Registrierung
Kategorie

Rezensionen 2023/06

Verheißung, groß wie Walhall

London / Royal Opera House (September 2023)
Antonio Pappano und Barrie Kosky beginnen einen neuen „Ring“

London / Royal Opera House (September 2023)
Antonio Pappano und Barrie Kosky beginnen einen neuen „Ring“

Die Weltesche hat mindestens einen Weltenbrand schon hinter sich, wenn das mythische, 136 Takte dauernde „Es“ zum Vorspiel des „Rheingold“ anhebt. Ihr Skelett ragt in den Bühnenhimmel, die Rheintöchter trällern darauf arglos ihr „Wagala Weia“ über weia wag, den Heiligen Fluss. Die Urmutter Erda beobachtet sie dabei, ist überhaupt über die gesamten zweieinhalb Stunden auf der Bühne. Sie sieht zu, leidet, wird in Nibelheims Goldgewinnungs-Anlage des Zwerges Alberich fürchterlich gequält und ruft – natürlich – gegen Ende den Göttervater Wotan zur Vernunft, als er den verfluchten Ring nicht hergeben will. Doch der Reihe nach.

In seiner letzten Spielzeit als Chefdirigent und Spiritus Rector des Royal Opera House in Covent Garden hat Antonio Pappano eine Neuproduktion von Wagners „Ring des Nibelungen“ begonnen, dessen drei weitere Teile ihn in den kommenden Jahren immer wieder zurückbringen werden nach London. Als Regisseur für das Unterfangen hat er Barrie Kosky angeheuert, den aktuellen Superstar der Musiktheaterregie. Aus seinem ersten „Ring“ in Hannover, den Kosky rückblickend kritisch sieht, hat der die uralte, nackte Erda übernommen. Sonst ist alles neu an diesem „Rheingold“, und, man kann es nicht anders sagen: Es ist fantastisch, überwältigend, schlüssig, gewitzt, intelligent, bildmächtig, unübertrefflich.

Wie verwandelt Alberich sich qua Tarnhelm in einen Drachen und in eine Kröte? Wie wird er gefangen genommen von Wotan, der ihm, dem Dieb des Rheingoldes, ja nur seinerseits stiehlt, was ihm nicht gehört, nämlich den Ring? Derlei Bilder-Aufgaben im „Rheingold“ wirken oft peinlich oder bemüht – hier ist das alles logisch, bisweilen erscheint es zwingend richtig so. Die erwähnte verkohlte Weltesche ist auch Schauplatz der weiteren drei Bilder des Stückes (Bühne: Rufus Didwiszus). Lavahaft fließt aus einem Astloch das Gold, wird im Nibelheim-Bild mit Hilfe einer kalten Maschine und der an Schläuche angeschlossenen Erda aus ihr mit blanker Gewalt herausgezwungen.

Die Figur der Erda berührt, doch das gilt ausnahmslos für alle auf der Bühne. Sie seien, so steht es im Programmheft, nach ihren sängerischen ebenso wie nach ihren darstellerischen Fähigkeiten ausgewählt worden, und das ist in jeder Sekunde zu sehen und zu spüren (und das nicht nur, weil man jedes Wort versteht). Christopher Maltman (Wotan) strahlt stimmlich und szenisch Autorität aus, fehlbar, gütig und mit verkohltem Speer. Christopher Purves’ Alberich glaubt man schon nach der ersten Szene, dass die deftige Demütigung durch die drei Rheintöchter (brillant: Katharina Konradi, Niamh O’Sullivan, Marvic Monreal) ihn zum Tyrannen machen wird. Sean Panikkar (Loge) platzt auch stimmlich vor Spielfreude. Marina Prudenskayas Fricka ist so kapriziös wie liebend – man ahnt bereits hier, dass sie die großen Ehekräche wie den in der „Walküre“ im nächsten Jahr gewinnen wird. Und auf Brenton Ryans größere Mime-Partie im „Siegfried“ darf man sich auch jetzt schon freuen.

Pappano spornt das Orchester des Royal Opera House zu einer dort nicht immer hörbaren Perfektion und Transparenz an. Er verzichtet dabei auf jedes romantisierende Fett, der Klang aus dem Graben ist sprechend, sehnig, ausbalanciert – das ist internationale Klasse. Folgerichtig bekommen die Musikerinnen und Musiker beim Schlussapplaus auf der Bühne einen großen, verdienten Teil der Ovationen ab. Antonio Pappano und Barrie Kosky haben mit diesem „Rheingold“ nicht weniger in die Welt gesetzt als die Verheißung, hier den Referenz-Ring der Gegenwart zu schmieden.

Stephan Knies

„Das Rheingold“ (1869) // Vorabend zum Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Royal Opera House

Sterben lernen

Mönchengladbach / Theater Krefeld und Mönchengladbach (September 2023)
Verdi-Fortschreibung im Weltkriegsbunker: „Aida – der fünfte Akt“

Mönchengladbach / Theater Krefeld und Mönchengladbach (September 2023)
Verdi-Fortschreibung im Weltkriegsbunker: „Aida – der fünfte Akt“

Am Ende von Verdis „Aida“ steht der sichere Tod. Lebendig begraben in der Felsengruft, einander unendlich nah, aber auch unweigerlich ausgeliefert: Was macht das mit zwei Liebenden? Bewahren sie sich ihre Menschlichkeit oder verlieren sie sich letztlich doch in blinder, panischer Zerstörungswut? Der Opernklassiker reißt an dieser Stelle ab. Stefan Heucke (*1959) aber treibt dieses Gedankenspiel seit seiner Jugend um. Im Auftrag des Theaters Krefeld und Mönchengladbach hat der 2006 hier mit seinem Werk „Das Frauenorchester von Auschwitz“ überregional kontrovers diskutierte Komponist diese Stoffidee jetzt als 70-minütige Kammeroper realisiert: „Aida – der fünfte Akt“.

Einen stimmigeren Uraufführungsort als den Bunker Güdderath kann man sich für das Setting nicht vorstellen. Der Weltkriegsbau im Süden Mönchengladbachs ist seit 2019 Schauplatz des privat gestemmten und in diesem Fall koproduzierenden Festivals Herbstzeitlose. „Die Bunker sind die Pyramiden des 20. Jahrhunderts“, meint Hausherr Bernhard Petz zur Begrüßung im beklemmend erdrückenden Veranstaltungsraum. Knapp 150 Jahre nach der Uraufführung der Verdi-Oper stellt sich die Frage „Pomp oder Kammerspiel?“ einmal nicht: „Die Steine werden uns fressen und verdauen.“ Die Grabeskälte ist omnipräsent.

Eine Produktion wie diese steht und fällt mit ihren Protagonisten. Mit Eva Maria Günschmann und Rafael Bruck bietet das Theater zwei Kräfte aus dem eigenen Ensemble auf, denen Heucke die Marathon-Partien auf den Leib geschneidert hat: zwei Magneten, die sich abstoßen, anziehen, abstoßen, nirgendwo anders mehr hin können. Günschmann durchlebt das mit dramatischen, hohen Ausbrüchen am laufenden Band, mit schneidender Schärfe und immer wieder auch tiefergelegten Momenten, die bis zum Bersten überlaufen mit dem Unaussprechlichen. Der Radamès gelingt Bruck ebenso plastisch, atmosphärisch, vielschichtig, exzellent textverständlich. Heuckes Entscheidung für Mezzosopran und Bariton erweist sich dabei als goldrichtig, der „fünfte Akt“ gewinnt umso mehr eigenen Boden abseits der klassischen „Liebes-Stimmfächer“ des 19. Jahrhunderts.

Doch es gibt da noch einen dritten Protagonisten: die Kammer mit ihren rohen Wänden, die den rasenden Veitstanz im Angesicht des Todes unerbittlich befeuert. Dennis Krauß, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, weiß die Kulisse mit einfachen Mitteln gekonnt zu bespielen. Konzentrierte Schauspielkunst und ein schräges Podest, später zum Gerippe dekonstruiert – mehr braucht es nicht, um dem Geschehen psychologische Statur zu geben. Der Traum von einer eigenen Familie, das aggressive Aufeinanderprallen zweier von klein auf eingeimpfter Staatsdoktrinen, die Utopie einer besseren Welt, eine letzte Liebesvereinigung, die Schuldfrage, das quälend langsame Verenden: Mit jeder Faser schreien Aida und Radamès nach Leben, und mit jeder Faser sind sie dem Tode geweiht. Ralph Köhnen hat dafür ein suggestives deutsches Libretto geschrieben, das nur manchmal etwas übers Ziel hinausschießt („Der Rest ist Grammatik“).

Die Gruft und ihre in sich eingemauerten Seelen werden ohnehin über die Musik erst so richtig nahbar. Ein siebenköpfiges Ensemble – Klarinette, Fagott, Horn, drei Streicher und Klavier – lässt Verdi-Zitate anklingen, sich weiterspinnen und melodiös verfremden, entwickelt unter der Leitung von Giovanni Conti aber auch eine ganz eigene Klangsprache, in der die Grabkammer bleiern pulsiert und Halluzinationen (Amneris’ Schreie) schmerzhaft irrlichtern.

Ganz am Ende scheint plötzlich ein Funken Licht durch die finstere Dachluke. Ein schöner Traum? Auf jeden Fall zu spät.

Florian Maier

„Aida – der fünfte Akt“ (2023) // Kammeroper von Stefan Heucke

Infos und Termine auf der Website des Theaters Krefeld und Mönchengladbach

Aussichtslos

Bochum / Ruhrtriennale (August 2023)
Janáčeks „Totenhaus“ als immersive Bühneninstallation

Bochum / Ruhrtriennale (August 2023)
Janáčeks „Totenhaus“ als immersive Bühneninstallation

Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ ist eigentlich ein Blick in den Abgrund der menschlichen Existenz, schon wegen Fjodor Dostojewskis auf eigener Verbannungserfahrung beruhender Roman-Vorlage. Ein Alterswerk der Moderne, weg von der klassischen Opernstruktur.

Es gehört zu den Vorzügen der neuen Ruhrtriennale-Produktion, dass Dmitri Tcherniakov der Versuchung widersteht, plakativ ein real existierendes sibirisches Gefangenenlager zu illustrieren. Er konzentriert sich aufs Exemplarische. Mit seiner selbst gestalteten Raumsituation reißt er vor allem die vierte Wand ein, um daraus ein Plus an Wirkung zu erzielen. Doch die mit üppigen Gerüst-Konstrukten als Gefängnis ausgestattete Jahrhunderthalle Bochum ist am Ende doch nur eine sehr große Spielfläche mit am Rand und auf drei Galerien verteilten Stehplatz-Möglichkeiten für die Zuschauer.

Die Technik in der Halle ist so ausgefeilt, dass sich das suggestive Janáček-Charisma im Raum verteilt und ausbreitet. Von ihrem kaum einzusehenden Platz an der Längsseite der Halle machen Dennis Russell Davies und die Bochumer Symphoniker ihre Sache großartig.

Die distanzlose Nähe zu den Protagonisten, dem Chor des Nationaltheaters Brno samt der darunter gemischten Stunt-Männer macht die Musik dennoch streckenweise zum Hintergrund-Sound. Diese Nähe vermittelt zwar Intensität der Darstellung. Aber man sieht nicht wirklich Elend, sondern wie man so etwas spielt. Man kann zwar beschließen, betroffen zu sein – aber es ist wohl doch mehr die Faszination einem Kunstwerk gegenüber, das im besten Falle auf Umwegen Empathie hervorruft. Wobei sich selbst die in Grenzen hält, wenn der Hauptinhalt der Oper vor allem anekdotisch servierte Verbrechen sind.

Was Tcherniakov bietet, ist ein Blick in den Spiegel von Möglichkeiten und Gefährdungen des Menschen, weniger in den sprichwörtlichen Abgrund Mensch. Der in 100 Minuten im wahrsten Wortsinn durchzustehende Abend bietet neben den Episoden auch dosierte szenische Aktion. Zum Auftakt eine Explosion der Bewegung der Gefangenen, die mal an die Luft dürfen und sich dabei kindisch ausgelassen benehmen. Der Neuzugang eines Gefangenen aus besseren Kreisen ist für sie ebenso eine willkommene Abwechslung wie das Theaterspiel oder die Gewaltausbrüche. Es ist eine Oper ohne Hauptdarsteller, wenn man mal vom Orchester absieht. Einige ragen dennoch mit ihrer vokalen Präsenz und Spielfreude heraus: von John Daszak (Skuratov) über Stephan Rügamer (Luka) bis zu Leigh Melrose (Šiškov) oder Neil Shicoff in der Rolle des Alten. Dem angeblich politischen Gefangenen aus besseren Kreisen, Gorjančikov (Johan Reuter), verweigert Tcherniakov die Entlassung. Sie bleibt hier eine Illusion.

Fazit: ein interessanter Versuch, aus einer direkteren Begegnung mit einem herausragenden Werk emotionalen Mehrwert zu ziehen. Zu einer wirklich neuen Dimension der Betroffenheit reicht das aber nicht.

Roberto Becker

„Z mrtvého domu“ („Aus einem Totenhaus“) (1930 posthum) // Oper von Leoš Janáček

Infos und Termine auf der Website der Ruhrtriennale