Es ist die bekannte „Traviata“-Geschichte. Und doch ist alles anders. Zwar agieren die vertrauten Verdi-Personen auf der Bühne und singen auch einige ihrer berühmten wunderbaren Arien, Duette und Ensembles. Zwar erklingen aus dem Orchestergraben Verdis aufregende Opernklänge. Und Violetta stirbt zum Schluss auch wie gewohnt mit so schrecklichen Hustenanfällen, dass man um die Stimme der Sängerin fürchten muss. Und doch erlebt man eine neue Oper. Was ist mit Verdis „La traviata“ in Kassel geschehen? Beharrlich hatte die Intendanz des Staatstheaters nach einer Wiederbelebung des Hauses gesucht. Und das unter Berücksichtigung der geltenden Corona-Regeln: Im Graben maximal 20 Instrumente, auf der Bühne Abstandsregeln einhalten und keine Pause. Kuriose Bedingungen für eine Oper, bei der leidenschaftliche Liebesszenen zur Essenz gehören und sich das Drama normalerweise über zweieinhalb Stunden erstrecken kann. In Kassel hatte man die unkonventionelle Idee, den in der Schweiz lebenden italienischen Komponisten Carlo Ciceri um eine Version der Oper zu bitten, die den aktuellen Bedingungen gerecht wird. Und diesem renommierten Musiker gelingt innerhalb von wenigen Wochen ein Geniestreich. Er verbindet Verdis Musik und eigene Klänge zu einer Collage mit dem Titel „L’ultimo sogno – Der letzte Traum/Annäherung an ›La traviata‹“. Das Bühnengeschehen fokussiert er auf Violetta. Die verbringt fiebernd die gesamte Zeit auf ihrem bodengleichen Matratzenlager. Immer wieder nähern sich in ihren rückschauenden Phantasien Personen des vergangenen Lebens dem Lager der hoch ansteckenden Tuberkulose-Kranken. Beklemmend aktuell schützen sie dabei Nase und Mund mit Taschentüchern. Und zugleich räumen im Hintergrund des kahlen Raumes (Bühnenbild Hermann Feuchter) in einer nicht enden wollenden Karawane Bedienstete alle luxuriösen Möbel aus dem Haus. Selbst vor dem Laken der Sterbenden machen sie nicht halt. Zuletzt ist Violetta nur noch ein Häufchen Elend, das auf der kahlen Matratze verreckt.

Bei aller hohen Qualität des gesamten Solistenensembles und des auf dem Rang positionierten Chores, gehört der Abend der überragenden Vlada Borovko. Die russische Sopranistin gehört zu den Shootingstars der internationalen Opernszene. Wer sie in Kassel erlebt, weiß, warum das so ist. Ohne Unterbrechung ist sie auf der Bühne präsent und fasziniert mit makelloser Stimmführung und einer vokalen Ausdrucksstärke, die berückend ist. Dabei zieht sie auch mit schauspielerischer Intensität in den Bann und gestaltet ihr inneres Verbrennen zu einem erschütternden Bild für das Scheitern ihrer Liebe zu Alfredo (mit bewegendem canto dramatico Giordano Lucà). Trotz der reduzierten Besetzung gelingt dem Orchester überzeugende Verdi-Musik. Die verwandelt sich aber immer wieder unmerklich in sphärische oder harte expressive Klänge, bei denen auch das rechts und links am Bühnenrand stehende umfangreiche Schlagzeug zum Einsatz kommt. Ein zurecht umjubelter Corona-Verdi, der auch nach der Pandemie Bestand haben wird.

Claus-Ulrich Heinke

„L’ultimo sogno – Der letzte Traum“ (Annäherung an „La traviata“) (2020) // Carlo Ciceri auf Basis der Oper von Giuseppe Verdi