Im Club „Pleasure“ wird das Publikum selbst zu einem Teil der Party People. Der Eingang ins Studio des Theaters Erfurt führt durch die Männertoilette. Und die gehört zur künstlerischen Ausstattung von Mila van Daag. Die kleine Orchesterbesetzung sitzt in einer Gitterzelle und spielt live. Stefano Cascioli hat am Pult mit Brio und Pathos alles im Griff.

Das Musiktheater-Debüt des britischen Komponisten Mark Simpson (*1988) ist ein Opernfest der besonderen Art. Melanie Challenger bevorzugt in ihrem Textbuch klare Pointen und lakonische Kürze. Sie findet zu Leid und sexuellem Begehren Worte von aufwühlender Sinnlichkeit und Trauer. Tolles Kreativfutter ist ihre poetische Prosa also für die von der Opera North, Aldeburgh Music und dem Royal Opera House in Auftrag gegebene Partitur, welche 2016 im Leeds Howard Assembly Room zur Uraufführung gelangte. Der zu den Erfurter Schlussproben anwesende Mark Simpson gehört zu den umworbenen Jung-Komponisten.

„Pleasure“ zeichnet sich durch ungewöhnlich starke Erfindungskraft aus. Die Opernhandlung bezieht sich auf den altgriechischen Mythos des Schmiedegottes Hephaistos, den seine Mutter Hera wegen einer Verkrüppelung am Fuß aus dem Olymp in die Tiefe warf. Der alternde Travestie-Star Anna Fewmore (Máté Sólyom-Nagy) glaubt selbst nicht mehr an die Lust, die er in seinen Songs vergöttert und so die Gäste zu Ausschweifungen befeuert. Seit Jahren ist die Toilettenfrau Val (Katja Bildt) die Seelentrösterin all jener ungeküsster Prinzen, deren Lust im „Pleasure“ weder Erfüllung noch Ewigkeit findet. Nathan (Emanuel Jessel) treibt es in seiner Unfähigkeit zu Zärtlichkeiten in den Club, obwohl er nicht queer ist. Erst rührt ihm der promiske Mat (Robin Grunwald) an Haut und Seele, später muss er in Val seine seit der Kindheit vermisste Mutter erkennen …

Die Darsteller bahnen sich wegen der Menschen im Raum immer andere Wege zueinander hin – oder voneinander weg. Solche Situationen finden auch Theatergänger prickelnd, die nichts mit Nightlife und Party zu tun haben. Denn selten erlebt man Opernsänger derart hautnah in praller Aktion. Regisseur Cristiano Fioravanti begeistert sich für solche ungewöhnlichen Spielräume, „Pleasure“ ist seine zweite interaktive Operninszenierung für das Studio Erfurt. Vor zwei Jahren hatte er in Philip Glass’ Kafka-Vertonung „In der Strafkolonie“ das Publikum zu Strafgefangenen gemacht.

Die Musik hat große Klasse und bietet dem tollen Erfurter Sängerquartett starke wie anrührende Entfaltungsmöglichkeiten. Die Orchester-Combo generiert Techno-, Pop- und Rockbeats mit imponierend fix wechselnder Band- und Farbbreite. Das kommt schon sehr stark in die musikalische Nähe zu „Greek“, Mark-Anthony Turnages ähnlich gestricktem Fast-Klassiker. Mark Simpson ist ein neues Paradebeispiel dafür, was für tolle musikalisches Kicks aus dem United Kingdom in die Klassikszene knallen.

Roland H. Dippel

„Pleasure“ (2016) // Kammeroper von Mark Simpson

Infos und Termine auf der Website des Theaters Erfurt