Inzwischen überzeugt so manches mittlere Haus durch souveräne Bewältigung der Covid-19-Bedingungen. Der „Fidelio“ am Staatstheater Braunschweig kann da nicht mithalten. Viel zu sehr zeigt sich Beethovens Befreiungsoper dort durch übervorsichtige Konzessionen an die Seuchenlage bestimmt. Was die Spieldauer auf pausenlose einhundert Minuten, das Orchester auf ein Bläserensemble und den Chor auf elektronische Einspielung reduziert. Die Bühnenfiguren fixieren sich auf die Befolgung der Abstandsregeln. Stückdienliche Interaktion kommt daher nur selten zustande. Hausherrin und Regisseurin Dagmar Schlingmann verliert über der peinlich genauen Einhaltung aller Hygienevorschriften das Werk selbst aus den Augen. Da hilft es auch nicht, wenn statt gestrichener Singspielpassagen eine Schauspielerin Banalitäten über die Gattung Oper und die politischen Gefangenen aller Zeiten und Regimes vorträgt. Indem sich der gesprochene Opferkatalog Litanei-artig dem Gesang unterlegt, werden die nun lediglich als Geräusch wahrnehmbaren Namen der Dissidenten einer höchst fragwürdigen Dramaturgie unterworfen. Alles dies hinterfängt Sabine Mader mit einer grauen Mauer, in deren Nischen – gleich Zellen – die Gefängniswärter (sic!) hausen. Ein aus dem Bühnenhimmel herabhängender Riesenkasten erweist sich als Kerker für Florestans Einzelhaft.

Auch musikalisch leuchtet der Produktion kein Stern. Aus dem Graben tönt nicht das Original, sondern eine nach Beethovens böhmischem Zeitgenossen Wenzel Sedlák und anderen zusammengestellte „Harmoniemusik“ für eben jene Bläserensembles, die an den Fürstenhöfen Potpourris angesagter Opern vortrugen. In Braunschweig wird damit geworben, Beethoven selbst habe Sedláks Arrangement autorisiert. Das trifft zu. Doch hatten weder Beethoven noch Sedlák eine auf der „Harmoniemusik“ basierende Opernaufführung im Sinn. Dass sie sich dazu nicht eignet, lassen die etwas über ein Dutzend Bläser samt Schlagwerk des Braunschweiger Staatsorchesters vernehmen. Unter Stabführung ihres Chefs Srba Dinić ringen sie ebenso kompetent wie vergeblich darum, Sedláks Noten Beethoven’sche Emphase, geschweige Sängerfreundlichkeit abzugewinnen. Schon deshalb bleibt bei den vokalen Leistungen viel Luft nach oben. Einzig der in der Titelpartie erfahrenen Susanne Serfling gelingt ein musikalisch ansprechendes Rollenportrait. Marc Horus gibt einen charaktertenoral eng geführten Florestan. Dem Rocco von Rainer Mesecke fehlen profunde Bassqualitäten. Valentin Anikin verfügt über ansprechendes Material, ohne die Gefährlichkeit Pizarros zu beglaubigen. Ekaterina Kudryavtseva ist eine Marzelline nicht ohne sangliche Schärfen. Nur wenig profiliert Joska Lehtinen seinen Jaquino.

Michael Kaminski

„Fidelio“ (1805/1814) // Ludwig van Beethoven; Bearbeitung basierend auf der von Wenzel Sedlák eingerichteten Fassung für ein „Harmoniemusik“ genanntes Kammerensemble