Einkalkuliert war ein großer Frank-Castorf-Aufreger für Hamburg. Den haben die Anti-Corona-Regeln verhindert. Also kein „Boris Godunow“-Massenauflauf in der Staatsoper, sondern einige Nummern kleiner: eine musikalisch-szenische Collage unter dem Titel „molto agitato“ mit Musik von Georg Friedrich Händel, György Ligeti, Johannes Brahms und Kurt Weill.

Castorfs Regieausflüge in die Welt der Oper profitierten bislang von den kongenialen Drehbühnen-Konstrukten, die sein Ausstatter Aleksander Denic als assoziationsoffene Spiel- und Denkräume dafür erfand. In Hamburg ist nichts davon zu sehen. Hier versieht er die erdrückende Tiefe des Bühnenraumes nur sehr sparsam mit ein paar Versatzstücken. Eine Filmset-Ecke ganz hinten. Ein Spruchband mit den aufgesprühten Worten „Sex and Lies“. Eine US-Fahne, die Valery Tscheplanowa schwenkt und in die sie sich vielsagend ein- und aus der sie sich wieder auswickelt. Schließlich wird dieses nationale Symbol in Gestalt einer gewaltigen Lichtinstallation bis vor an die Rampe gefahren. In Flammen geht aber nicht das Sternenbanner, sondern „nur“ eine weiße Fahne auf.

Die Musik zur Auftakt-Choreographie mit Fahne liefert Händels „Ankunft der Königin von Saba“. Katharina Konradi, Jana Kurucová und Georg Nigl präsentieren dann neben einem hereingeschobenen Bühnenorchester effektvoll die Vokalisen-Emphase mit Ligetis „Nouvelles Aventures“ (1965). Nach den von Rupert Burleigh am Klavier begleiteten „Vier ernsten Gesängen“ von Brahms wechselt Tenor Matthias Klink gekonnt zu nachgespielten Folterszenen aus Quentin Tarantinos Gangsterfilm „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“, in denen auch Bariton Georg Nigl echt wienernd glänzt. Gemeinsam mit Konradi und Kurucová begleitet Nigl zu Ausschnitten aus Händels „Aci, Galatea e Polifemo“ einen über ihren Köpfen eingespielten sowjetischen Animationsfilm zum Thema. Mehr szenisch musikalisches Eigengewicht entfalten schließlich „Die sieben Todsünden“ in einer Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel. Hier brilliert Tscheplanowa mit beiden Persönlichkeiten der Anna auf ihrer Tour durch etliche US-Metropolen. Beim Dauerthema USA geht es natürlich auch um Gewalt und Sexismus, der Name Harvey Weinstein fällt. Die Requisite steuert auch noch einen Militär-Jeep bei…

Natürlich gibt es die bei Castorf unvermeidlichen, mit Bühnenkameras produzierten Livebilder auf der großen Leinwand im Zentrum der Bühne. Diesmal allenfalls routiniert, ohne wirklich eine neue Dimension zu erschließen. Für Kent Nagano am Pult seiner Musikerauswahl war es eher eine Eröffnung mit angezogener Handbremse. Wie sagte Intendant Georges Delnon vor der Vorstellung? „Die Hauptbotschaft ist: Wir spielen wieder!“

Roberto Becker

„molto agitato“ (2020) // Collage mit Musik von Georg Friedrich Händel, Johannes Brahms, Kurt Weill und György Ligeti