Mit seiner Musical-Sparte hat das Landestheater Linz keineswegs nur seine hauseigene Cashcow, die massentaugliche Unterhaltung produziert. Der künstlerische Leiter Matthias Davids hat das Repertoire von Anfang an immer wieder auch mit interessanten Ur- und Erstaufführungen aufgewertet, um so die komplette Bandbreite des Genres abzubilden. Jüngster Streich ist die Weltpremiere von „The Wave“ aus der Feder von Or Matias, der sich dafür von Morton Rhues gleichnamigem Roman inspirieren ließ – einem Klassiker der Schullektüre, der seit seiner Veröffentlichung 1981 leider wenig an Aktualität eingebüßt hat.

Im Zentrum: das Sozialexperiment eines amerikanischen Geschichtslehrers, der seine Schulklasse am eigenen Leib spüren lässt, dass eine scheinbar positive Gruppendynamik schnell ins Negative kippen kann. Und wie leicht faschistische Tendenzen auf fruchtbaren Boden fallen. All die missverstandenen und ausgegrenzten Teens in seiner Klasse finden in der von ihm gegründeten Bewegung „Die Welle“ zunächst ein neues Gemeinschaftsgefühl. „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Zusammenhalt! Kraft durch Taten! Kraft durch Stolz!“ Es dauert jedoch nicht lange, bis die Gleichschaltung zur Ausgrenzung und letzten Endes zur offenen Gewalt führt. Eine Erkenntnis, die sich für den Lehrer Ron Jones mindestens so erschütternd offenbart wie für seine Klasse.

Passend zur Geschichte setzt die von jazzigen Anklängen durchzogene Partitur weniger auf den großen Effekt und mehr auf die ruhigen Töne, mit denen Matias in die Seelen seiner Figuren blicken lässt. Wenn auch nicht immer ganz frei von Klischees, die von Übersetzerin Jana Mischke ebenso kräftig bedient werden. Denn natürlich gibt es auch hier die üblichen Verdächtigen wie die Streberin, den Sportler oder den gedichteschreibenden Außenseiter. Anders als bei manchem 08/15-Teenie-Film sind diese Stereotypen jedoch keine Steilvorlage für flache Gags. Vielmehr zeigen sie, dass keiner von uns immun ist.

Das musikalische Spektrum ist ähnlich divers aufgestellt, vom eingängigen a-cappella-Auftakt über sanfte Balladen bis hin zu Ensembles im prägnanten Marschrhythmus. Richtige Ohrwürmer gibt es zwar nur wenige, doch stehen die Nummern stets im Dienst der Geschichte, die Christoph Drewitz im nüchternen, laborhaften Bühnenraum von Veronika Tupy sehr auf die Figuren fokussiert erzählt. Christian Fröhlich gibt den hemdsärmeligen Pädagogen mit der nötigen stimmlichen Autorität und schickt einem bei seiner Wandlung vom Kumpeltypen zum harten Anführer tatsächlich auch kleine Schauer über den Rücken. Aus der Schulklasse, die mit Studierenden der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien aufgestockt wurde, sticht vor allem Hanna Kastner als Ella heraus, die als einzige den Aufstand wagt und dafür bitter bezahlt. Die anschließende Szene mit Ron und dem vom Mobbingopfer zum Fanatiker mutierten Robert (Lukas Sandmann) zählt wahrscheinlich zu den beklemmendsten Momenten dieser Show, der man nach Pandemie-Ende ein langes Bühnenleben wünscht.

Tobias Hell

„The Wave“ („Die Welle“) (Uraufführung aufgezeichnet am 5. November 2020 / Stream-Premiere am 20. März 2021) // Musical von Or Matias

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. April 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).