Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024) Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus
Sein viertes Musikdrama „Tancredi“ zählt zu den weniger bekannten ernsten Opern Rossinis, die außer beim Festival in Pesaro selten aufgeführt werden. Allemal achtbar hat sich Regisseur Jan Philipp Gloger der dankbaren Aufgabe angenommen, das Stück auf die Bregenzer Festspielbühne zu bringen, wo solche Raritäten in kammermusikalischer kleinerer Besetzung traditionell ihren Platz finden.
Eine junge Frau namens Amenaide soll in diesem Stück einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Ihr Vater – hier ein Mafioso im Drogengeschäft – drängt sie dazu, um den Zusammenhalt mit einer verfeindeten Familie zu stärken, die sich vom selben Feind bedroht sieht. Amenaide aber trägt bereits eine andere tiefe Liebe im Herzen: Tancredi ist ihre Geliebte. Geliebte? Ist der Titelheld denn nicht ein Mann? Eigentlich schon, allerdings in Hosenrolle. Warum also sollte die vorgesehene Mezzosopranistin nicht einmal als Frau erscheinen, womit die Liebe, um die es hier zentral geht, eine gleichgeschlechtliche ist, auch wenn die Geschichte mit einem männlichen Tancredi genauso gut funktioniert hätte? Wer will, kann diese Variante als das Bemühen deuten, Oper vielfältiger, diverser oder woker zu machen, oder auch einfach nur einem lesbischen Publikum Identifikationsfiguren zu bieten, die das Musiktheater anderweitig nicht hergibt. Jedenfalls funktioniert die Geschichte ohne Verrenkungen und radikale Eingriffe, die Rossini zuwiderlaufen würden. Ben Baurs Bühne zeigt eine gelungene Kombination alter Architektur und moderner Möblierung, mit antiken Rundbögen eines alten Palazzos und heutig eingerichteten Wohnräumen samt Küche und Fitnessstudio.
Wie Amenaide um ihre Liebe kämpft und sich bemüht, der Geliebten bis zum tragischen, tödlichen Ende ihre Treue zu beweisen, singt und spielt Mélissa Petit mit ihrem schlank geführten, höhen- und koloraturensicheren Sopran ausgezeichnet. Anna Goryachova in der Titelrolle steht ihr mit ihrem fülligen, warmen Mezzo in nichts nach. Unweigerlich leidet man mit, wie sie über so lange Strecken unnötig leidet, in der festen Überzeugung, die Freundin würde sie hintergehen.
Nicht minder exquisit sind die männlichen Hauptpartien besetzt: Antonino Siragusa gefällt mit seinem hellen, in allen Lagen agilen, geschmeidigen Tenor als lange Zeit gnadenloser Vater. Andreas Wolf gibt mit seinem Bassbariton überzeugend einen höchst rüden Freier Orbazzano. Als Amenaides Vertraute Isaura ist in kleinerer Rolle Mezzosopranistin Laura Polverelli eine der schönsten Arien in der Oper mit einem bezaubernden Klarinettensolo vorbehalten. Auch sie verfügt über eine große Stimme, allerdings auch über ein orgelndes Vibrato.
Leider wackelt es häufig zwischen Bühne und Graben, vor allem bei Übergängen und auf Strecken endlos langer Koloraturen. Selten einmal sind der Prager Philharmonische Chor und die Sänger mit den Wiener Symphonikern auf den Schlag zusammen, was auf Dauer von drei Stunden ermüdet und zeigt, dass es der so leichtfüßig daherkommende Rossini doch ziemlich in sich hat. Zudem feilt Dirigentin Yi-Chen Lin zu wenig an der Dynamik, an farblichen Schattierungen und am Ausdruck, sodass die Musik sehr gleichförmig erscheint. Die schönsten Momente in der Musik bescheren rundum die erstklassigen Bläsersolisten, die der Reihe nach ihren Auftritt haben.
Kirsten Liese
„Tancredi“ (1813) // Melodramma eroico in der Ferrara-Fassung