Keine „Aida“ mehr ohne Postkolonialismus, das scheint heute Allgemeingut der Opernregie zu sein. Man kann froh sein, wenn nicht Puppen die Rolle der äthiopischen Königstochter übernehmen wie zuletzt in Paris. An der Berliner Staatsoper sind die neuen Akzente weniger einschneidend: Eine schwarze Tänzerin steuert etwas Lokalkolorit bei, daneben wird die Kolonialgeschichte in Projektionen und stummen Handlungen gezeigt. So müssen kleine Kinder – ihre Hautfarbe muss man nicht zum Nennwert nehmen – während der Siegesfeier Frondienste leisten, wobei sie von einem Sklaventreiber in Clownsmaske mit Peitsche traktiert werden. Die Projektionen kreisen um koloniale Erinnerungen der populärsten Sorte, etwa eine Elefanten-Safari. Die Ägypter treten derweil unvermittelt als Ballgesellschaft aus dem 19. Jahrhundert auf. Sie tanzen wie berauscht, Cancan-artig zu den kolonialen Filmszenen – und natürlich zu Verdis musikalischer Siegesfeier.

Beide Elemente werden von Calixto Bieto gekonnt amalgamiert und ergeben so eine Botschaft, die irgendwie auch an das Publikum geht: Auch ihr habt an den kolonialen Untaten mitgewirkt und davon profitiert. Das führt dann vielleicht auch zu den Buhs gegen das Regieteam, das daneben eine handwerklich gute bis vorzügliche Arbeit geleistet hat, natürlich mit einigen Wacklern, etwa wenn Radamès noch im Duett mit Aida einige Äthiopier erschießen muss. Doch inhaltlich stimmt auch diese Idee gut ein auf die inneren Konflikte der Figuren zwischen den Kriegsfronten. Aber diese kleine Zumutung ist da gewesen, vielleicht eine zu viel, auch in sachlicher Hinsicht. Denn eigentlich hat „Aida“ zwar viel mit nationalen oder ethnischen Konflikten zu tun, aber eher wenig mit der europäisch-afrikanischen Kolonialgeschichte. Nicht einmal schwarz geschminkt waren die Aidas des 19. Jahrhunderts. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bieito gelingen zum Teil wahre Geniestreiche, sicher auch dank einer Amneris wie Elina Garanča, die nur aufzutreten braucht, um die Bühne zum Leben zu erwecken. Ohne Mühe verkörpert sie die einflussreiche Prinzessin, die stets mit sicherer Stimme das letzte Wort hat. Das gilt bekanntlich bis zum Schluss des Werks, an dem die Garanča dieses Mal durchaus dramengemäß einen zweifachen Todesengel spielen darf. Auf gleichem Niveau singt und spielt René Pape, der als Oberpriester Ramphis wie das Licht der Wahrheit durch die teils tumultuarische Handlung stolziert.

Nicola Luisotti führt die Staatskapelle Berlin elegant in gedeckten Farben, fast körperlos rein, temporeich und manchmal etwas trocken, nur ab und zu darf der Klang üppig und ausladend werden. Deutlich wird so seine eminente Kennerschaft bei der Gestaltung von musikalischer Vorbereitung und Steigerung über weite Strecken. Ein wenig mehr Schmelz und Evasion ins Ariose würde den Sängern und dem Publikum aber guttun.

Das Bühnenbild (Rebecca Ringst) ist ein fast bis zuletzt einheitlicher Saal in Lackweiß mit einigen Fächern und einziehbaren Ebenen, der abwechslungsreich, mit Lichtstimmungen von Silber über Glanzgold bis Gleißend-Weiß (noch so eine kleine Zumutung), bespielt wird. Genial, wie der religiöse Ptah-Chor als Waffenweihe und folglich als Gesang der ins Feld ziehenden Soldaten – samt Todessschauer in der Lebensfeier – aufgefasst ist.

Yusif Eyvazov bietet als Radamès von Beginn an eine Vielfalt an Klangcharakteren, vom kehligen Leidensmann – besonders im packenden Finalduett mit Amneris – bis zur himmelblauen Tenorhöhe, und artikuliert vor allem in den Ensembles einmalig klar. Marina Rebeka gibt ihr Rollendebüt und gestaltet eine Aida, die nicht ozeanisch zerfließt, sondern mit kompakt gerundetem Klang und Verve am Drama teilnimmt. Gabriele Viviani ist ein Amonasro aus dem Bilderbuch, mit dunkler Tinta und Tragfähigkeit. Er und die Aida sind nicht dunkel geschminkt, und das stört kein bisschen bei der Auffassung des Dramas.

Matthias Nikolaidis

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi