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Rezensionen 2024/05

Kamera aus!

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2024)
„Hoffmanns Erzählungen“ scheitern am Cinemascope-Format

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2024)
„Hoffmanns Erzählungen“ scheitern am Cinemascope-Format

Wenn Mariame Clément mit Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ eines konsequent gelingt, dann, der „Opéra fantastique“ gehörig die Fantasie auszutreiben. Ihre Inszenierung bei den Salzburger Festspielen soll die Grenzen zwischen Kunst und Künstler verschwimmen lassen: Ihr Hoffmann ist ein sensibler, überspannter Regisseur, der seine Erzählungen an diversen Filmsets mit der Kamera einfängt. Speziell im Antonia-Akt wechselt die Perspektive zwischen „Action!“ und Backstage gefühlt sekündlich – man fragt sich des Öfteren, ob Clément eigentlich selbst noch im Blick hat, was im emotionalen Straucheln der Titelfigur wirklich „echt“ und was Drehbuch ist.

Das gibt der Produktion einen extrem verkünstelten, unnötig verkopften, pseudo-intellektuellen Touch. Und nimmt der Geschichte einen beträchtlichen Teil ihres Zaubers, nicht zuletzt auch durch aschgraue Bühnentristesse (Ausstattung: Julia Hansen). Schade, hält doch gerade Offenbachs posthum uraufgeführter Klassiker eigentlich ein wahres Füllhorn an Inspiration bereit. Übermäßiges Gewusel (Stichwort Filmset) und fade gezeichnete Nebenfiguren tun diesmal aber das Übrige, um die wenigen originellen Momente (etwa ein tänzelnd-konfuser Albtraum in Rot im Giulietta-Akt) schnell vergessen zu machen.

Leider erweist sich auch der Orchestergraben als Problem. Marc Minkowskis Zugriff trägt über weite Strecken zur Nicht-Stimmung bei, die Wiener Philharmoniker fahren unter seiner Leitung lange (viel zu lange!) auf Sparflamme. Das Dirigat klingt dadurch in den ersten Akten arg uninspiriert, zu wenig verspielt und magisch – es fehlt das Ohr für die französische Seele der Partitur. Mit der aufkommenden Dramatik der späteren Akte scheint sich Minkowski wohler zu fühlen, wenn er diese stellenweise auch zu dick aufträgt und dadurch rein lautstärketechnisch insbesondere dem Protagonisten der Titelrolle im Wege steht.

Das macht Benjamin Bernheim zu schaffen. Sein Hoffmann gerät im Großen Festspielhaus zum Drahtseilakt: Feine Lyrismen und der schwärmerische Grundton der Partie sorgen summa summarum zwar für feindosierten Hörgenuss – was aber fehlt sind Ecken und Kanten, die beißende Verbitterung und desillusionierte Härte eines mehrfach traumatisierten und letztlich abgestürzten Künstlers.

Gut, wenn man da eine Muse wie Kate Lindsey an seiner Seite hat. Sie ruft eine unaufgeregte, aber solide Leistung inklusive charmanter Ironie ab und weiß ihre Momente zum Glänzen zu nutzen, etwa in der traumwandlerischen Apotheose der Kaye-Keck-Fassung, wenn ihre Stimme mit einem famosen Solo gleichsam schwerelos über der stilsicheren Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Alan Woodbridge) schwebt. Die drei Geliebten werden von Kathryn Lewek verkörpert. Unterm Strich kann sie drei Erfolge verbuchen, wenn auch mit deutlicher Tendenz zur Olympia, deren herrliche Koloraturen wie mühelos fließen. Ebenfalls gestaltwandlerisch präsentieren darf sich Christian Van Horn, dessen Bassbariton jedoch zu blass bleibt – von seinen Widersachern macht Dr. Miracle noch am meisten Eindruck.

Bleibt die ewige Fassungsfrage. Minkowski entscheidet sich für die orchesterbegleitenden Rezitative und hält mit selten gespielten Arien für Nicklausse und Dapertutto gleich noch ein paar musikalische Raritäten bereit. Und doch täuscht auch das nicht über einen Festspielabend weit unter den Erwartungen hinweg.

Florian Maier

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881 posthum) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach auf Basis der kritischen Edition von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck

Infos und Termine auf der Website der Salzburger Festspiele

kostenfreier Stream ab 16. August 2024 auf ARTE Concert

Vergessenes Juwel

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2024)
Verdis Südamerika-Oper „Alzira“

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2024)
Verdis Südamerika-Oper „Alzira“

Im Rahmen ihrer beeindruckenden Serie der frühen Verdi-Opern zeigen die Opernfestspiele Heidenheim in diesem Sommer die selten gespielte „Alzira“, eines der Werke aus den vom Komponisten selbst so bezeichneten „Galeerenjahren“. Die Oper wurde 1845 uraufgeführt, das Sujet nach Voltaire war zu dieser Zeit bereits über 100 Jahre alt.  

Regisseur Andreas Baesler hat auch die Bühne gestaltet und lässt das koloniale Spannungsfeld, das durch die Spanier in Peru entstand, mit relativ wenigen Mitteln, aber sehr intensiv in Einklang mit Verdis kraftvoller Musik aufleben. Damit wirft das Stück auch seine Schatten auf die Zeit der spanischen Kolonisation in den übrigen Andenstaaten Südamerikas und in Mexiko. Man fühlt sich bei der Intensität des Geschehens manchmal an die Geschichten um Pizarro und seine blutige Invasion im damaligen Inkareich erinnert.

Das Bühnenbild enthält auch Assoziationen an das peruanische Ambiente. So wird Machu Picchu angedeutet und immer wieder sieht man Maisfelder. Tanja Hofmanns Kostüme verbinden geschickt moderne und historische Elemente und setzen den stählernen Brustpanzern der Spanier die bunten Inka-Gewänder mit den Knotenschnüren entgegen. Die Handlung ist durchaus dramatisch. Zamoros Ringen um Alziras Liebe mit dem sie ebenso stark begehrenden, aber zunächst keineswegs zimperlichen Gouverneur Gusmano beherrscht das Stück und lässt den interessanten politischen Hintergrund verschwimmen. Dennoch hat Verdi dazu eine zeitweise hochdramatische und das Seelenleben der Protagonisten intensiv ausleuchtende Musik geschrieben. Marcus Bosch interpretiert sie mit seiner Cappella Aquileia eindrucksvoll, das Prädikat „Vergessenes Juwel“ ist durchaus angemessen.

In beeindruckenden Tableaus glänzt wieder einmal der bewährte Tschechische Philharmonische Chor Brünn unter Leitung von Petr Fiala. Marian Pop überzeugt als Gusmano mit einem klangvollen, farbigen Bariton. Er spielt die Rolle ausdrucksstark zunächst hart und rücksichtslos, im Sterben gibt er dann aber auch den großmütigen und gnädigen Machthaber. Sung Kyu Park stellt Inkahäuptling Zamoro mit einem gegenüber dem Vorjahr stark verbesserten Spinto-Tenor, kraftvollen Spitzentönen und authentischem Spiel auf die Bühne. Ania Jeruc ist eine sehr gute lyrisch-dramatische Alzira mit leuchtendem Sopran und hoher Emotionalität. Zurückhaltend gibt Julia Rutigliano mit warmem Mezzo ihre Vertraute Zuma. Auch alle anderen Rollen sind bestens besetzt. Eine Rarität, die man öfter erleben möchte.

Dr. Klaus Billand

„Alzira“ (1845) // Tragedia lirica von Giuseppe Verdi

Hosenrolle neu gedacht

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024)
Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024)
Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus

Sein viertes Musikdrama „Tancredi“ zählt zu den weniger bekannten ernsten Opern Rossinis, die außer beim Festival in Pesaro selten aufgeführt werden. Allemal achtbar hat sich Regisseur Jan Philipp Gloger der dankbaren Aufgabe angenommen, das Stück auf die Bregenzer Festspielbühne zu bringen, wo solche Raritäten in kammermusikalischer kleinerer Besetzung traditionell ihren Platz finden.

Eine junge Frau namens Amenaide soll in diesem Stück einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Ihr Vater – hier ein Mafioso im Drogengeschäft – drängt sie dazu, um den Zusammenhalt mit einer verfeindeten Familie zu stärken, die sich vom selben Feind bedroht sieht. Amenaide aber trägt bereits eine andere tiefe Liebe im Herzen: Tancredi ist ihre Geliebte. Geliebte? Ist der Titelheld denn nicht ein Mann? Eigentlich schon, allerdings in Hosenrolle. Warum also sollte die vorgesehene Mezzosopranistin nicht einmal als Frau erscheinen, womit die Liebe, um die es hier zentral geht, eine gleichgeschlechtliche ist, auch wenn die Geschichte mit einem männlichen Tancredi genauso gut funktioniert hätte? Wer will, kann diese Variante als das Bemühen deuten, Oper vielfältiger, diverser oder woker zu machen, oder auch einfach nur einem lesbischen Publikum Identifikationsfiguren zu bieten, die das Musiktheater anderweitig nicht hergibt. Jedenfalls funktioniert die Geschichte ohne Verrenkungen und radikale Eingriffe, die Rossini zuwiderlaufen würden. Ben Baurs Bühne zeigt eine gelungene Kombination alter Architektur und moderner Möblierung, mit antiken Rundbögen eines alten Palazzos und heutig eingerichteten Wohnräumen samt Küche und Fitnessstudio.

Wie Amenaide um ihre Liebe kämpft und sich bemüht, der Geliebten bis zum tragischen, tödlichen Ende ihre Treue zu beweisen, singt und spielt Mélissa Petit mit ihrem schlank geführten, höhen- und koloraturensicheren Sopran ausgezeichnet. Anna Goryachova in der Titelrolle steht ihr mit ihrem fülligen, warmen Mezzo in nichts nach. Unweigerlich leidet man mit, wie sie über so lange Strecken unnötig leidet, in der festen Überzeugung, die Freundin würde sie hintergehen.

Nicht minder exquisit sind die männlichen Hauptpartien besetzt: Antonino Siragusa gefällt mit seinem hellen, in allen Lagen agilen, geschmeidigen Tenor als lange Zeit gnadenloser Vater. Andreas Wolf gibt mit seinem Bassbariton überzeugend einen höchst rüden Freier Orbazzano. Als Amenaides Vertraute Isaura ist in kleinerer Rolle Mezzosopranistin Laura Polverelli eine der schönsten Arien in der Oper mit einem bezaubernden Klarinettensolo vorbehalten. Auch sie verfügt über eine große Stimme, allerdings auch über ein orgelndes Vibrato.

Leider wackelt es häufig zwischen Bühne und Graben, vor allem bei Übergängen und auf Strecken endlos langer Koloraturen. Selten einmal sind der Prager Philharmonische Chor und die Sänger mit den Wiener Symphonikern auf den Schlag zusammen, was auf Dauer von drei Stunden ermüdet und zeigt, dass es der so leichtfüßig daherkommende Rossini doch ziemlich in sich hat. Zudem feilt Dirigentin Yi-Chen Lin zu wenig an der Dynamik, an farblichen Schattierungen und am Ausdruck, sodass die Musik sehr gleichförmig erscheint. Die schönsten Momente in der Musik bescheren rundum die erstklassigen Bläsersolisten, die der Reihe nach ihren Auftritt haben.

Kirsten Liese

„Tancredi“ (1813) // Melodramma eroico in der Ferrara-Fassung

Haus der Blinden

München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024)
Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel

München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024)
Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel

„Ich fühle mich krank hier“, gesteht Mélisande zögernd ein. Man kann es ihr in der Münchner Neuproduktion von Claude Debussys einziger Oper in jeder Sekunde nachempfinden. Von den ersten Takten an zieht sich im Prinzregententheater die Dunkelheit zusammen, musikalisch, bühnenästhetisch, emotional. Regisseurin Jetske Mijnssen sperrt die Natur konsequent aus und verortet die Geschichte ausschließlich in den Innenräumen von Schloss Allemonde – kein Wald, kein Park, keine Felsengrotte wie im Original. Ben Baurs Ausstattung ist entsprechend reduziert: dunkler Parkettboden, eine Chaiselongue, zwei Kerzenleuchter, Bett, Tisch, Stühle, steif-konventionelle Kleidung – und nach hinten zu pechschwarzes Nichts, umrahmt von kaltem Neonlicht. Den verrätselten Symbolismus dieser hermetisch abgeriegelten Welt, der schon Maurice Maeterlincks Dramenvorlage berühmt machte, übersetzt Mijnssen konsequent in die großbürgerliche Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende – 1902 wurde Debussys Oper in Paris uraufgeführt.

Der Mief eines stumm an sich selbst erstickenden Familienclans tritt in dieser Lesart ungeschönt und mit fein gearbeiteten Gesten hervor, ohne auf überzogen soapige Effekte zu setzen. Das würde auch gar nicht passen zu „Pelléas et Mélisande“, diesem leisen, traumverlorenen „Drame lyrique“. Inmitten der subtilen Märchenanklänge im Libretto steckt im Kern die Tragödie einer aus vier Generationen bestehenden Familie – und genau auf die kommt es Mijnssen auch an, mit all dem nur zwischen den Zeilen zu Lesenden, das am Esstisch unausgesprochen bleibt.

Alles andere als erstickender Mief wird in dieser zweiten Premiere der Münchner Opernfestspiele von einem überragenden Ensemble aufgeboten. An erster Stelle zu nennen ist Christian Gerhaher, auf den die ganze Produktion wie zugeschnitten zu sein scheint: Sein Golaud ist eine Charakterstudie sondergleichen, ein getriebener, überspannter, abgründiger Choleriker, der nicht weiß wohin mit seinen jähzornigen Ausbrüchen, die sich in intensivst aufbrodelnder und doch nie eindimensionaler Gesangskunst Bahn brechen. Sabine Devieilhe zeichnet Mélisande, die ihm an den eigenen Bruder entgleitende Frau, nicht nur mit kristalliner Anmut, sondern kratzt immer wieder auch an den brennenden Narben der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihrer Partie. Pelléas, der Dritte im Bunde, kann sowohl mit einem Tenor als auch einem Bariton besetzt werden. Mit Ben Bliss hat sich die Bayerische Staatsoper für Ersteres entschieden, was dank dessen leichtfüßiger Jugendlichkeit und seinem schlanken, betörenden Timbre nicht zuletzt der Abgrenzung der beiden Brüder zugutekommt.

Der erhabene Bass von Franz-Josef Selig als greises Familienoberhaupt Arkel und die bei aller Etikette empathische Geneviève von Sophie Koch tun das ihre zu einem absolut runden Gesamteindruck. Unbedingt zu erwähnen ist auch Felix Hofbauer vom Tölzer Knabenchor, der Golauds Sohn aus erster Ehe – ein verschüchtertes, misshandeltes, stumm leidendes Kind – in seltener Knabensopran-Qualität und mit exzellentem Schauspiel darstellt.

Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht Hannu Lintu. Er verlässt sich nicht allein auf das träumerisch-wogende Schillern in Debussys Partitur, sondern steuert auch auf gezielte musikalische Eruptionen hin, was dem dramaturgischen Spannungsaufbau im Wechselspiel sehr guttut.

Das Element Wasser zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch die Inszenierung, die „Quelle der Blinden“ mündet im letzten Akt in einem die ganze Bühne flutenden Wassersteg – die Brücke ins Jenseits? Dass Jetske Mijnssen nicht krampfhaft versucht, auf all die Fragezeichen von Maeterlinck und Debussy gekünstelt Antworten zu konstruieren, macht diesen Abend zu einem Höhepunkt des laufenden Festspielsommers.

Florian Maier

„Pelléas et Mélisande“ (1902) // Drame lyrique von Claude Debussy

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

Wagner’sche Lesarten à la Balkan

Sofia / Sofia Opera (Juni 2024)
„Lohengrin“ mit eindrucksvoller Sängerriege

Sofia / Sofia Opera (Juni 2024)
„Lohengrin“ mit eindrucksvoller Sängerriege

Sofias Wagner-Festival geht in diesem Jahr in die zweite Runde und Generaldirektor Plamen Kartaloff setzt auf eine Neuinszenierung von Wagners „Lohengrin“ – an zwei ausverkauften Abenden mit zwei Besetzungen jeweils ein großer Erfolg. Das Bühnenbild-Team, bestehend aus Hans Kudlich, Nela Stoyanova und Christian Stoyanov – und besonders die fantastisch-illuminierte „Gerichtseiche“ von Gudrun Geiblinger – sind nicht unerheblich „schuld“ an diesem Erfolg.

Regisseur Kartaloff legt einmal mehr besonderen Wert auf seine Vision Wagner’scher Lesart, die ein authentisches Erzählen der Geschichte in den Mittelpunkt stellt. Für das wenig Wagner-erfahrene, aber interessierte bulgarische Publikum ein wunderbarer Einstieg in sein Werk. Mit großem dramaturgischem Einfallsreichtum kommt die Geschichte des Schwanenritters als zeitloses, zauberhaft-mystisches Märchen daher – nicht ohne moderne technische Mittel der Theaterkunst, auf die Kartaloff ebenfalls zurückgreift.

Sein „Lohengrin“ beginnt während der Ouvertüre mit dem Schlussbild des „Parsifal“ – und der Artusrunde, aus der Parsifal langsam heraustritt: Er hat den Ruf Elsas gehört! Ab diesem Zeitpunkt ist das gesamte Geschehen der großen Eiche auf der Bühne zugeordnet, ihre Farben und die Einbindung in die Handlung bilden den Subtext der Erzählung. Der Chor mit über 80 Sängern ist gewaltig – bisweilen etwas zu sehr und auch etwas statisch im Hinblick auf das sonst bewegte Bühnengeschehen. Mario Dices Kostüme sind vielfältig, allerdings fragt man sich manchmal, ob sie wirklich thematisch passen, wie etwa beim in Kutten gewandeten Herrenchor.

Erwähnenswert ist eine durch die Bank spannende Solistenriege: So gibt Bariton Thomas Weinhappel – 2017 als erster Österreicher für seine künstlerische Leistung als Hamlet mit dem begehrten „Thalia Award“ ausgezeichnet – sein Haus- und Rollendebüt als Telramund. Stimmlich klangvoll und außergewöhnlich ausdrucksstark im Spiel, ist er sicher die Überraschung des Abends. Für ihn und seine adäquate bulgarische Partnerin Gabriela Georgieva, einer Ortrud auf fast Weltklasse-Niveau, gibt es mehrfachen Szenenapplaus im zweiten Akt.  Das „nächtliche Zwiegespräch“ wird dadurch zu einem Höhenpunkt des Abends.

Radostina Nikolaeva singt die Elsa mit ihrem klangschönen und den dramatischen Passagen voll gerecht werdenden Sopran. Ihr Spiel wirkt etwas verhalten, aber dem Rollenprofil durchaus angepasst. Bjarni Thor Kristinsson ist ein souveräner König Heinrich mit ausdrucksstarkem Bass, wenn auch nicht immer ganz intonationsrein. Simon O’Neill gibt einen Lohengrin von internationalem Format, mit kraftvollem und technisch gut geführtem hellem Tenor. Ab und an würde man sich eine etwas differenziertere Nuancierung wünschen. Unbedingt erwähnt werden sollte auch der von Atanas Mladenov ausgezeichnet gesungene Heerrufer.

Evan-Alexis Christ leitet den „Lohengrin“ mit engagiertem, in entsprechenden Momenten auch expressivem Dirigierstil und ständigem gestischen Feedback, was von den Musikern im Graben und auf der Bühne sichtbar goutiert wird. Dass das Orchester der Oper Sofia in mittlerweile 14 Jahren Arbeit Wagners Werk verinnerlicht hat, ist deutlich zu hören. Insgesamt also eine sehr interessante Aufführung, die szenisch und musikalisch aufhorchen lässt.

Dr. Klaus Billand

„Lohengrin“ (1850) // Romantische Oper von Richard Wagner

Schachmatt in vier (Auf-)Zügen

Halfing / Immling Festival (Juni 2024)
Verdis „Aida“ stellt das Seelendrama ins Zentrum

Halfing / Immling Festival (Juni 2024)
Verdis „Aida“ stellt das Seelendrama ins Zentrum

Giuseppe Verdis „Aida“ taugt auch jenseits von Freilichtspektakeln zum hochdramatischen Kammerspiel. Es scheint schlüssig, damit in eine Festspielsaison zu starten, die sich dem Motto „mitmenschlich“ stellt. In der Regie von Intendant Ludwig Baumann triumphiert ein überzeugendes Ensemble, kreativ ausgestattet (Nikolaus Hipp und Camilla Wittig) und atmosphärisch-fantasievoll ausgeleuchtet (Arndt Sellentin und Maximilian Ulrich). Das hochmotivierte Festivalorchester Immling marschiert im Takt, den Cornelia von Kerssenbrock auch dem hauseigenen Chor souverän vorgibt. Und mit der mexikanischen Yunuet Laguna erobert eine stimmlich sensationelle Aida das Publikum, das elektrisiert ist und am Ende alle Mitwirkenden mit euphorischem Beifall würdigt. 

Viel zu häufig müsse man gegenwärtig, so Baumann in seiner Begrüßung, Defizite in puncto Menschlichkeit auch im analogen Umgang wahrnehmen. Das Theater kann dies trefflich spiegeln – im Spiel auf der Bühne und im Schachspiel erst recht. Schwarz-weiß und doch im opulenten Farbrausch von Verdis kompositorischer Gestaltungskunst begegnen sich auf dem kriegerischen Spielfeld im Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien die einschlägig bekannten Figuren. Angetrieben allesamt von ihren unterschiedlichen Stärkeverhältnissen, sehr persönlichen Zielen und der Gunst der Götter Ptah, Isis und Co. sowie deren hohepriesterlichen Stellvertretern auf Erden: Schach steht explizit für strategisches Denken, für Ambition, Meister-, Herr- und Leidenschaft, impliziert jede Menge Selbstdisziplin, Rivalität, Siegeswillen und „tödliche“ Niederlagen. Alles auch in der „Aida“ zu finden – Schachmatt in vier Aufzügen!

In aller Konsequenz beflügelt das rigide Machtspiel das Regiekonzept, das bewusst die seelischen Erschütterungen ins Zentrum stellt, die sich aus der toxischen Konstellation „Radamès zwischen Aida und Amneris“ ergeben. Natürlich geizt Baumann weder mit visuellen Bühnen- noch mit körperlichen Schleuder-Effekten, wie sie etwa die akrobatisch versierten Tänzerinnen und Tänzern der Kraiburger Narrengilde beisteuern.

„Kein Ding auf Erden erzeugt einen solchen Druck auf die menschliche Seele als das Nichts.“ Dieser Satz aus Stefan Zweigs „Schachnovelle“ schwebt über der Produktion und lässt im Zusammenklang mit dem bittersüßen Preludio schon früh ahnen, wie schwer dieses Nichts wiegt. Erbarmungslos, fern jeglicher Mitmenschlichkeit führen die auf Erden nicht lösbaren Loyalitätskonflikte zwischen Liebe und Vaterlandstreue, Feldherrenruhm und persönlicher Ehre, vereitelten Ausflüchten, Rache und Demütigung bei lebendigem Leib ins Grab.

In der Partie des Radamès debütiert der 1992 im Libanon geborene Joseph Dhadha. Er betört mit tenoraler Noblesse, stark in der Mittellage, wohingegen die Höhe in der fraglos kommenden Weltkarriere zu sichern bleibt. Wo Intrige, Rivalität, (Selbst)-Verliebtheit und Kränkung so plakativ ausgestellt werden wie von der zu manieriert, exaltiert, fast im Stil von Stummfilmdiven agierenden Amneris von Darina Gapitch, geht auch sängerischer Glanz bald unter. Dafür hat Immling mit Bariton Theo Magongoma und mit Yuneut Laguna, der in allen emotionalen Ausnahmesituationen ein funkelnder, substanzvoller, natürlicher, berührender Sopran zur Verfügung steht und die hier ein fulminantes Europa-Debüt feiert, ein in allen Facetten ideal besetztes Vater-Tochter-Gespann Amonasro-Aida engagiert, das die „Nilszene“ intensiv und zum Höhepunkt ausgestaltet. Mehr als solide „schlagen“ sich auch die Bässe Zaza Gagua (König) und Giorgi Chelidze (Ramfis). Sie führen ins himmlische Licht der Ewigkeit, in der sich anders als im Diesseits die im Frieden vereinten Liebenden als Gewinner behaupten.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Immling Festivals

Bipolare Nationaloper

Košice / Národné divadlo Košice (Juni 2024)
In Smetanas „Dalibor“ siegt einmal mehr die Musik

Košice / Národné divadlo Košice (Juni 2024)
In Smetanas „Dalibor“ siegt einmal mehr die Musik

Die schwierige Aufführungsgeschichte von „Dalibor“ begann bald nach der Uraufführung 1868 im Prager Interimstheater (Neustädtisches Theater). Schon Gustav Mahler kürzte Bedřich Smetanas ersten Anlauf zu einer böhmischen Nationaloper in Wien um 50 Minuten. Manipulative Eingriffe waren auch später die Regel. Aus verschiedenen Gründen: Das in deutscher Sprache verfasste Libretto von Josef Wenzig vertonte Smetana in der tschechischen Übersetzung Ervín Špindlers.

„O Janko, könnt’ ich ans Herz dich pressen, der Kerker wär’ mir ein Wonnesaal!“ schwelgt Dalibor in Wenzigs Originaltext, welcher aufgrund Smetanas Vertonung der Übersetzung nicht kompatibel mit der Musik ist. Eigentlich kann es also nur zwei konsequente „Dalibor“-Interpretationen geben: Entweder der impulsive Raubritter ist schwul – oder der ferne und schon zu Beginn der Oper tote Freund Zdeněk ist eine Allegorie der Freiheit und der Musik. Im zweiten Fall hätten diejenigen recht, welche das tschechische Musikmonument „Dalibor“ als epigonale Antwort auf Beethovens „Fidelio“ (Frau befreit Mann aus Kerker) und Wagners „Lohengrin“ (Gericht mit Held aus „Glanz und Wonne“) betrachten. Die Frage, ob und wie sich Dalibor und Zdeněk/Janko umarmen, Seite an Seite kämpfen oder „nur“ miteinander musizieren, ist demzufolge essentiell.

Es ist deshalb auch verständlich, warum man am Nationaltheater Košice unter der seit September 2023 amtierenden slowakischen Kulturministerin Martina Šimkovičová eine konzertante Produktion des umstrittenen Opus bevorzugt. Diese dem „Jahr der Musik“ 2024 des befreundeten Nachbarlandes Tschechien und dem 200. Geburtstag Smetanas gewidmete Hommage gerät zur Sternstunde.

Nach der souveränen Vorbereitung des Chors und des Nationaltheater-Orchesters durch Peter Valentovič beweist Tomáš Hanus, warum er an großen Häusern als Fachmann für tschechisches Repertoire gehandelt wird. Er gestaltet mit einer dynamischen und nur ganz selten die volle Fortissimo-Dröhnung suchenden Feinarbeit. Dazu hat er eine Besetzung mit vokaler Pracht, Hochspannung und Sensibilität. Peter Berger – mit Hanus von einer „Dalibor“-Serie aus Brünn und Litomyšl kurz in die Ostslowakei gekommen – singt Dalibors Auftrittsromanze, die Vision im ersten und den Arien-Run im zweiten Kerkerbild ohne Striche und auf edelster Linie. Neben ihm brilliert Eliška Weissová als den Titelhelden erst hassende und dann ekstatisch liebende Milada: eine Hochdramatische mit Mezzo-Fundament, unerschöpflichen Reserven und vollkommen angstfrei in den oft unterschätzten tiefen Passagen. Berger und Weissová spielen ein echtes Liebespaar und liegen sich zum Ende ihrer Duette unter dem Jubel des Publikums in den Armen.

Als König Vladislav zeigt Marián Lukáč vergleichsweise milde Autorität und gibt in der Arie des dritten Aktes einen sehr subtilen Einblick in die Belastungen durch das Herrscherdasein. Michaela Várady wertet Dalibors Helferin Jitka mit klar gefasstem Fokus und schön blühender Empathie auf. Juraj Hollý empfiehlt sich in der kurzen Partie des Vitec mit nachdrücklichem Potenzial als zukünftiger Dalibor. Jozef Benci (Kerkermeister Beneš) und Michal Onufer (Budivoj) bestätigen den hohen Rang des Ensembles in Košice.

Roland H. Dippel

„Dalibor“ (1868) // Oper von Bedřich Smetana