Am Ende von Verdis „Aida“ steht der sichere Tod. Lebendig begraben in der Felsengruft, einander unendlich nah, aber auch unweigerlich ausgeliefert: Was macht das mit zwei Liebenden? Bewahren sie sich ihre Menschlichkeit oder verlieren sie sich letztlich doch in blinder, panischer Zerstörungswut? Der Opernklassiker reißt an dieser Stelle ab. Stefan Heucke (*1959) aber treibt dieses Gedankenspiel seit seiner Jugend um. Im Auftrag des Theaters Krefeld und Mönchengladbach hat der 2006 hier mit seinem Werk „Das Frauenorchester von Auschwitz“ überregional kontrovers diskutierte Komponist diese Stoffidee jetzt als 70-minütige Kammeroper realisiert: „Aida – der fünfte Akt“.

Einen stimmigeren Uraufführungsort als den Bunker Güdderath kann man sich für das Setting nicht vorstellen. Der Weltkriegsbau im Süden Mönchengladbachs ist seit 2019 Schauplatz des privat gestemmten und in diesem Fall koproduzierenden Festivals Herbstzeitlose. „Die Bunker sind die Pyramiden des 20. Jahrhunderts“, meint Hausherr Bernhard Petz zur Begrüßung im beklemmend erdrückenden Veranstaltungsraum. Knapp 150 Jahre nach der Uraufführung der Verdi-Oper stellt sich die Frage „Pomp oder Kammerspiel?“ einmal nicht: „Die Steine werden uns fressen und verdauen.“ Die Grabeskälte ist omnipräsent.

Eine Produktion wie diese steht und fällt mit ihren Protagonisten. Mit Eva Maria Günschmann und Rafael Bruck bietet das Theater zwei Kräfte aus dem eigenen Ensemble auf, denen Heucke die Marathon-Partien auf den Leib geschneidert hat: zwei Magneten, die sich abstoßen, anziehen, abstoßen, nirgendwo anders mehr hin können. Günschmann durchlebt das mit dramatischen, hohen Ausbrüchen am laufenden Band, mit schneidender Schärfe und immer wieder auch tiefergelegten Momenten, die bis zum Bersten überlaufen mit dem Unaussprechlichen. Der Radamès gelingt Bruck ebenso plastisch, atmosphärisch, vielschichtig, exzellent textverständlich. Heuckes Entscheidung für Mezzosopran und Bariton erweist sich dabei als goldrichtig, der „fünfte Akt“ gewinnt umso mehr eigenen Boden abseits der klassischen „Liebes-Stimmfächer“ des 19. Jahrhunderts.

Doch es gibt da noch einen dritten Protagonisten: die Kammer mit ihren rohen Wänden, die den rasenden Veitstanz im Angesicht des Todes unerbittlich befeuert. Dennis Krauß, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, weiß die Kulisse mit einfachen Mitteln gekonnt zu bespielen. Konzentrierte Schauspielkunst und ein schräges Podest, später zum Gerippe dekonstruiert – mehr braucht es nicht, um dem Geschehen psychologische Statur zu geben. Der Traum von einer eigenen Familie, das aggressive Aufeinanderprallen zweier von klein auf eingeimpfter Staatsdoktrinen, die Utopie einer besseren Welt, eine letzte Liebesvereinigung, die Schuldfrage, das quälend langsame Verenden: Mit jeder Faser schreien Aida und Radamès nach Leben, und mit jeder Faser sind sie dem Tode geweiht. Ralph Köhnen hat dafür ein suggestives deutsches Libretto geschrieben, das nur manchmal etwas übers Ziel hinausschießt („Der Rest ist Grammatik“).

Die Gruft und ihre in sich eingemauerten Seelen werden ohnehin über die Musik erst so richtig nahbar. Ein siebenköpfiges Ensemble – Klarinette, Fagott, Horn, drei Streicher und Klavier – lässt Verdi-Zitate anklingen, sich weiterspinnen und melodiös verfremden, entwickelt unter der Leitung von Giovanni Conti aber auch eine ganz eigene Klangsprache, in der die Grabkammer bleiern pulsiert und Halluzinationen (Amneris’ Schreie) schmerzhaft irrlichtern.

Ganz am Ende scheint plötzlich ein Funken Licht durch die finstere Dachluke. Ein schöner Traum? Auf jeden Fall zu spät.

Florian Maier

„Aida – der fünfte Akt“ (2023) // Kammeroper von Stefan Heucke

Infos und Termine auf der Website des Theaters Krefeld und Mönchengladbach