auch Daphne wird zur erdverschmierten Öko-Terroristin. Der Baum hängt entwurzelt in der Luft.

Matthias Nikolaidis

„Daphne“ (1938) // Bukolische Tragödie von Richard Strauss

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Unter den Linden