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Rezensionen 2022/03

Willst Du leben, musst Du töten

Augsburg / Staatstheater Augsburg (April 2022)
„Das Ende der Schöpfung“. Einfach so!

Augsburg / Staatstheater Augsburg (April 2022)
„Das Ende der Schöpfung“. Einfach so!

Prophetische Qualitäten, Marke „Apocalypse Now“, beweist das Staatstheater Augsburg bei der Uraufführung des „szenischen Oratoriums“ „Das Ende der Schöpfung“, das André Bücker quer durch die Sparten und musikalischen Jahrhunderte inszeniert. Sänger, Schauspieler, Tänzerin, Chor und großes Orchester: Man lässt Joseph Haydns Prunkfinale zugunsten einer endzeitlichen „Die Menschheit schafft sich selbst ab“-Dystopie komplett an die Wand fahren, übermalt Haydn stellenweise mit Elektro-Remixen (Jürgen Branz) und verzichtet auf den dritten Oratorienteil gleich komplett. Vor dem Hintergrund eines gar nicht mehr so visionären Untergangsszenarios lässt der österreichische Komponist Bernhard Lang ein schauerliches letztes Drittel entstehen, stark erweiterte Orchesterbesetzung inklusive. Ihm gelingt dabei beeindruckend die gebotene ehrerbietende Annäherung an Haydn, gleichzeitig schreibt er ihn stilistisch souverän fort und schafft unterschwellige Anbindungen, ohne sich mit Zitaten anzubiedern. „Was passiert mit der Schöpfung, wenn der Mensch sie nicht überlebt?“, lautet die über allem schwebende Frage.

Dietmar Daths Dialoge ersetzen ursprüngliche Rezitative, konterkarieren die Haydn’schen Lobpreisungen mit „sieben sehr bösen Bildern“ – und lassen erahnen, worauf es hinauslaufen wird. „Geschaffen und kaputt gemacht“: Schleichend nimmt die Vorahnung auf das Ende des anthropozänen Zeitalters Gestalt an. Passendes Szenario ist dabei ein in gleißendes weißes Licht getauchtes Laboratorium samt durchgehend-steriler OP-Kostüm-Ästhetik (Lili Wanner) von Opernchor und Gesangssolisten (Jihyun Cecilia Lee*, Pascal Herington, Young Kwon). Die drei Schauspieler „Herr Wer“ (Hanna Eichel), „Frau Wie“ (Paul Langemann) und „Deibel Deus“ (Nadine Quittner) hantieren parallel zum Geschehen fortwährend mit den „Bausteinen des Lebens“ – bunten Würfeln, die ins große Regal der Schöpfung, dem zentralen Bühnenelement, ein- und ausgebaut werden und zum „Ende der Menschheit“ als pechschwarze Überbleibsel der Zivilisation den Boden übersäen (Bühne Felix Weinold). Das Setting wirkt wie ein psychedelisches Szenario aus einer Retro-Science-Fiction der siebziger Jahre – erstaunlich stimmig zum alttestamentarischen Oratorientext.

Das ist auch die große Stärke dieser Produktion: Man ignoriert gekonnt das Raum-Zeit-Kontinuum und fügt mit erstaunlichen Ergebnissen zusammen, was nicht zusammengehört. Immer präsent: die übergroße runde Videoprojektion im Hintergrund, experimentelle Petrischale und „Auge Gottes“ zugleich. Im Fokus des zweiten Teils – alle Protagonisten jetzt ausnahmslos in Schwarz – stehen zwei Texte von Lord Byron und Jean Paul in Libretto-Fassung von André Bücker. „Die Finsternis hat sie, die Menschen nicht mehr nötig“, könnte man das nennen, was sich in beeindruckender Einheit mit Langs drastisch kontrastierender Musiksprache zur neuen Realität herauskristallisiert – wenn ein Nachdenken über das Undenkbare einsetzt und sich die Wege von Mensch und Schöpfung trennen. Diese Uraufführung fasziniert durch permanente Spannungsfelder auf der einen und das Infragestellen der Dualität auf der anderen Seite: Selbst der „Deibel“ darf zeitgleich auch „Gott“ sein (über den ganzen Abend hinweg fabelhaft vertanzt: „Deus“ Adriana Mortelliti).

Musikalisch souverän und empathisch gesteuert wird der große Apparat von Ivan Demidov, Gesangssolisten, Schauspieler und Chor runden auf erstklassigem Niveau diesen leider eindringlichen Theaterabend ab. Und das Leben geht weiter – auch ohne die Menschheit.

* am Premierenabend nur szenisch, stimmlich hervorragend ersetzt durch Katja Stuber (Haydn) und Evgeniya Sotnikova (Lang)

Iris Steiner

„Das Ende der Schöpfung“ (1798/2022) // Szenisches Oratorium von Joseph Haydn und Bernhard Lang

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Ein Fest der Stimmen

Liège / Opéra Royal de Wallonie-Liège (April 2022)
Berauschende Darbietung von Ambroise Thomas’ „Mignon“

Liège / Opéra Royal de Wallonie-Liège (April 2022)
Berauschende Darbietung von Ambroise Thomas’ „Mignon“

Glücksgefühle löst damals wie auch heute Ambroise Thomas’ Opéra-comique „Mignon“ – frei nach Goethes „Wilhelm Meister“ – aus. Die Dreiecksgeschichte um den jungen Galanten Wilhelm, die Kindfrau Mignon und die kokette Schauspielerin Philine ist als Geschichte so archetypisch, dass sie auch heute noch als Stoff für Seifen-Opern aller Façon herhalten muss. Dem Kitsch enthoben und zur wirklich guten Unterhaltung wird solch ein überschaubar fordernder Stoff durch eine ausgezeichnete Umsetzung: Es ist ein offenes Geheimnis, dass gute Unterhaltung sehr viel Können und Meisterschaft voraussetzt.

Und in der Opéra Royal de Wallonie-Liège wird man bestens unterhalten. Ja, man darf sich ohne Reue an der Schönheit der Stimmen richtiggehend berauschen. Der Abend gleicht einem großen Gesangsfest. Ausnahmslos jede Partie ist bestmöglich besetzt. Dem neuen Intendanten Stefano Pace ist damit ein kleines Kunststück gelungen: Sein Gespür bei der Cast-Zusammenstellung hätte kaum besser sein können. Neben einer ausgezeichneten Stéphanie d’Oustrac als (dramatische, fast schon Carmen-hafte) Mignon sind es vor allem Jodie Devos (sensationelle Philine) und Philippe Talbot (maximal-lyrischer Wilhelm) sowie Jean Teitgen (sonorer und stimmstarker Lothario), die beim Publikum für wahre Glücksgefühle sorgen.

Regisseur Vincent Boussard und seinem Team scheint das bewusst zu sein und folgerichtig entscheiden sie sich, den sinnlichen Genuss nicht durch gedankenschweren Tiefgang zu stören (nur der laute Raschelteppich trübt beim Eiertanz den Hörgenuss). Unterstützen und nicht ablenken, dabei aber dennoch auf Plattitüden verzichten – Boussard gelingt diese Gratwanderung stilsicher und souverän. Das Getümmel auf der hier und da durchbrochenen Guckkastenbühne gleicht einem Kostümball, in dem sich keine einheitliche Linie ausmachen lässt: weder historisch noch zeitgenössisch, vielmehr ein (zu keinem Zeitpunkt kitschiger) Attribute-Mix frei nach dem Motto „Erlaubt ist, was gefällt“ – und es gefällt! Für Zwischenfigürliches bleibt dabei dennoch wenig übrig, was nicht weiter schlimm ist: Die Produktion will – einer Show gleich – unterhalten und nicht belehren.

Dem Dirigenten Frédéric Chaslin gelingt es, das Orchester agil zu führen, jedoch ohne die nötige Leichtigkeit und Präzision über die gesamten fast dreieinhalb Stunden aufrechterhalten zu können: überzeugend schmissig, aber in den feinen Passagen dann doch nicht fein genug. Der Chor gewinnt vor allem durch seine Bühnenpräsenz und Spielfreude, die zuweilen auf Kosten der Koordination gehen muss – was dem Gesamtgenuss allerdings keinen Abbruch tut. Ein fulminanter, runder, guter Abend, der – sofern man keinen inhaltlichen Tiefgang erwartet – allen Freundinnen und Freunden schöner Stimmen uneingeschränkt ans Herz gelegt sei.

Dr. Dimitra Will

„Mignon“ (1866) // Opéra-comique von Ambroise Thomas

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Blut ist ein besonderer Saft

Hannover / Staatsoper Hannover (März 2022)
Ersan Mondtag macht Heinrich Marschners „Vampyr“ zur großen Show

Hannover / Staatsoper Hannover (März 2022)
Ersan Mondtag macht Heinrich Marschners „Vampyr“ zur großen Show

Die Musik von Heinrich Marschners (1795-1861) „Vampyr“ klingt keineswegs fremd. Von heute aus betrachtet behauptet sie mit unbefangenem Selbstbewusstsein ihre Stellung zwischen „Freischütz“ und „Fliegendem Holländer“. Das gilt auch für viele der Handlungselemente. Es geht im Kern um einen Vampyr, der drei Jungfrauen beißen muss, damit seine Erdenfrist verlängert wird. Und doch ist das Stück als Ganzes ziemlich verquer. So ganz falsch liegt die Rezeptionsgeschichte mit ihrem Platzverweis für Marschners Oper auf die hinteren Plätze wohl nicht.

Gräbt man sie aus, muss so ein Spezialist fürs Abgefahrene ran wie Ersan Mondtag. Der arbeitet gerade den Corona-Stau seiner jüngster Regiearbeiten ab. Rued Langgaards „Antikrist“ in Berlin, Carl Maria von Webers „Freischütz“ in Kassel – da passt der „Vampyr“ des jahrzehntelangen Hannoveraner Kapellmeisters sogar inhaltlich: jede Menge Spuk und große Töne. Mit Platz, um Reflektierendes unterzubringen, das nach der Relevanz der alten Stoffe sucht. In eindrucksvollen Räumen, mit hinzuerfundenen Figuren samt entsprechenden Texten und einer abgedrehten Kostümoptik. In Hannover bietet Mondtag von allem reichlich in der Hoffnung, dass daraus ein Gesamtkunstwerk eigenen Rechts entsteht. Exemplarisch war ihm das mit dem „Antikrist“ gelungen. In Hannover ist es mehr die große Opernshow aus dem Geist einer Musical-Ästhetik. Natürlich als bewusst eingesetztes Mittel, um Distanz zu schaffen und so das Stück zu „retten“.

Die Bühne mit der Ruine der zerstörten Synagoge Hannovers und dann mit dem als Kaufhaus verkorksten Braunschweiger Schloss macht dabei ebenso gewaltigen Eindruck wie die fantasie-explodierende Kostümopulenz von Josa Marx. In seinem Silbergewand liefert Michael Kupfer-Radecky einen vokal standfesten, blutsaugenden Lord Ruthwen. Vampire und Dämonen sind zwar als die prototypisch Ausgestoßenen gemeint, kommen aber nicht wirklich so rüber. Lord van Davenaut, der Vater eines der anvisierten Opfer, ist als ölschwarzer Scheich eher ein schrullig Kostümierter als die personifizierte Kapitalismus- oder Gierkritik. Dafür prunkt Shavleg Armasi in dieser Rolle mit aller Bass-Wucht.

Von drei hinzugefügten Figuren schafft es neben Ahasver und der syrischen Göttin bzw. Vampirmeisterin Astarte vor allem der improvisierende und röhrende Benny Claessens zu einer eigenständigen Verstörungsshow als Lord Byron im Elton-John-Outfit. Das nervt, passt hier aber. Stephan Zilias lässt sich mit dem Niedersächsischen Staatsorchester auf die entfesselte Schauerromantik ein und sekundiert damit zugleich die große Show.

Dr. Joachim Lange

„Der Vampyr“ (1828) // Große romantische Oper von Heinrich Marschner

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 25. September 2022 kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

Eine königliche Oper

Genf / Grand Théâtre de Genève (Februar 2022)
Neues Leben für Jean-Baptiste Lullys „Atys“

Genf / Grand Théâtre de Genève (Februar 2022)
Neues Leben für Jean-Baptiste Lullys „Atys“

Als „Atys“ 1676 uraufgeführt wurde, war die Welt zwischen Jean-Baptiste Lully (1632-1687) und seinem königlichen Auftraggeber Ludwig XIV. (1638-1715) noch in Ordnung. Da wusste man, wie sehr der Sonnenkönig von dieser Tragédie en musique angetan war. Was wohl kaum an der Huldigung an ihn gelegen haben dürfte, die damals den Prolog der fünfaktigen Melange aus Musik und Tanz einleitete. Die gehörte zur Konvention des Hofes und kann heute getrost weggelassen werden.

Neben seinem musikalischen Einfallsreichtum ist „Atys“ das erste Werk seiner Art, bei dem der Held am Ende stirbt. Die Oper ist also auch vom Sujet her hinreichend originell, um sich in die Reanimations-Ambitionen einzureihen, die auch die Anfänge der französischen Oper eine Epoche vor Rameau einbeziehen. Dass Genf seinen „Atys“ mit der Opéra Royal de Versailles koproduziert, dürfte diese dezent moderne, zwischen Musik und Tanz changierende Inszenierung zusätzlich in ein authentisches Licht rücken.

Leonardo García Alarcón und seine Cappella Mediterranea sorgen mit feinziseliertem und eng mit Gesang und Bewegung verwobenem Musizieren für einen suggestiven Sound, der mühelos durch den dreieinhalbstündigen Abend trägt. Dieser verbindet sich beglückend organisch mit der intelligent ausgeklügelten Doppelbödigkeit der regieführenden Choreografen-Ikone Angelin Preljocaj. Die Bühne von Prune Nourry kommt mit einem Hintergrund erst einer archaischen Mauer und dann von floralen Baum- und Wurzelkreationen aus. Auch die fantasievoll zeitlosen und bewegungsfreundlichen, immer wieder wechselnden Kostüme von Jeanne Vicérial fügen sich in das Gesamtkunstwerk, bei dem ein tragisch endendes Beziehungsviereck auf die finale Katastrophe zutreibt. Bei der der Held erst im Wahn seine Geliebte und dann, bei klarem Verstand, sich selbst umbringt, um als Baum zu enden.

So ist das halt, wenn die Göttin Cybèle (mezzosatt: Giuseppina Bridelli) vom Objekt ihrer Begierde Atys (mit Verve: Matthew Newlin) zurückgewiesen wird, weil der von seiner Liebe zu Sangaride (gefühlvoll: Ana Quintans) nicht lassen will und die obendrein Atys’ Freund Célénus (profund: Andreas Wolf) heiraten soll. Die Eskalation der Konflikte, samt des von Atys provozierten Eklats bei der Hochzeit oder der atemberaubenden Schlummer-Nummer, wird allemal in direkter Verdopplung der Sänger durch tanzende Paare oder sich separat entfaltenden, immer unmittelbar der Musik folgenden getanzten Einlagen verblüffend schlüssig in die Dimension der Bewegung erweitert. In Genf ist ein Wurf gelungen, bei der die Opulenz einer königlichen Oper auch in der eher reflektiert modernen Nüchternheit aufscheint.

Roberto Becker

„Atys“ (1676) // Tragédie en musique von Jean-Baptiste Lully

Infos und Termine:
Opéra Royal de Versailles (19.-23. März 2022) (opens in a new tab)“ href=“https://en.chateauversailles-spectacles.fr/programmation/lully-atys_e2469″ target=“_blank“ rel=“noreferrer noopener“ class=“ek-link“>> Opéra Royal de Versailles (Koproduktionspartner; 19.-23. März 2022)

Zurück in die Zukunft

Detmold / Landestheater Detmold (Februar 2022)
Uraufführung von Detlef Heusingers Familienoper „Die Zeitreisemaschine“

Detmold / Landestheater Detmold (Februar 2022)
Uraufführung von Detlef Heusingers Familienoper „Die Zeitreisemaschine“

Das Landestheater Detmold hat ausgezeichnete Sängerinnen und Sänger in seinen Reihen. Das ist erneut bei der Uraufführung des neuen Bühnenwerkes von Detlef Heusinger zu erleben. „Die Zeitreisemaschine – Eine Familienoper“ nennt er sein neuestes Opus. Darin entfliehen zwei Kinder (Theresa Kohler und Friedrich Schlieker) per Zeitmaschine dem ewig grantelnden Großvater („Früher war alles besser!“) und landen im Pariser Schlafzimmer von Gioachino Rossini. Dort erleben sie einen Komponisten, der die Lust am Komponieren verloren hat, stattdessen der Lust am Kochen und Essen frönt und sich dauernd mit seiner Frau Isabella und seinem Diener Figaro herumstreitet. Die Kinder stellen fest, dass auch die Menschen der guten alten Zeit unzufrieden sind, und beamen sich enttäuscht in die Gegenwart zurück.

In der Doppelrolle als bettlägeriger Komponist und unzufriedener Großvater ist Stefan Stoll mit seiner warmen, gleichwohl zu dramatischen Ausbrüchen fähigen Stimme eine gute Wahl. Emily Dorn spielt die Isabella und die Mutter der Kinder. Sie zeigt vor allem als Rossinis quirlige Gattin bewegliche Koloraturen und eine in allen Registern durchgearbeitete, frei strömende Tongebung. Ihr zur Seite steht der strahlende Tenor von Stephen Chambers als stets am Rande der Verzweiflung agierender Diener und als Papa der beiden Kinder. Alle drei finden an mehreren Stellen der Oper zu kunstvoll komponierten Terzetten mit einem guten Gefühl fürs Ensemblesingen zusammen. Aber ihre sängerischen Qualitäten können den Abend nicht retten.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist bei allem Wohlklang der Stimmen fast durchgängig nicht zu verstehen, wovon gesungen wird.  Zum anderen muss das Ensemble mit einer Musik fertig werden, deren Stilrichtung unklar bleibt und die sich dramaturgisch gesehen bis auf wenige Momente nicht recht vom Fleck bewegt. Auch die angekündigte Zuordnung elektronischer Klänge und live gespielter Orchestermusik will sich im Saal nicht differenziert einstellen. Die beiden Zeitreisen der Kinder in die Vergangenheit und zurück in die Gegenwart, dargestellt in einer Großprojektion drehender Wolkenfelder, wollen einfach nicht enden. Und dass die beiden Kinder für den Rückflug als Code ausgerechnet Martin Luthers Choral „Vater unser im Himmelreich“ in ihre Zeitmaschine eingeben sollen, ist ein inhaltlich kurioser Querschläger, wenn auch der Kinderchor des Theaters, verstärkt durch Damen des Opernchores, stimmschön singt.

Detlef Heusinger ist nicht nur der Komponist, sondern übernimmt auch die Regie und die Gestaltung des Bühnenbildes. Dabei gelingen bei der Interaktion zwischen Rossini, seiner Frau und dem Diener durch puppenhaft ruckende Bewegungsabläufe einige interessante surreale Abläufe. Das aber wird nicht durchgehalten und die Szene rutscht weg in normale Interaktionen, bei denen die Personenführung unbearbeitet wirkt. Das gilt besonders dann, wenn nur gesprochen wird. Allerdings bieten die Dialoge auch nicht viel Deutungstiefe für eine nuancenreiche Darstellung an.

Beim Finale geht es dann plötzlich mit groovendem Musical-Sound musikalisch zur Sache, wobei die arg individuellen tänzerischen Einlagen des Ensembles durchaus einen Choreografen-Blick vertragen hätten. Ob sich dieses Werk als Familienoper bewähren kann, wie im Titel versprochen wird, sei infrage gestellt. Zumal sich zwischendurch auch Langeweile einstellt, was im Theater niemals geschehen sollte.

Claus-Ulrich Heinke

„Die Zeitreisemaschine“ (2022) // Familienoper von Detlef Heusinger

Infos und Termine:
-> Landestheater Detmold (bis 13. März 2022)
-> Bregenzer Festspiele (Kooperationspartner, 12. und 13. Mai 2022)

Wunder gibt es immer wieder

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Februar 2022)
„Santa Chiara“, eine fürstliche Oper von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Februar 2022)
„Santa Chiara“, eine fürstliche Oper von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha

Das erste Mal seit 1927 wagt sich Meiningen wieder an eine Produktion der Oper „Santa Chiara“ von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha. Die Uraufführung in Gotha dirigierte 1854 kein Geringerer als Franz Liszt. Die Musik des fürstlichen Komponisten klingt oft nicht nur nach „Freischütz“ und etlichen anderen Quellen, ob nun Marschner, Lortzing oder Donizetti. Auch Wagner und Meyerbeer gehören zu den Elefanten im Raum. Wer sich aber beherzt zu einem „Na und?“ aufrafft, kann gleichwohl an diesem Wechselspiel seine Freude haben. Zumal sich die Meininger Hofkapelle unter Leitung ihres GMD Philippe Bach offenbar zur Entdeckerlust entschlossen hat. Man kennt nichts wirklich und doch alles irgendwie.

So hilft die Musik über die verstiegene Zeitgeistigkeit des Librettos von Charlotte Birch-Pfeiffer hinweg. Inspiriert vom tragischen Schicksal der historischen Prinzessin Charlotte Christine von Wolfenbüttel, die nur 21 Jahre alt wurde, machte Birch-Pfeiffer aus den Legenden, die sich um Charlottes bedauernswertes Schicksal ranken, eine Opernvorlage. Als politisch „eingekaufter“ personeller Import wird die Prinzessin dem missratenen Sprössling von Peter dem Großen und dessen Ausschweifungen gleichsam zum Fraß vorgeworfen.

Regisseur Hendrik Müller bringt das Personal mit der Mätresse des Juniors und einer Queen Mum auf den Stand heutiger royaler Ikonografie. Er und Marc Weeger (Bühne) bleiben zeitlich im exemplarisch Ungefähren. Historisches wird von Katharina Heistinger (Kostüme) nacherfunden. All das trägt zur notwendigen Distanz der Szenen in den angedeuteten Drehbühnenräumen des Zarenpalastes bei.

Charlotte jedenfalls landet vergiftet im Sarg. Für den wundersamen Neustart in ein zweites Leben (nach der Pause) greift Jesus persönlich ein. So wird die Bedrängte zu einer Heiligen, die gut im Geschäft ist. Samt inszenierter Massenheilungen ihrer Anhänger, die – egal ob Mann oder Frau – in weißen Brautkleidern stecken und eine Zirkusmanege bevölkern. Hier gibt es auch das Finale, zu dem sich sowohl ihr Verehrer Victor als auch der mörderische, jetzt völlig abgedrehte Gatte einfinden.

Musiziert und gesungen wird grandios, an der Spitze Lena Kutzner als Prinzessin. An ihrer Seite brillieren Marianne Schechtel als Vertraute Bertha ebenso wie Patrick Vogel als ihr tenorschmachtender und -schmetternder Verehrer Victor de St. Auban. Der Wahnsinn des Zarewitschs ist bei Johannes Mooser gut aufgehoben.

Sicher wird die Musikgeschichte des 19 Jahrhunderts jetzt nicht neu geschrieben werden. Aber Meiningen bietet einen interessanten Ausflug genau dorthin, ohne dass man gleich im Museum landet.

Roberto Becker

„Santa Chiara“ (1854) // Romantische Oper von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha

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„Ich bin Dein Kuschelhormon“

Hamburg / Lichthof Theater (Februar 2022)
„Dein Oxy“, ein lässig-zarter Musiktheaterabend über (Nicht-)Mütter und Bindung

Hamburg / Lichthof Theater (Februar 2022)
„Dein Oxy“, ein lässig-zarter Musiktheaterabend über (Nicht-)Mütter und Bindung

Zum Eintritt ein Lächeln. Lisa Heinrici, Schauspielerin, knautscht sich bäuchlings in einen Haufen überdimensionaler, molekülblauer Polster. Die Nervenzellen voller Styroporkügelchen sind Kuschelobjekte, bewegliche Bühnenbildteile (Hanna Naske, Marie Gimpel) und Kostüme (Filo Krause) zugleich. Lisa Heinrici lächelt, als sei sie gerade frisch durchgekuschelt, als wäre ihr Oxytocinspiegel bis zur Oberkante aufgefüllt.

75 Minuten später wird der Musiktheaterabend „Dein Oxy“, von einem Team um Lisa Florentine Schmalz, uns zu einem ebenso breiten Lächeln und tosendem Applaus verführt haben. Im Grunde ist das Stück ein Lösungsversuch: Es gilt, das starre Bild der Mutter zu lockern. Das schlummert hinter einer Barrikade der Unantastbarkeit, gestapelt aus Ur-Vorstellungen über die Frau, gefestigt mit biologistischen Argumenten hormoneller Determination und bekleistert mit dem Satz „Das ist natürlich, denn das war schon immer so“.

Eine Frau ist notwendigerweise irgendwann eine Mutter (sie möchte das auch) und eine Mutter ist notwendigerweise eine Frau (sie kümmert sich auch). „Dein Oxy“ löst die Stereotype in einer Vielzahl von Mutter- und Elternschaftskonzepten auf. Sängerin Lisa Florentine Schmalz und Schauspielerin Lisa Heinrici wanken in ihren Synapsen-Suits aufeinander zu und zählen auf: „Ich bin eine Frau, die ein Kind bekommt. Ich bin eine Frau, die keine Kinder bekommen möchte. Ich bin eine Mutter, die nicht als Frau gelesen wird. Ich bin eine Mutter, die keine Kinder (mehr) hat …“

Librettistin Pauline Jacob und Dramaturgin Sina Dotzert schreiben und Kerstin Steeb inszeniert die kollektiven Blickwinkel des Produktionsteams. Gemeinsam kreieren sie einen Raum, der zwischen Selbstdefinitionen und Schicksalsschlägen so viel Repräsentation zulässt wie sonst nur wenige. „You Make Me Feel Like A Natural Woman“, so das Ziel des Abends und eine der musikalischen Nummern des Stückes – gesungen von Cymin Samawatie, musikalische Leiterin und Pianistin, und kunstvoll harmonisiert von Lisa Florentine Schmalz.

Wer sich nicht im Mutter-Oxy fühlt, der oder die kennt das Hormon von anderen Berührungen. Vom kindlichen Kuscheln mit Tiergeschichten, von freundschaftlichen Umarmungen, selbst beim Singen wird Oxytocin ausgeschüttet. Wenn Sopranistin Lisa Florentine Schmalz mit nahbarer, wohlartikulierter Stimme die Oxytocin-Arie singt (darin präsentiert das personifizierte Oxytocin seine Wirkungsbereiche), strömt ihr Gesangs-Oxy bis ins Publikum. Klarheit ohne Banalität, das ist der entscheidende Kuschelfaktor des Stückes.

Die musikalische Leiterin Cymin Samawatie unterscheidet nicht zwischen Genres. Ein Chor aus Keuchern wird zu einem a-cappella-Popsong, wird zur atonalen Klarinettenmelodie, wird zum Schlagwerkstück auf dem mikrofonierten Klarinettenkorpus (Mona Matbou-Riahi). Obwohl die Publikumsinteraktion am Anfang, die Moderation von Tier-Fortpflanzungen im Sportschaustil oder die Diskussion diverser Frauen- und Mutterbilder sprechend vorgetragen werden, flechten sich Klavier, Klarinette und Gesang derartig selbstbewusst in den Stückverlauf, dass der Begriff des Musiktheaters nicht infrage gerät.

„Dein Oxy“ füllt das Publikum mit sanften Lachern, angeregten Gedanken und vielseitigster Repräsentation. Es endet in Dunkelheit. Ein überraschtes Aufatmen. Die Trauer ums Ende. Der Wunsch nach Wiederholung. Ein Lächeln. Applaus.

Maike Graf

„Dein Oxy“ (2022) // Ein Musiktheaterabend von und mit Lisa Florentine Schmalz, Kerstin Steeb, Cymin Samawatie, Pauline Jacob, Sina Dotzert, Lisa Heinrici, Mona Matbou-Riahi, Marie Gimpel, Hanna Naske, Filo Krause, Martha Luise Schmalz, Georg Conrad und Leonora Scheib

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Ein musikalischer Stolperstein

Magdeburg / Theater Magdeburg (Februar 2022)
Späte Gerechtigkeit für Eugen Engels Oper „Grete Minde“

Magdeburg / Theater Magdeburg (Februar 2022)
Späte Gerechtigkeit für Eugen Engels Oper „Grete Minde“

Es ist eine Uraufführung mit 92 Jahren Verspätung: „Grete Minde“ von Eugen Engel. Die Geschichte basiert auf der Fontane-Novelle über den Tangermünde Stadtbrand von 1617. Die historische Grete wurde dafür als Brandstifterin verurteilt und hingerichtet. Hier ist sie es, die sich zur Richterin aufschwingt. Durch ihren Selbstmord in den Flammen reißt sie die ganze Stadt mit in den Abgrund. Ein Akt des Aufbegehrens und der Rache an einer Gesellschaft, in der sie ihr Recht nicht bekam. Grete hatte sich mit ihrem Liebsten Valtin einer fahrenden Truppe von Puppenspielern angeschlossen, um der Enge ihrer Heimat zu entfliehen. Bei Stiefbruder Gerdt und dessen bigotter Frau Trud wurde sie als Tochter einer Katholikin verachtet und schikaniert. Nach Valtins frühem Tod verweigern sie ihr Obdach und Erbe …

Der 1875 geborene deutsch-jüdische Kaufmann und komponierende Autodidakt Engel fiel 1943 im Vernichtungslager Sobibor dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer. Sein Librettist Hans Bodenstedt (1887-1958) stieg nach 1933 bei NS-Verlagen ein und machte sich nach dem Krieg in Westdeutschland einen Namen als Rundfunkpionier. Zwei deutsche Biografien.

Im Falle Engel sorgt Magdeburg jetzt für den überfälligen musikalischen Stolperstein. Das Hauptverdienst kommt dabei GMD Anna Skryleva zu. Sie verliebte sich 2019 in die von Engels Tochter gerettete Partitur und erweckt die Musik, die ohne Moderne-Ehrgeiz auskommt und von gekonnten (Rück-)Blicken auf Wagner, Richard Strauss und die Spätromantik profitiert, zum Leben.

Bei den Interpreten der durchweg gut singbaren Rollen ragen vor allem die mühelos schlank dramatische Raffaela Lintl (Grete) und Tenor Zoltán Nyári (Valtin) heraus. Aber auch Kristi Anna Isene und Marko Pantelić als Trud und Gredt Minde liefern tadellose Rollenporträts ab. Aus der Puppenspielertruppe ist Benjamin Lee als Hanswurst zu nennen. Martin Wagner hat den Opernchor präzise auf seinen umfangreichen Part vorbereitet.

Leider bleiben Olivia Fuchs (Regie) und Nicola Turner (Ausstattung) hinter den Möglichkeiten zurück, die eine offenkundig beabsichtige Überblendung der Zeitebenen ermöglichen würde. Die kargen Wände der Einheitsbühne werden Projektionsflächen für Landschaften oder züngelnde Flammen. Die Kostüme der Puppenspieler kommen 1617 am nächsten. Die Bürger, die Grete bei ihrer Rückkehr als Witwe jede Hilfe verweigern, liefern eine Mischung aus Fontanes Zeit und den 1940er Jahren. Wirklich verknüpft miteinander ist das nicht. Ein paar in der Bühnenmitte platzierte Koffer als Verweis auf die Shoah bleiben so Behauptung. Die Vorlage würde wohl auch einen beherzteren szenischen Zugriff vertragen.

Dr. Joachim Lange

„Grete Minde“ (entstanden um 1930; Uraufführung 2022 posthum) // Oper von Eugen Engel

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