Zum Eintritt ein Lächeln. Lisa Heinrici, Schauspielerin, knautscht sich bäuchlings in einen Haufen überdimensionaler, molekülblauer Polster. Die Nervenzellen voller Styroporkügelchen sind Kuschelobjekte, bewegliche Bühnenbildteile (Hanna Naske, Marie Gimpel) und Kostüme (Filo Krause) zugleich. Lisa Heinrici lächelt, als sei sie gerade frisch durchgekuschelt, als wäre ihr Oxytocinspiegel bis zur Oberkante aufgefüllt.

75 Minuten später wird der Musiktheaterabend „Dein Oxy“, von einem Team um Lisa Florentine Schmalz, uns zu einem ebenso breiten Lächeln und tosendem Applaus verführt haben. Im Grunde ist das Stück ein Lösungsversuch: Es gilt, das starre Bild der Mutter zu lockern. Das schlummert hinter einer Barrikade der Unantastbarkeit, gestapelt aus Ur-Vorstellungen über die Frau, gefestigt mit biologistischen Argumenten hormoneller Determination und bekleistert mit dem Satz „Das ist natürlich, denn das war schon immer so“.

Eine Frau ist notwendigerweise irgendwann eine Mutter (sie möchte das auch) und eine Mutter ist notwendigerweise eine Frau (sie kümmert sich auch). „Dein Oxy“ löst die Stereotype in einer Vielzahl von Mutter- und Elternschaftskonzepten auf. Sängerin Lisa Florentine Schmalz und Schauspielerin Lisa Heinrici wanken in ihren Synapsen-Suits aufeinander zu und zählen auf: „Ich bin eine Frau, die ein Kind bekommt. Ich bin eine Frau, die keine Kinder bekommen möchte. Ich bin eine Mutter, die nicht als Frau gelesen wird. Ich bin eine Mutter, die keine Kinder (mehr) hat …“

Librettistin Pauline Jacob und Dramaturgin Sina Dotzert schreiben und Kerstin Steeb inszeniert die kollektiven Blickwinkel des Produktionsteams. Gemeinsam kreieren sie einen Raum, der zwischen Selbstdefinitionen und Schicksalsschlägen so viel Repräsentation zulässt wie sonst nur wenige. „You Make Me Feel Like A Natural Woman“, so das Ziel des Abends und eine der musikalischen Nummern des Stückes – gesungen von Cymin Samawatie, musikalische Leiterin und Pianistin, und kunstvoll harmonisiert von Lisa Florentine Schmalz.

Wer sich nicht im Mutter-Oxy fühlt, der oder die kennt das Hormon von anderen Berührungen. Vom kindlichen Kuscheln mit Tiergeschichten, von freundschaftlichen Umarmungen, selbst beim Singen wird Oxytocin ausgeschüttet. Wenn Sopranistin Lisa Florentine Schmalz mit nahbarer, wohlartikulierter Stimme die Oxytocin-Arie singt (darin präsentiert das personifizierte Oxytocin seine Wirkungsbereiche), strömt ihr Gesangs-Oxy bis ins Publikum. Klarheit ohne Banalität, das ist der entscheidende Kuschelfaktor des Stückes.

Die musikalische Leiterin Cymin Samawatie unterscheidet nicht zwischen Genres. Ein Chor aus Keuchern wird zu einem a-cappella-Popsong, wird zur atonalen Klarinettenmelodie, wird zum Schlagwerkstück auf dem mikrofonierten Klarinettenkorpus (Mona Matbou-Riahi). Obwohl die Publikumsinteraktion am Anfang, die Moderation von Tier-Fortpflanzungen im Sportschaustil oder die Diskussion diverser Frauen- und Mutterbilder sprechend vorgetragen werden, flechten sich Klavier, Klarinette und Gesang derartig selbstbewusst in den Stückverlauf, dass der Begriff des Musiktheaters nicht infrage gerät.

„Dein Oxy“ füllt das Publikum mit sanften Lachern, angeregten Gedanken und vielseitigster Repräsentation. Es endet in Dunkelheit. Ein überraschtes Aufatmen. Die Trauer ums Ende. Der Wunsch nach Wiederholung. Ein Lächeln. Applaus.

Maike Graf

„Dein Oxy“ (2022) // Ein Musiktheaterabend von und mit Lisa Florentine Schmalz, Kerstin Steeb, Cymin Samawatie, Pauline Jacob, Sina Dotzert, Lisa Heinrici, Mona Matbou-Riahi, Marie Gimpel, Hanna Naske, Filo Krause, Martha Luise Schmalz, Georg Conrad und Leonora Scheib

Infos und Termine auf der Website des Theaters