Nach dem Wiener „Parsifal“ ist jetzt auch sein „Lohengrin“ in Paris ein Volltreffer: Kirill Serebrennikov hat sich quasi aus dem Stand in der Spitzenriege der gefragten Opernregisseure im Westen etabliert. In Paris erzählt er mit sehr genauer Personenführung die bekannte, märchenhafte Geschichte konsequent aus der Sicht von Elsa und im Lichte der Folgen, die euphorisch bejubelte Kriegszüge an Wunden und Tod für die kämpfende Truppe und an Trauer und Verlust-Traumata für die Zurückgebliebenen mit sich bringen. Mit einem Vorspiel-Video, das an den Abschied Elsas von ihrem blutjungen, in den Krieg ziehenden Bruder erinnert. Das erklärt, was sie um den Verstand gebracht hat. Flankiert von zwei Bühnen-Doubles hat sie sich in eine eigene Wirklichkeit voll surrealer Versatzstücke geflüchtet, was von ihrer Umgebung als Wahnsinn wahrgenommen und entsprechend (von Telramund und Ortrud) „behandelt“ wird. Der von Elsa imaginierte Lohengrin selbst kommt dann zwar ganz real als Soldat in Tarnfleckuniform, ähnelt in seinem Habitus aber Elsas Bruder.

Im zweiten Aufzug enthüllt die Bühne auf einen Blick die Logik des Krieges. Links erwarten aufbruchbereite Soldaten in Kampfuniformen ihre Frauen zum Abschied. Die königliche Kriegspropaganda zeigt Wirkung. Die wenigen Stimmen der Vernunft, die nach dem Zweck des Ganzen fragen, werden niedergebrüllt. Das zentrale Segment der Bühne ist ein Lazarett mit Verwundeten, Verstümmelten und Sterbenden, die von ihren besorgten Frauen besucht werden und bei denen sich auch der König blicken lässt, um medienwirksam Orden zu verteilen oder den Heldenmüttern zu kondolieren. Gleich daneben stapeln sich die Leichensäcke, weil die Kühlfächer längst überfüllt sind. Elsas Hochzeit ist ein Albtraum. Im dritten Aufzug lassen sich viele Paare fotografieren, die kurz vor dem bevorstehenden Sterben an der Front noch schnell heiraten. Am Ende kehrt Elsas Bruder (aus dem Vorspiel-Video) nicht zurück, sondern ein mit Wunden übersäter junger Mann entsteigt einem Leichensack. Kein „Führer“ oder wie es hier heißt „Schützer“ von Brabant, höchstens eine leibhaftige Mahnung! So eindringlich heutig, allgemeingültig, mit so viel Empathie für die Opfer und obendrein so konsequent aus der Perspektive Elsas wie bei Serebrennikov hat man das noch nie gesehen.

Dazu die musikalische Pracht-Entfaltung: Piotr Beczała und Johanni van Oostrum als vokales Traumpaar Lohengrin und Elsa. Nina Stemmes Ortrud und Wolfgang Kochs Telramund als Gegenspieler. Tareq Nazmi als König mit Shenyang als Heerrufer. Auch der fabelhafte Chor und das Orchester der Opéra national de Paris unter Alexander Soddy lassen keine Wünsche offen. Jubel für die Protagonisten, der beim Regieteam (Wagner-üblich) mit ein paar wenigen, kräftigen Buhs gewürzt ist.

Roberto Becker

„Lohengrin“ (1850) // Romantische Oper von Richard Wagner