Glücksgefühle löst damals wie auch heute Ambroise Thomas’ Opéra-comique „Mignon“ – frei nach Goethes „Wilhelm Meister“ – aus. Die Dreiecksgeschichte um den jungen Galanten Wilhelm, die Kindfrau Mignon und die kokette Schauspielerin Philine ist als Geschichte so archetypisch, dass sie auch heute noch als Stoff für Seifen-Opern aller Façon herhalten muss. Dem Kitsch enthoben und zur wirklich guten Unterhaltung wird solch ein überschaubar fordernder Stoff durch eine ausgezeichnete Umsetzung: Es ist ein offenes Geheimnis, dass gute Unterhaltung sehr viel Können und Meisterschaft voraussetzt.

Und in der Opéra Royal de Wallonie-Liège wird man bestens unterhalten. Ja, man darf sich ohne Reue an der Schönheit der Stimmen richtiggehend berauschen. Der Abend gleicht einem großen Gesangsfest. Ausnahmslos jede Partie ist bestmöglich besetzt. Dem neuen Intendanten Stefano Pace ist damit ein kleines Kunststück gelungen: Sein Gespür bei der Cast-Zusammenstellung hätte kaum besser sein können. Neben einer ausgezeichneten Stéphanie d’Oustrac als (dramatische, fast schon Carmen-hafte) Mignon sind es vor allem Jodie Devos (sensationelle Philine) und Philippe Talbot (maximal-lyrischer Wilhelm) sowie Jean Teitgen (sonorer und stimmstarker Lothario), die beim Publikum für wahre Glücksgefühle sorgen.

Regisseur Vincent Boussard und seinem Team scheint das bewusst zu sein und folgerichtig entscheiden sie sich, den sinnlichen Genuss nicht durch gedankenschweren Tiefgang zu stören (nur der laute Raschelteppich trübt beim Eiertanz den Hörgenuss). Unterstützen und nicht ablenken, dabei aber dennoch auf Plattitüden verzichten – Boussard gelingt diese Gratwanderung stilsicher und souverän. Das Getümmel auf der hier und da durchbrochenen Guckkastenbühne gleicht einem Kostümball, in dem sich keine einheitliche Linie ausmachen lässt: weder historisch noch zeitgenössisch, vielmehr ein (zu keinem Zeitpunkt kitschiger) Attribute-Mix frei nach dem Motto „Erlaubt ist, was gefällt“ – und es gefällt! Für Zwischenfigürliches bleibt dabei dennoch wenig übrig, was nicht weiter schlimm ist: Die Produktion will – einer Show gleich – unterhalten und nicht belehren.

Dem Dirigenten Frédéric Chaslin gelingt es, das Orchester agil zu führen, jedoch ohne die nötige Leichtigkeit und Präzision über die gesamten fast dreieinhalb Stunden aufrechterhalten zu können: überzeugend schmissig, aber in den feinen Passagen dann doch nicht fein genug. Der Chor gewinnt vor allem durch seine Bühnenpräsenz und Spielfreude, die zuweilen auf Kosten der Koordination gehen muss – was dem Gesamtgenuss allerdings keinen Abbruch tut. Ein fulminanter, runder, guter Abend, der – sofern man keinen inhaltlichen Tiefgang erwartet – allen Freundinnen und Freunden schöner Stimmen uneingeschränkt ans Herz gelegt sei.

Dr. Dimitra Will

„Mignon“ (1866) // Opéra-comique von Ambroise Thomas

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