Lyon / Opéra de Lyon (Dezember 2022) Bernsteins „Candide“ musikalisch souverän und szenisch leerlaufend
Globetrotten ist im 21. Jahrhundert nichts Besonderes wie noch im 18. Jahrhundert. In Voltaires Erzählung aus dem Jahr 1759 verschlägt es Candide vom provinziellen Westfalen nach Lissabon, Paris, Cádiz, Argentinien, El Dorado, Venedig und zurück in die „rusticité teutone“ (wie es die Übertitel der Opéra de Lyon nennen). Die globale Zivilisation ist in Andrew Liebermans und Perrine Villemurs Ausstattung mausgrau und gläsern: Solisten, Tänzer und Chor sitzen auf Klappstühlen und werden von einem riesigen transparenten Aufblasball überrollt. Die Casuals (Kostüme: Terese Wadden), die Bewegungen und das Verhalten der genderkorrekten Kollektive (Choreografie: Annie-B Parson) spiegeln einen humanoiden Ameisenstaat im Arbeitslicht. Niemand denkt sich in der „besten aller möglichen Welten“ etwas über Männer in Frauenkleidern. Wenigstens das passt. In der Inszenierung des Broadway-erfahrenen Daniel Fish sind existenzielle Konflikte, Gesinnungsunterschiede, emotionale Höhenflüge und Abstürze überstandene Kinderkrankheiten der Zivilisation.
Auf der Bühne herrscht Ödnis. Das ist keine gute Voraussetzung für die Wechsel zwischen Bernsteins Höhenflügen und Hugh Wheelers brisanten Zwischentexten. Wenn Cunégonde ein Allerweltsgeschöpf ohne biografische Scharten ist, verlieren Candides Zweifel ihren Grund und werden zur Depression. An der Opéra de Lyon fehlt alles aus dieser „komischen Operette“, worüber sich hohnlachen, spotten, lästern und schmunzeln lässt. Daniel Fish entwirft ein soziales Funktionsdesign ohne Visionen – befangen in Ödnis, Monotonie und Sinnlosigkeit. Manchmal wird noch getanzt. Der Rest ist emotionale Starre.
Wayne Marshall kontert dieser Lethargie mit einer musikalischen Leitung der Sonderklasse. Er bringt mit dem fetzigen, süffigen und bravourösen Orchestre de l’Opéra de Lyon die Partitur zum Brodeln, Schmelzen und fragwürdigen Jubeln. In der sinfonischen Ouvertüre fliegen die Jazz- und Groove-Fetzen, alle Ensembles haben Schmackes und Biss. Zurecht ergießt sich nach Cunégondes Koloraturfeuerwerk „Glitter and Be Gay“ ein Jubelorkan über die kurzfristig in die Neuproduktion eingestiegene Sharleen Joynt. In „Bon Voyage“ und anderen Nummern rumort eine schon luziferische Getriebenheit. Derek Welton, „Rheingold“-Wotan der Deutschen Oper Berlin, ist ein imponierend stimmgewaltiger Philosoph Pangloss, Peter Hoare ein subtil charakterisierender Gouverneur im Arbeitsoverall. Tichina Vaughn heizt als Old Lady mit vibrierender Verve ein, ebenso Pawel Trojak als Martin. Sean Michael Plumb (Maximilian) und Thandiswa Mpongwana (Paquette) bleiben als Charaktere unprofiliert. Schade vor allem ist es in dieser Produktion um den intensiven Paul Appleby in der Titelpartie. Endlich werden Candides Soli nicht als Romanzen-Futter für Tenor verstanden. Marshall und Appleby dehnen diese bis zum expressiven wie todtraurigen Kollaps. Dieser Candide klagt nicht über Leid, sondern über Glück- und Freudlosigkeit. Das wird deutlich. Aber der Verzicht auf die Kontrastschärfe des problematischen Textbuchs führt zum dramatischen Vakuum. Die kaum vorhandene Polarisierung zwischen Ideal und finsterer Realität, zwischen Kalauer und Poesie hinterlässt eine tiefe Wunde in Bernsteins einmaligem und unwiederholbarem „Candide“-Kosmos. Schade, denn die konzeptionellen Voraussetzungen zu einer gegenwartsrelevanten wie tiefschürfenden Lesart waren in Lyon bestens.
Roland H. Dippel
„Candide“ (1956/74/88) // Comic Operetta von Leonard Bernstein