Paris / Opéra national de Paris (März 2023) Thomas’ „Hamlet“ zwischen den Zeiten
Shakespeare oder Thomas? Das ist bei diesem „Hamlet“ durchaus eine Frage. Natürlich dominiert die Musik des Franzosen Ambroise Thomas (1811-1896), der mit seiner Grand-opéra-Version der Geschichte um den Prinzen von Dänemark sein Publikum vor allem unterhalten wollte. Das gelingt mit der geschmeidigen, groß orchestrierten Musik allemal und heute nicht viel anders als damals. Es sind ja oft die Werke im Windschatten der großen Neuerer, die beim Publikum ankommen. Vor allem, wenn die Oper in musikalischer Haute Couture auf den Laufsteg geschickt wird, wie es Direktor Alexander Neef jetzt in der Bastille macht.
Dirigent Pierre Dumoussaud kann dabei beim fabelhaften Orchestre de l’Opéra national de Paris und dessen Vertrautheit mit dem französischen Idiom voll auf Sinnlichkeit setzen. Er hat aber auch ein so erstklassiges Ensemble zu Verfügung, dass etwaige besondere Rücksicht auf die Reichweite der Stimmen nicht zu seiner Sorge gehören muss.
Für die umfangreiche Titelpartie ist Ludovic Tézier mit seinem Timbre, seiner Mühelosigkeit und vokalen Gestaltungskraft eine Idealbesetzung. Als Ophélie spielt Lisette Oropesa ihren jugendlichen Charme aus und macht ihre Wahnsinnsarie zu einem koloraturblitzenden Höhepunkt auf dem Weg in den Selbstmord. Hamlets Mutter ist mit Ève-Maud Hubeaux genauso souverän besetzt wie Claudius mit Jean Teitgen. Auch das übrige Ensemble bis hin zu den Totengräbern ist handverlesen. Zusammen mit der Choreografie von Claude Bardouil und dem von Allesandro Di Stefano einstudierten Chor bewegt sich die Pariser Oper auf dem Qualitätsniveau, das man vom ersten Haus Frankreichs zurecht erwarten darf.
Darüber hinaus wird das Opern-Schmuckstück aus dem 19. Jahrhundert von Regisseur Krzysztof Warlikowski und Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak zeitgemäß in Szene gesetzt. In Michel Carrés und Jules Barbiers Libretto-Version des Shakespeare-Stückes bringt Hamlet den Mörder seines Vaters um und wird König. Die Regie macht aus Hamlets vorgespieltem Wahnsinn einen Raum – klinisch, vergittert, trist. Die aus den Fugen geratene Zeit ist hier zum Irrenhaus geworden, in dem die Gegenwart im ersten und fünften Akt besonders deprimierend wirkt. Was soll aus so einer Thronbesteigung schon werden. Die mittleren Akte spielen als Erinnerung zwanzig Jahre früher. Ein Zeitsprung, der den Blick auf die Psyche der Akteure schärft und deren Schicksal weiterdenkt. Vielleicht ist es aber auch nur ein Perspektivwechsel, der Hamlets Sicht auf die Welt zeigt. Der Geist des Vaters jedenfalls spukt als weißer Clown durch die Szene, die in den Jugend-Akten elegant attraktive Gertrude sitzt am Anfang und am Ende ergraut im Rollstuhl vorm Fernseher und sieht einen Schwarz-Weiß-Klassiker, Ophélie ertränkt sich in einer freistehenden Badewanne und die Theatertruppe entfaltet absurden Witz. Zum psychologisierenden Hintersinn gibt es also auch die opulente Show. Alles in allem ein Gesamtkunstwerk vom Feinsten.
Roberto Becker
„Hamlet“ (1868/69) // Oper von Ambroise Thomas