Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ ist eigentlich ein Blick in den Abgrund der menschlichen Existenz, schon wegen Fjodor Dostojewskis auf eigener Verbannungserfahrung beruhender Roman-Vorlage. Ein Alterswerk der Moderne, weg von der klassischen Opernstruktur.

Es gehört zu den Vorzügen der neuen Ruhrtriennale-Produktion, dass Dmitri Tcherniakov der Versuchung widersteht, plakativ ein real existierendes sibirisches Gefangenenlager zu illustrieren. Er konzentriert sich aufs Exemplarische. Mit seiner selbst gestalteten Raumsituation reißt er vor allem die vierte Wand ein, um daraus ein Plus an Wirkung zu erzielen. Doch die mit üppigen Gerüst-Konstrukten als Gefängnis ausgestattete Jahrhunderthalle Bochum ist am Ende doch nur eine sehr große Spielfläche mit am Rand und auf drei Galerien verteilten Stehplatz-Möglichkeiten für die Zuschauer.

Die Technik in der Halle ist so ausgefeilt, dass sich das suggestive Janáček-Charisma im Raum verteilt und ausbreitet. Von ihrem kaum einzusehenden Platz an der Längsseite der Halle machen Dennis Russell Davies und die Bochumer Symphoniker ihre Sache großartig.

Die distanzlose Nähe zu den Protagonisten, dem Chor des Nationaltheaters Brno samt der darunter gemischten Stunt-Männer macht die Musik dennoch streckenweise zum Hintergrund-Sound. Diese Nähe vermittelt zwar Intensität der Darstellung. Aber man sieht nicht wirklich Elend, sondern wie man so etwas spielt. Man kann zwar beschließen, betroffen zu sein – aber es ist wohl doch mehr die Faszination einem Kunstwerk gegenüber, das im besten Falle auf Umwegen Empathie hervorruft. Wobei sich selbst die in Grenzen hält, wenn der Hauptinhalt der Oper vor allem anekdotisch servierte Verbrechen sind.

Was Tcherniakov bietet, ist ein Blick in den Spiegel von Möglichkeiten und Gefährdungen des Menschen, weniger in den sprichwörtlichen Abgrund Mensch. Der in 100 Minuten im wahrsten Wortsinn durchzustehende Abend bietet neben den Episoden auch dosierte szenische Aktion. Zum Auftakt eine Explosion der Bewegung der Gefangenen, die mal an die Luft dürfen und sich dabei kindisch ausgelassen benehmen. Der Neuzugang eines Gefangenen aus besseren Kreisen ist für sie ebenso eine willkommene Abwechslung wie das Theaterspiel oder die Gewaltausbrüche. Es ist eine Oper ohne Hauptdarsteller, wenn man mal vom Orchester absieht. Einige ragen dennoch mit ihrer vokalen Präsenz und Spielfreude heraus: von John Daszak (Skuratov) über Stephan Rügamer (Luka) bis zu Leigh Melrose (Šiškov) oder Neil Shicoff in der Rolle des Alten. Dem angeblich politischen Gefangenen aus besseren Kreisen, Gorjančikov (Johan Reuter), verweigert Tcherniakov die Entlassung. Sie bleibt hier eine Illusion.

Fazit: ein interessanter Versuch, aus einer direkteren Begegnung mit einem herausragenden Werk emotionalen Mehrwert zu ziehen. Zu einer wirklich neuen Dimension der Betroffenheit reicht das aber nicht.

Roberto Becker

„Z mrtvého domu“ („Aus einem Totenhaus“) (1930 posthum) // Oper von Leoš Janáček

Infos und Termine auf der Website der Ruhrtriennale