Als „Atys“ 1676 uraufgeführt wurde, war die Welt zwischen Jean-Baptiste Lully (1632-1687) und seinem königlichen Auftraggeber Ludwig XIV. (1638-1715) noch in Ordnung. Da wusste man, wie sehr der Sonnenkönig von dieser Tragédie en musique angetan war. Was wohl kaum an der Huldigung an ihn gelegen haben dürfte, die damals den Prolog der fünfaktigen Melange aus Musik und Tanz einleitete. Die gehörte zur Konvention des Hofes und kann heute getrost weggelassen werden.

Neben seinem musikalischen Einfallsreichtum ist „Atys“ das erste Werk seiner Art, bei dem der Held am Ende stirbt. Die Oper ist also auch vom Sujet her hinreichend originell, um sich in die Reanimations-Ambitionen einzureihen, die auch die Anfänge der französischen Oper eine Epoche vor Rameau einbeziehen. Dass Genf seinen „Atys“ mit der Opéra Royal de Versailles koproduziert, dürfte diese dezent moderne, zwischen Musik und Tanz changierende Inszenierung zusätzlich in ein authentisches Licht rücken.

Leonardo García Alarcón und seine Cappella Mediterranea sorgen mit feinziseliertem und eng mit Gesang und Bewegung verwobenem Musizieren für einen suggestiven Sound, der mühelos durch den dreieinhalbstündigen Abend trägt. Dieser verbindet sich beglückend organisch mit der intelligent ausgeklügelten Doppelbödigkeit der regieführenden Choreografen-Ikone Angelin Preljocaj. Die Bühne von Prune Nourry kommt mit einem Hintergrund erst einer archaischen Mauer und dann von floralen Baum- und Wurzelkreationen aus. Auch die fantasievoll zeitlosen und bewegungsfreundlichen, immer wieder wechselnden Kostüme von Jeanne Vicérial fügen sich in das Gesamtkunstwerk, bei dem ein tragisch endendes Beziehungsviereck auf die finale Katastrophe zutreibt. Bei der der Held erst im Wahn seine Geliebte und dann, bei klarem Verstand, sich selbst umbringt, um als Baum zu enden.

So ist das halt, wenn die Göttin Cybèle (mezzosatt: Giuseppina Bridelli) vom Objekt ihrer Begierde Atys (mit Verve: Matthew Newlin) zurückgewiesen wird, weil der von seiner Liebe zu Sangaride (gefühlvoll: Ana Quintans) nicht lassen will und die obendrein Atys’ Freund Célénus (profund: Andreas Wolf) heiraten soll. Die Eskalation der Konflikte, samt des von Atys provozierten Eklats bei der Hochzeit oder der atemberaubenden Schlummer-Nummer, wird allemal in direkter Verdopplung der Sänger durch tanzende Paare oder sich separat entfaltenden, immer unmittelbar der Musik folgenden getanzten Einlagen verblüffend schlüssig in die Dimension der Bewegung erweitert. In Genf ist ein Wurf gelungen, bei der die Opulenz einer königlichen Oper auch in der eher reflektiert modernen Nüchternheit aufscheint.

Roberto Becker

„Atys“ (1676) // Tragédie en musique von Jean-Baptiste Lully

Infos und Termine:
Opéra Royal de Versailles (19.-23. März 2022) (opens in a new tab)“ href=“https://en.chateauversailles-spectacles.fr/programmation/lully-atys_e2469″ target=“_blank“ rel=“noreferrer noopener“ class=“ek-link“>> Opéra Royal de Versailles (Koproduktionspartner; 19.-23. März 2022)