Poznań / Teatr Wielki im. Stanisława Moniuszki (Dezember 2022) Eindringliche Bearbeitung von Moniuszkos „Jawnuta“
Stanisław Moniuszko, der Schöpfer der polnischen Nationaloper, bezeichnete seine „Jawnuta“, die 1852 unter dem Titel „Die Zigeuner“ in Vilnius uraufgeführt und 1860 in umgearbeiteter Form und umbenannt in Warschau Premiere hatte, als „Idyll“ oder „Operette“. Sie erzählt von der Liebe zwischen dem Roma-Mädchen Chicha und Stach, dem Spross einer bürgerlichen Familie. Mit Hilfe von Chichas Mutter Jawnuta setzt sich das Paar über gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile hinweg. Die für heutiges Empfinden bittere Pointe: Es stellt sich heraus, dass Chicha gar keine „Zigeunerin“ ist, sondern von Jawnuta als Findelkind aufgenommen wurde.
„Jawnuta“ bedient, wie viele andere literarische oder musiktheatrale Werke des 19. Jahrhunderts über das „Zigeuner“-Leben, romantisierende und folkloristische Klischees. Damit räumt Ilaria Lanzino in ihrer Inszenierung am Teatr Wielki Poznań, die aufgrund von Bauarbeiten in einem Pavillon der städtischen Messe stattfindet, gründlich auf. Sie zeigt weder Idyll noch Happy End: Stachs Vater ermordet Chicha wegen der Verbindung zu seinem Sohn. Die Regisseurin, die in Poznań 2021 bereits Moniuszkos „Straszny Dwór“ („Das Gespensterschloss“) modernisierte und für ihr Konzept den Europäischen Opernregie-Preis gewann, verknüpft die ursprüngliche Handlung mit dem historischen Leidensweg der Roma-Minderheiten und entwirft eindringliche Tableaus von Flucht und Vertreibung, kulminierend in der Deportation nach Auschwitz. Ob Zufall oder bewusst gewählt: Am 16. Dezember 1942, auf den Tag genau 80 Jahre vor der „Jawnuta“-Premiere, erteilte Heinrich Himmler mit dem sogenannten „Auschwitz-Erlass“ den Befehl zur Deportation von Sinti und Roma.
Die von Dorota Karolczak und dem Lichtdesigner Wiktor Kuźma konstruierte Lagerlandschaft ist bestückt mit herumstehenden Koffern, in der Mitte liegt ein Bahngleis. Es führt – ein beklemmender Szenenwechsel – in das Todescamp, ein zweistöckiger Aufbau, unten die Zelle, oben eine Balustrade für die Soldaten. Omnipräsent im Bühnenbild und als Muster auf den Kostümen ist die Roma-Flagge, sie steht zugleich für Stigmatisierung und Identifikation.
Was Ilaria Lanzinos schlüssige Deutung in den Rang des Besonderen hebt, ist die Miteinbeziehung von traditioneller Roma-Musik. Ohne Eingriff in die musikalische Struktur des einstündigen Zweiakters erklingen Moniuszkos originale Nummern im Wechsel mit authentischen Liedern und Tänzen, dargeboten von einer Roma-Truppe, deren Emotionalität und Kraft schier überwältigt. Im Schlussgesang vereint sie sich mit dem Opernkollektiv – Małgorzata Olejniczak-Worobiej (Chicha), Piotr Kalina (Stach) und Galina Kuklina-Kępczyńska (Jawnuta) seien stellvertretend für die stimmliche Qualität und spürbare Rollenidentifikation aller Mitwirkenden genannt – zu einer bewegenden Klage, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft mündet. Rafał Kłoczko führt beide Gruppierungen und den famosen Chor in diesem Moment souverän zusammen. Davor dirigiert er Moniuszkos volkstümliche, singspielhafte Partitur, die er selbst rekonstruiert hat, mit größter Innigkeit und Sensibilität. Ein ungewöhnlicher, unbedingt sehenswerter Opernabend.
Karin Coper
„Jawnuta“ (1852/60) // Oper von Stanisław Moniuszko in einer musikalischen Bearbeitung von Rafał Kłoczko