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Rezensionen 2023/06

Sterben lernen

Mönchengladbach / Theater Krefeld und Mönchengladbach (September 2023)
Verdi-Fortschreibung im Weltkriegsbunker: „Aida – der fünfte Akt“

Mönchengladbach / Theater Krefeld und Mönchengladbach (September 2023)
Verdi-Fortschreibung im Weltkriegsbunker: „Aida – der fünfte Akt“

Am Ende von Verdis „Aida“ steht der sichere Tod. Lebendig begraben in der Felsengruft, einander unendlich nah, aber auch unweigerlich ausgeliefert: Was macht das mit zwei Liebenden? Bewahren sie sich ihre Menschlichkeit oder verlieren sie sich letztlich doch in blinder, panischer Zerstörungswut? Der Opernklassiker reißt an dieser Stelle ab. Stefan Heucke (*1959) aber treibt dieses Gedankenspiel seit seiner Jugend um. Im Auftrag des Theaters Krefeld und Mönchengladbach hat der 2006 hier mit seinem Werk „Das Frauenorchester von Auschwitz“ überregional kontrovers diskutierte Komponist diese Stoffidee jetzt als 70-minütige Kammeroper realisiert: „Aida – der fünfte Akt“.

Einen stimmigeren Uraufführungsort als den Bunker Güdderath kann man sich für das Setting nicht vorstellen. Der Weltkriegsbau im Süden Mönchengladbachs ist seit 2019 Schauplatz des privat gestemmten und in diesem Fall koproduzierenden Festivals Herbstzeitlose. „Die Bunker sind die Pyramiden des 20. Jahrhunderts“, meint Hausherr Bernhard Petz zur Begrüßung im beklemmend erdrückenden Veranstaltungsraum. Knapp 150 Jahre nach der Uraufführung der Verdi-Oper stellt sich die Frage „Pomp oder Kammerspiel?“ einmal nicht: „Die Steine werden uns fressen und verdauen.“ Die Grabeskälte ist omnipräsent.

Eine Produktion wie diese steht und fällt mit ihren Protagonisten. Mit Eva Maria Günschmann und Rafael Bruck bietet das Theater zwei Kräfte aus dem eigenen Ensemble auf, denen Heucke die Marathon-Partien auf den Leib geschneidert hat: zwei Magneten, die sich abstoßen, anziehen, abstoßen, nirgendwo anders mehr hin können. Günschmann durchlebt das mit dramatischen, hohen Ausbrüchen am laufenden Band, mit schneidender Schärfe und immer wieder auch tiefergelegten Momenten, die bis zum Bersten überlaufen mit dem Unaussprechlichen. Der Radamès gelingt Bruck ebenso plastisch, atmosphärisch, vielschichtig, exzellent textverständlich. Heuckes Entscheidung für Mezzosopran und Bariton erweist sich dabei als goldrichtig, der „fünfte Akt“ gewinnt umso mehr eigenen Boden abseits der klassischen „Liebes-Stimmfächer“ des 19. Jahrhunderts.

Doch es gibt da noch einen dritten Protagonisten: die Kammer mit ihren rohen Wänden, die den rasenden Veitstanz im Angesicht des Todes unerbittlich befeuert. Dennis Krauß, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, weiß die Kulisse mit einfachen Mitteln gekonnt zu bespielen. Konzentrierte Schauspielkunst und ein schräges Podest, später zum Gerippe dekonstruiert – mehr braucht es nicht, um dem Geschehen psychologische Statur zu geben. Der Traum von einer eigenen Familie, das aggressive Aufeinanderprallen zweier von klein auf eingeimpfter Staatsdoktrinen, die Utopie einer besseren Welt, eine letzte Liebesvereinigung, die Schuldfrage, das quälend langsame Verenden: Mit jeder Faser schreien Aida und Radamès nach Leben, und mit jeder Faser sind sie dem Tode geweiht. Ralph Köhnen hat dafür ein suggestives deutsches Libretto geschrieben, das nur manchmal etwas übers Ziel hinausschießt („Der Rest ist Grammatik“).

Die Gruft und ihre in sich eingemauerten Seelen werden ohnehin über die Musik erst so richtig nahbar. Ein siebenköpfiges Ensemble – Klarinette, Fagott, Horn, drei Streicher und Klavier – lässt Verdi-Zitate anklingen, sich weiterspinnen und melodiös verfremden, entwickelt unter der Leitung von Giovanni Conti aber auch eine ganz eigene Klangsprache, in der die Grabkammer bleiern pulsiert und Halluzinationen (Amneris’ Schreie) schmerzhaft irrlichtern.

Ganz am Ende scheint plötzlich ein Funken Licht durch die finstere Dachluke. Ein schöner Traum? Auf jeden Fall zu spät.

Florian Maier

„Aida – der fünfte Akt“ (2023) // Kammeroper von Stefan Heucke

Infos und Termine auf der Website des Theaters Krefeld und Mönchengladbach

Hochstapler und Verwechslungen

Bielefeld / Theater Bielefeld (September 2023)
Musical-Swing mit dem „Mann, der Sherlock Holmes war“

Bielefeld / Theater Bielefeld (September 2023)
Musical-Swing mit dem „Mann, der Sherlock Holmes war“

Eigentlich könnte alles so schön sein – wenn die beschäftigungslosen Privatdetektive Morris Flynn (Markus Schneider) und Mackie McMacpherson (Merlin Fargel) nur am Londoner Verbrechensboom partizipieren könnten. Während der ersten Nummer des Musicals „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ werden reihenweise Verbrechen aller Art vorgeführt, aber niemand begehrt Aufklärung oder Lösung eines Falles von den beiden. Die „rettende Idee“: Sie verkleiden sich als Sherlock Holmes und Dr. Watson und reisen hoffnungsvoll zur Weltausstellung nach Brüssel. Mit im Nachtzug: Jane (Karen Müller) und Mary Berry (Charlotte Katzer). Die Geschwister arbeiten in einer Näherei – Ausbeutung pur, das stilisierte große Zahnrad hinter ihnen verdeutlicht es. Doch dann die unverhoffte Nachricht: Ihr ihnen bis dahin nur nebulös bekannter Onkel, Professor Raymond Berry, hat ihnen ein Schloss und viel Geld vererbt. Das Erbe kann in Brüssel angetreten werden. Doch da gibt es auch noch die Ganoven Jacques (Nikolaj Alexander Brucker) und Jules (Alexander von Hugo), die, egal welchen Auftrag ihrer Chefin (Cornelie Isenbürger) sie auch ausführen sollen, diesen vermasseln …

Damit sind die Turbulenzen programmiert. Marc Schubring (Musik) und Wolfgang Adenberg (Buch und Liedtexte) halten sich ziemlich eng an die Vorlage des gleichnamigen Films aus dem Jahr 1937. Was leider gelegentliche Seichtigkeiten nicht verdeckt. Während die Herrenrollen großzügig und opulent ausgestattet sind und von der Regie auch dementsprechend gut bedient werden, sind die Frauenrollen im Buch eher schwach ausgeführt. Die Tanz- wie die Step-Einlagen der Geschwister Jane und Mary versöhnen mit den dürftigen Texten (Choreografie: Yara Hassan und Alexander von Hugo). Szenenbeifall gibt es immer wieder, aber nicht nur für sie. Cornelie Isenbürger als düstere Madame Ganymare überrascht mit sadistischen Neigungen in Lack und Leder. In der grotesk überzogenen Folterszene befürchtet „Sherlock Holmes“ schon sein letztes Stündlein, „Watson“ befreit ihn heldenhaft. Die beiden Duos Holmes-Watson und Jacques-Jules nutzen also ihre Vorlagen gekonnt. Sie tanzen, singen, spielen mit großer Leichtigkeit und gutem Material.

Schubrings Musik zitiert immer wieder den Swing der 1930er Jahre. Er kann auch den Hang zum Ohrwurm nicht verleugnen: Sowie „Sherlock Holmes“ „erkannt“ wird, wird er in einem aufsteigenden, schwärmerischen Dreiklang genannt. Und wenn sein Adlatus „Watson“ ängstlich ist, singt er „Das geht schief“ im gleichen Dreiklang, der dann aber ein wenig härter rüberkommt. Und mit den gleichen Worten auch bei Mary auftaucht, wenn ihr Unheil schwant.

Die musikalische Leitung ist bei William Ward Murta, bis vor Kurzem Leiter der Musicalsparte am Bielefelder Theater, in besten Händen. Der verspätete Beginn der besuchten Vorstellung hat mit dem plötzlichen Ausfall eines Orchestermitglieds und der entsprechenden Umgruppierung im Graben zu tun. Murta arrangiert, den Ausfall überdeckend, unhörbar neu. Einziges Manko: Die Bielefelder Philharmoniker sind entschieden zu laut. Es gibt Szenen, in denen die Künstler auf der Bühne fast nicht zu hören sind.

Ein großes Lob an Ausstatterin Britta Tönne. Eine Drehung der Bühne um 180 Grad und man sieht entweder Hotel- oder Eisenbahnszenerie, Industrie- bzw. Hotel- oder Ausstellungshalle. Die Belebung der Bühnenbilder durch den Opernchor setzt Regisseurin Sandra Wissmann immer wieder gekonnt und abwechslungsreich um.

Ulrich Schmidt

„Der Mann, der Sherlock Holmes war“ (2009) // Musical von Marc Schubring (Musik) und Wolfgang Adenberg (Buch und Liedtexte)

Infos und Termine auf der Website des Theaters Bielefeld

Klangfarben allein?

Schwerin / Mecklenburgisches Staatstheater (September 2023)
Puccinis „La Bohème“ versinkt im belanglosen Nirgendwo

Schwerin / Mecklenburgisches Staatstheater (September 2023)
Puccinis „La Bohème“ versinkt im belanglosen Nirgendwo

… und leise rieselt der Schnee: Mag draußen das Thermometer auch nochmal die 30-Grad-Marke knacken und die Menschen ins kühle Nass treiben, im Schweriner Theater herrscht tiefer Winter und die Darsteller suchen Zuflucht in den heimischen vier Wänden. Schließlich eröffnet der Opernklassiker „La Bohème“ die neue Spielzeit am Mecklenburgischen Staatstheater, und da braucht es nun einmal Kälte-Bilder und Tristesse – selbst wenn Noa Naamats Inszenierung ansonsten nur noch wenig mit der ursprünglichen Szenerie zu tun hat. Zugegeben, Puccinis Geschichte des lebenshungrigen Künstlerquartetts samt frierender Mimì in Mansarden-Schwermut wohnt eine gewisse Neigung zum Kitsch inne. Doch ist es da wirklich konsequent, den Vierakter in eine von Metall und Lichtrahmen dominierte Architektur zu verlegen und aus dem Artisten-Kleeblatt vier Gestalten zwischen Haltlosigkeit und brotloser Kunst zu machen?

Kein schönes Stück, schon gar kein Rührstück oder eine weitere Liebesgeschichte will die israelische Regisseurin erzählen, stattdessen ein Plädoyer für die Kunst in dieser tristen Welt des Kapitalismus halten. Nur leider fehlt es Naamat dann doch an stringentem Konzept, um zu überzeugen. Die Bühne (Thilo Ullrich) und die düsteren Garderoben samt Sonnenbrillen (Charlotte Werkmeister) erinnern eher an Momo und die grauen Herren. Aus dem Café Momus wird eine stylish-unterkühlte Bar, auf deren Tresen eine in silberne Korsage und hüfthohe Stiefel gewandete Domina-Musetta (Augen- und Ohrenweide: Morgane Heyse) tanzt und sich nehmen lässt. Und statt des Gasthofs an der Zollschranke gibt’s im Großen Haus ein zweitklassiges Bordell samt gelangweilten Pole-Dancerinnen am Eingang. Warum Musetta und ihr Graffiti-Sprayer Marcello (kraftvoller Sympathieträger: Brian Davis) ausgerechnet hier landen müssen, scheint ebenso willkürlich wie Collines (Young Kwon) Knipserei, die so gar nichts mit Fotokunst zu tun hat.

Unbeeinträchtigt davon schwebt Cornelia Zinks Mimì gleichsam über all dieser Seelenlosigkeit, geschmeidig und voll feiner Kantabilität singt sie ohne jede Tränendrüsen-Reizung. Und das, obwohl ihr Liebhaber Rodolfo nicht gerade ein Ausbruch an Gefühlen ist. Denn Konstantin Lee fehlen einfach die darstellerischen Feinheiten für diese tragische Story, mag er stimmlich auch immer wieder mal durch Glanz und Farbigkeit berühren. Ganz anders die Mecklenburgische Staatskapelle unter Levente Török, der mit seinem Dirigat einem sehr sensiblen, ja bisweilen zärtlichen Puccini nachspürt, ohne darüber den Emotionsgehalt der Musik und die großen Höhepunkte zu vergessen. Voller Leidenschaft steuert er die emphatischen, lyrisch-dramatischen Aufschwünge der Liebesszenen an, beweist für des Komponisten metrisch und rhythmisch oft frei pulsierendes Melos ebenso Gespür wie für die raffinierten Instrumentalfarben.

Ohne Kunst sei die Welt ohne Farben und Gefühle, hatte Naamat vorab ihr Konzept skizziert. Doch anders als die Musik sorgen in ihrer Regie selbst magentafarbene Baskenmütze und Sprayer-Arbeiten am Ende für keine bleibenden Inszenierungs-Eindrücke.

Christoph Forsthoff

„La Bohème“ (1896) // Oper von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Mecklenburgischen Staatstheaters

Aussichtslos

Bochum / Ruhrtriennale (August 2023)
Janáčeks „Totenhaus“ als immersive Bühneninstallation

Bochum / Ruhrtriennale (August 2023)
Janáčeks „Totenhaus“ als immersive Bühneninstallation

Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ ist eigentlich ein Blick in den Abgrund der menschlichen Existenz, schon wegen Fjodor Dostojewskis auf eigener Verbannungserfahrung beruhender Roman-Vorlage. Ein Alterswerk der Moderne, weg von der klassischen Opernstruktur.

Es gehört zu den Vorzügen der neuen Ruhrtriennale-Produktion, dass Dmitri Tcherniakov der Versuchung widersteht, plakativ ein real existierendes sibirisches Gefangenenlager zu illustrieren. Er konzentriert sich aufs Exemplarische. Mit seiner selbst gestalteten Raumsituation reißt er vor allem die vierte Wand ein, um daraus ein Plus an Wirkung zu erzielen. Doch die mit üppigen Gerüst-Konstrukten als Gefängnis ausgestattete Jahrhunderthalle Bochum ist am Ende doch nur eine sehr große Spielfläche mit am Rand und auf drei Galerien verteilten Stehplatz-Möglichkeiten für die Zuschauer.

Die Technik in der Halle ist so ausgefeilt, dass sich das suggestive Janáček-Charisma im Raum verteilt und ausbreitet. Von ihrem kaum einzusehenden Platz an der Längsseite der Halle machen Dennis Russell Davies und die Bochumer Symphoniker ihre Sache großartig.

Die distanzlose Nähe zu den Protagonisten, dem Chor des Nationaltheaters Brno samt der darunter gemischten Stunt-Männer macht die Musik dennoch streckenweise zum Hintergrund-Sound. Diese Nähe vermittelt zwar Intensität der Darstellung. Aber man sieht nicht wirklich Elend, sondern wie man so etwas spielt. Man kann zwar beschließen, betroffen zu sein – aber es ist wohl doch mehr die Faszination einem Kunstwerk gegenüber, das im besten Falle auf Umwegen Empathie hervorruft. Wobei sich selbst die in Grenzen hält, wenn der Hauptinhalt der Oper vor allem anekdotisch servierte Verbrechen sind.

Was Tcherniakov bietet, ist ein Blick in den Spiegel von Möglichkeiten und Gefährdungen des Menschen, weniger in den sprichwörtlichen Abgrund Mensch. Der in 100 Minuten im wahrsten Wortsinn durchzustehende Abend bietet neben den Episoden auch dosierte szenische Aktion. Zum Auftakt eine Explosion der Bewegung der Gefangenen, die mal an die Luft dürfen und sich dabei kindisch ausgelassen benehmen. Der Neuzugang eines Gefangenen aus besseren Kreisen ist für sie ebenso eine willkommene Abwechslung wie das Theaterspiel oder die Gewaltausbrüche. Es ist eine Oper ohne Hauptdarsteller, wenn man mal vom Orchester absieht. Einige ragen dennoch mit ihrer vokalen Präsenz und Spielfreude heraus: von John Daszak (Skuratov) über Stephan Rügamer (Luka) bis zu Leigh Melrose (Šiškov) oder Neil Shicoff in der Rolle des Alten. Dem angeblich politischen Gefangenen aus besseren Kreisen, Gorjančikov (Johan Reuter), verweigert Tcherniakov die Entlassung. Sie bleibt hier eine Illusion.

Fazit: ein interessanter Versuch, aus einer direkteren Begegnung mit einem herausragenden Werk emotionalen Mehrwert zu ziehen. Zu einer wirklich neuen Dimension der Betroffenheit reicht das aber nicht.

Roberto Becker

„Z mrtvého domu“ („Aus einem Totenhaus“) (1930 posthum) // Oper von Leoš Janáček

Infos und Termine auf der Website der Ruhrtriennale